Wieder ganz oben

Nach einem verkorksten Jahr, das zum Bruch mit Giant-Alpecin führte, hat Marcel Kittel bei Etixx – Quick-Step wieder zu alter Form gefunden. Während er sich auf das große Tour-Rendezvous im Juli vorbereitete, sprach der Thüringer über seine Sprint-Philosophie und warum er allen Grund zur Zuversicht hat.

 

Böige Regenschauer sind den ganzen Nachmittag über die südlichen Niederlande hinweggefegt, Straßen stehen unter Wasser und der Verkehr ist fast zum Erliegen gekommen. Die Szene ähnelt der ersten Straßenetappe der Tour de France 2015, die vom sonnigen Utrecht an die Nordseeküste führte, wo ein Sturm aufzog. An jenem Tag kam der Wolkenbruch, als sich das Feld von Rotterdam in Richtung Polder bewegte; er durchnässte die Fahrer und führte zu einem der entscheidenden Momente des Rennens, nachdem sich das Feld unter widrigsten Wetterbedingungen geteilt hatte. Nur zwei Dutzend Fahrer schafften es in die Spitzengruppe, wo André Greipel sich als cleverer und schneller als Mark Cavendish erwies und vor der spektakulären Kulisse des Neeltje-Jans-Damms die Etappe gewann. Chris Froome und Alberto Contador waren die beiden einzigen der vier großen Favoriten, die ihnen auf den Fersen blieben. Die Zeit, die der Brite an dem Tag herausfuhr, sollte schließlich der Differenz entsprechen, mit der er die Tour vor Nairo Quintana gewann. Aber am bemerkenswertesten war wohl die Abwesenheit des Fahrers, der die erste Straßen-etappe der beiden vorausgegangenen Frankreich-Rundfahrten gewonnen hatte, aber nicht einmal Teil des Pelotons gewesen war, das sich am Morgen in Utrecht in Bewegung gesetzt hatte. In der ersten Hälfte der Saison von einem Virus zurückgeworfen, war Marcel Kittel zwei Wochen vor der Tour 2015 nach Holland gereist, um die Ster ZLM Tour zu bestreiten und seinem Giant-Alpecin-Team zu beweisen, dass er für das Gipfeltreffen der Sprinter im Juli gerüstet war. Aber als Greipel das Rennen dominierte, zwei Etappen und die Gesamtwertung gewann, hatte Kittel weiter zu kämpfen und konnte seine Manager nicht überzeugen, dass er einen Platz im Tour-Team verdient hatte.

Der Rückschlag setzte eine Ereigniskette in Gang, die dazu führte, dass Kittel Giant verließ und zu Beginn dieser Saison Mark Cavendish bei Etixx – Quick-Step ersetzte. Seitdem hat der 28 Jahre alte Erfurter regelmäßig gezeigt, dass er wieder in Bestform ist. Nach einer einstündigen Fahrt durch die Gemeinde Goes, den Ausgangspunkt der Ster ZLM, um seine Beine nach einer 300-Kilometer-Autofahrt vom Wohnort seiner Freundin in Deutschland zu lockern, ist es daher ein sehr entspannter und zufriedener Marcel Kittel, der in die Lobby des Hotels Terminus rauscht, um uns zu erklären, wie er wieder in die Spur gekommen ist und was ihn zum schnellsten Mann des Radsports macht. „Es hat sich viel geändert, seit ich letztes Jahr zu diesem Rennen kam“, sagt er sofort. „Damals war meine Form lausig. Es gab alle möglichen Zweifel, die mich umgaben, Fragezeichen, die über mir hingen. In diesem Jahr ist es ganz anders. Aber es ist, wie es ist, und ich bin froh, dass das Jahr vorbei ist und die Situation jetzt eine andere und definitiv viel besser ist. Es ist schön, dass ich mich wieder auf die Tour de France und die Sprints konzentrierten kann.“ Obwohl es nur noch gut zwei Wochen bis zum Start der Tour am Mont Saint Michel sind, will Kittel nach den Problemen im letzten Jahr nicht zu weit vorausschauen. „Es beschäftigt mich im Moment nicht allzu sehr, um ehrlich zu sein. Ich weiß, dass es nicht mehr lange hin ist, und ich denke daran, aber nicht täglich und schon gar nicht jede Stunde oder Sekunde“, betont er. „Alles kommt zu seiner Zeit und ich will mir vorher nicht so viele Gedanken darüber machen. Natürlich habe ich meine Ziele für die Tour. Ich habe mir die 1. Etappe auf jeden Fall angeschaut und an dem Tag will ich gut sein. Aber wie in jedem Jahr zuvor gehe ich in die Tour und gehe sie Tag für Tag an. Natürlich ist die 1. Etappe sehr wichtig, aber es ist nicht das Ende der Tour.“

Der stets perfekt frisierte Thüringer gibt jedoch zu, dass er mit dem Wechsel zu Patrick Lefeveres Team Etixx–Quick-Step zu einem besseren Sprinter wurde. „Ich glaube, ich habe in diesem Jahr einen großen Schritt nach vorn gemacht, sowohl als Fahrer als auch auf persönlicher Ebene, indem ich mich in eine neue Situation bei einem anderen Team begeben habe. Ich musste mit dieser Veränderung umgehen und glaube, das ist mir gut gelungen, ebenso wie dem Team. Es hat mir auch einen Extraschub als Fahrer gegeben“, sagt Kittel und fügt hinzu, er sei sehr zufrieden mit seinen zehn Siegen bis Mitte Mai (die beste Ausbeute seiner Karriere) und seinem vorzeitigen erschöpfungsbedingten Ausstieg aus dem Giro d’Italia.
Was seinen Sprintrivalen Sorgen machen dürfte, ist, dass er noch einen Verbesserungsspielraum sieht: „Ich weiß nicht, ob ich meine Geschwindigkeit steigern kann, weil das etwas ist, das dir gegeben ist. Um das beizubehalten, musst du dich einfach darauf konzentrieren, in guter Form zu bleiben. Aber ich habe in diesem Jahr hart an meiner Kondition gearbeitet, um alles so professionell wie möglich zu machen, und das ist natürlich eine Reaktion auf letztes Jahr, wo ich mit dem Virus zu kämpfen hatte. Ich glaube, diese Arbeit hat mich ein bisschen stärker gemacht. Es ist vielleicht kein großer Schritt nach vorn, aber solche kleinen Schritte in Zukunft zu machen, ist auf jeden Fall möglich.“ Während Berieselungsmusik aus den Lautsprechern dröhnt und einige Etixx-Mitarbeiter sich vor dem Großbildschirm niederlassen, um die frühabendliche EM-Partie zwischen Österreich und Ungarn zu verfolgen, umreißt Kittel die Qualitäten, die ihn zum schnellsten Sprinter der Welt machen. „Körperlich gibt es nicht viel zu erklären. Es ist eine angeborene Fähigkeit. Sie ist einfach da. Ich bin natürlich groß, was mir den Vorteil gibt, dass ich die Power für einen wirklich guten Sprint habe, aber gleichzeitig bedeutet das, dass ich einen Nachteil in den Anstiegen habe. In den Bergen muss ich wirklich kämpfen. Aber man kann auf ganz verschiedene Arten ein guter Sprinter sein“, fährt er fort. „Du kannst die Grundlagen, diese pure Geschwindigkeit haben, auf die jeder Sprinter angewiesen ist, aber natürlich brauchst du auch mentale Stärke. Und du musst die Fähigkeit haben, ruhig zu bleiben. Das ist wichtig für einen Sprinter. Du musst wahrnehmen, was um dich herum passiert, und darauf reagieren können. Du brauchst den richtigen Instinkt, um genau zu wissen, was du tun musst, gerade in einem hektischen Finale. Auch das ist eine Fähigkeit, die ich habe. Ein dritter Punkt, der mir sehr hilft, ist, dass ich meinem Team Anweisungen geben kann, was sie beim Sprint zu tun haben. Das Resultat ist, dass ich mich auf ihre Unterstützung verlassen kann, und das macht mich zu einem kompletten und sehr guten Sprinter.“

Angesichts von Kittels Ruf, entspannt, freundlich und ein sehr eloquenter Sprecher seiner Sportart zu sein, fragt man sich, wie eine so ausgeglichene Persönlichkeit sich heiß macht für die Massensprints, die zweifellos zu den konfliktträchtigsten aller athletischen Auseinandersetzungen gehören. Er lacht über die Anspielung, dass sich hinter der gepflegten Fassade eine Art Mr. Hyde oder eine rasende Wut verbirgt, die zum Ausbruch kommen will. Es käme nur auf den Kampfgeist an, versichert er. „Es ist keine innere Rage, die ausbricht, wenn du ins Finale kommst. Es ist eher so, dass du entschlossen bist, deine Position zu verteidigen und gewinnen zu können. In diesen Situationen brauchst du Kampfgeist, um auf Position zu bleiben und zu zeigen, dass du der Schnellste bist. Den Kampfgeist habe ich auf jeden Fall“, erklärt Kittel. Außerdem werden im Sprint die verschiedenen Persönlichkeiten der Sportler deutlich sichtbar, fügt er hinzu. „Du kehrst dein Innerstes nach außen“, sagt er. „Ich bin definitiv nicht der Typ, der jemandem Kopfstöße verpassen muss oder will, um zu zeigen, dass er stark ist. Das ist nicht meine Art. So bin ich nicht und so verhalte ich mich nicht. Im schlimmsten Fall, wenn ich wirklich in eine Situation komme, wo ich mich verteidigen muss, kann und werde ich das tun, aber das ist nicht die Art, mit der ich Rennen gewinnen will.“ Das Vertrauen in seine Fähigkeit und die Wahrscheinlichkeit, dass am Ende er auf dem Podest steht und Sekt versprüht, ist auch Teil seines Rüstzeugs als Sprinter, wie er sagt. Aber er lässt nicht zu, dass dieses Selbstbewusstsein in Überheblichkeit oder Arroganz umschlägt, fügt er schnell hinzu. „Ob ich mich unbesiegbar fühle? Nein. So sollte sich keiner fühlen. So zu denken ist gefährlich. Aber im Moment habe ich großes Vertrauen in mich und meine Stärken, dank der Saison, die ich bisher hatte. Ich glaube, ich kann froh sein, dass ich mich meistens umdrehen kann, um die anderen Fahrer zu sehen, statt nach vorn zu schauen und jemand anders gewinnen zu sehen“, sagt der Erfurter. Aber was ist mit den Fällen, wo es nicht so läuft, wie er hofft und sogar erwartet? Regt er sich schnell auf? Gibt es Beschuldigungen? „Nein, eigentlich nicht, weil du das sowieso abhaken musst – nicht nur, wenn du einen Sprint verloren hast, sondern auch, wenn du ein schlechtes Jahr hattest“, sagt er. „Wenn es um einen speziellen Sprint geht, wenn etwas passiert ist, setzen wir uns abends als Team zusammen und reden darüber. Denn wenn ein Fehler gemacht wurde, liegt es meistens nicht an einer Person, sondern betrifft das ganze Team. Dann musst du über das Problem reden, damit es beim nächsten Mal besser läuft. Ich denke natürlich auch über meine Leistung nach und was ich anders machen könnte. Aber es gibt auch Momente wie dieses Jahr beim Giro auf der 7. Etappe, wo ich auf den letzten fünf Kilometern einen Plattfuß hatte. Das sind Dinge, die einfach passieren und die du nicht analysieren kannst. Du musst sie abhaken und hoffen, dass du nächstes Mal mehr Glück hast.“

 

Kittels Entschlossenheit, nach vorne und auf künftige Ziele zu schauen, statt über die Vergangenheit nachzudenken, erstreckt sich auch auf Vergleiche zwischen seinem heutigen und früheren Team oder zwischen ihm und anderen Sprint-Stars.
„Ich vergleiche meine Sprintzüge bei Giant und Etixx nicht, weil es keinen Sinn hat. Du kannst ein Team nicht mit dem anderen vergleichen, wenn ein Sprinter nur in einem dieser Teams sein kann“, sagt er. „Ich kann nur sagen, dass ich mich meinen Anfahrern sehr, sehr zufrieden bin. Ich glaube, es ist unbestreitbar, dass wir bei den Rennen, die wir zusammen gefahren sind, einen unglaublichen Job gemacht haben. Wir waren nicht nur stark, wir waren auch clever, was für mich sehr wichtig ist. Diese Erfolge waren eine super Grundlage, auf der man arbeiten und weitere Erfolge anpeilen kann.“ Vergleiche mit früheren Sprint-Assen wie André Darrigade, Freddy Maertens, Mario Cipollini und natürlich Cavendish hält er für schwer. „Ich glaube, jeder muss sich selbst in seiner Karriere und seiner Ära auszeichnen. Große Namen wie diese sind einzigartig in ihrer Zeit. Du kannst nicht jemand aus den 70ern nehmen und mit jemandem von heute vergleichen“, erklärt Kittel. „Es geht mir nicht darum, mir einen Platz in der Geschichte zu sichern. Wenn du alles so machst, wie du solltest, kommt diese Anerkennung von alleine“, fährt er fort. „Meine Art, erfolgreich zu sein, ist, mir ein Ziel zu setzen, darauf hinzuarbeiten und zu versuchen, es zu erreichen. Und wenn ich erfolgreich bin, will ich diesen Erfolg auch genießen. Aber ich nähere mich dem nicht von der anderen Seite, indem ich sage, ich will einen bestimmten Rekord erreichen, und so an die Sache herangehe. Ich konzentriere mich gerne auf das Ziel, das ich habe, weswegen mir der Ruhm und Erfolg, der aus dem Erreichen des Ziels erwächst, vielleicht nicht so wichtig ist. Es ist die Errungenschaft selbst, die mir wichtig ist, auch wenn ich es genieße, was es mit sich bringt, auch die Chance, eine Flasche Champagner mit meinen Teamkollegen zu teilen.“

Mit nunmehr 14 Grand-Tour-Etappen (inkl. Tag vier der Tour 2016) sind Vergleiche mit Cavendish, der bei Redaktionsschluss 47 hatte, Cipollini, der in seiner Karriere 57 holte, und Petacchi, der bei einem einzigen Giro d’Italia neun Etappen gewann, noch verfrüht. Aber sie werden nicht so voreilig sein, wenn Kittel bei den Sprints der Tour weiterhin Leistung zeigen und später vielleicht die Weltmeisterschaft in Katar gewinnen kann. Da er Ersteres erst noch erreichen muss, spekuliert er natürlich nicht gerne über Letzteres, insbesondere nicht über die Frage, wer Kapitän des deutschen Teams sein könnte, wenn Greipel und John Degenkolb auch gute Aussichten haben dürften. „Ja, es ist ein flacher Kurs, aber er ist sehr hart“, stellt er fest. „Wie es gehen soll, wenn wir drei große Sprinter haben? Gute Frage. Das müssen wir abwarten. Ich lasse mich auf keine Diskussion über die Weltmeisterschaft ein, bevor die Tour de France vorbei ist. Das ist das Rennen, das wieder einmal zeigen wird, wer der Schnellste ist, vor allem über drei Wochen. Bisher habe ich allen Grund, entspannt zu sein und meinem nächsten Ziel bei der Tour entgegenzusehen. Ich hatte einige schöne Siege, ich bin in diesem Jahr immer gegen die besten Sprinter der Welt gefahren. Und das gibt mir Selbstbewusstsein für die Tour und auch für den Rest der Saison“, sagt er mit einem breiten Lächeln. „Ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass es eine große Diskussion geben wird, und wenn, wird sie sicher nicht öffentlich stattfinden, weil die beteiligten Fahrer alle vernünftig sind und Leute sind, mit denen man reden kann, daher sehe ich keine Probleme“, sagt er. „Du darfst nicht vergessen, dass bei einer Weltmeisterschaft alles passieren kann. Es wird ein interessantes Rennen und man sollte nicht nur auf die Deutschen schauen. Es gibt auch andere starke Teams und niemand weiß, wie es sich in Katar fährt, vor allem im Oktober. Es könnte sehr windig sein und das könnte gut für die Holländer sein, zum Beispiel. Es könnte einen Überraschungssieger geben, auch wenn ich als Sprinter natürlich hoffe, dass das nicht der Fall sein wird.“

Interview beendet, Kittel geht in sein Zimmer, um sich für das Foto-Shooting seine Ersatz-Teamkluft anzuziehen. „Versuche ein bisschen strenger auszusehen, ein bisschen ernster“, wiederholt Procycling-Fotograf Jesse Wild, während er versucht, ihm den gewünschten Gesichtsausdruck zu entlocken. Kittel versucht es, aber kann das Lächeln nicht ganz unterdrücken. Ein erneuerter, verbesserter und sehr zufriedener Marcel Kittel steht wieder im Mittelpunkt.



Cover Procycling Ausgabe 150

Den vollständingen Artikel finden Sie in Procycling Ausgabe 150.

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