Twin Peaks

2016 gewann Adam Yates als erster Brite das Weiße Trikot der Tour. Dazu wurde er Gesamt-Vierter. Der 24-Jährige ging in den 100. Giro d’Italia, um mehr Erfahrung zu sammeln. Aber könnte es mehr als das sein? Wie Adam zu Procycling sagte: „Ein Rennen ist für mich ein Rennen, und wenn es mir liegt, werde ich versuchen, es zu gewinnen.“

 

Ende 2013, beim Orica-Trainingslager in Australien, war das Interesse an den 21 Jahre alten Neuzugängen Simon und Adam Yates groß. „Also“, fragte einer der Teamkollegen, „welcher ist der Gute?“ Dreieinhalb Jahre später ist die Frage immer noch nicht geklärt. Die 24 Jahre alten Zwillinge aus Lancashire sind einander nach wie vor ebenbürtig. Ihr Talent ist unbestritten, aber wie sie mit der Profiumgebung, eventuellen mentalen Schwächen und Rückschlägen zurechtkommen, muss sich erst noch zeigen. Ein Bruder gewinnt, dann der andere. Zum Beispiel in diesem Frühjahr: Am 5. März gewann Adam den GP Industria e Artigianato di Larciano im Sprint einer kleinen Gruppe. Fünf Tage später gewann Simon eine Etappe von Paris–Nizza und wurde anschließend Gesamt-Neunter. Adam schien bei Tirreno–Adriatico auf einen Podiumsplatz zuzufahren, bis ein Magen-Darm-Infekt und Fieber ihn auf der 5. Etappe zur Aufgabe zwangen. Aber bevor der Monat um war, war er Vierter der Volta a Catalunya geworden. Einen Monat später fuhr er als Erster der Brüder in die Top Ten eines Monuments – er wurde Achter bei Lüttich–Bastogne–Lüttich. Bei Redaktionsschluss hatte Simon mit einem Sieg beim GP Miguel Indurain sowie unlängst mit der Königs-etappe und dem zweiten Gesamtrang der Tour de Romandie die Nase vorn. Adam wird, wenn alles gut läuft, seine Chancen beim Giro suchen. Und wenn es das gewohnt chaotische Rennen mit Angriffsmöglichkeiten ist, könnte er für den Ausgleich sorgen.

Wie hält man die beiden also als Athleten auseinander? Man könnte machen, was der britische Verband tat, und sie trennen, aufgrund von Simons überlegener Arbeit auf der Bahn als Teenager. So konnte Adam seine Amateurambitionen in Frankreich auf der Straße verfolgen. Wie Simons einstiger Coach Keith Lambert sagte, kurz nachdem die beiden bei Orica unterschrieben hatten: „Einer ging im Uhrzeigersinn, der andere gegen den Uhrzeigersinn, und jetzt sind sie beide wieder am selben Ort.“ Oder man könnte machen, was Matt White, Oricas leitender Sportdirektor, im April tat. Da er eines ihrer Programme ändern musste, sodass ein Yates (einer von beiden, egal welcher) als Helfer von Esteban Chaves zur Tour gehen konnte, überließ er ihnen die Entscheidung. Also stellte Simon sein Programm um und ging zur Tour, sodass Adam sein Giro-Vuelta-Programm fortsetzen konnte, das White ihm vor der letztjährigen Grande Boucle ursprünglich vorgeschlagen hatte. Alternativ könnte man tief in ihre Resultate eintauchen. Simon hat sechs Profisiege, Adam fünf. Drei von Simons Siegen sind WorldTour, darunter eine Vuelta-Etappe. Adam hat nur einen WT-Sieg, aber dafür einen großen: die Clásica San Sebastián 2015. Adam hat ein Etappenrennen gewonnen, die Türkei-Rundfahrt 2014; das hat Simon nicht, aber er war sechsmal in den Top Ten eines WT-Etappenrennens. Adam liegt eines zurück, aber eines davon ist die Tour de France, und es war mit dem Weißen Trikot verbunden. Das ist wahrscheinlich das eine Resultat, das die beiden im Moment unterscheidet. Adam trug als erster Brite das Weiße Trikot in Paris, was ihn zu einem von nur drei aktiven britischen Fahrern macht, die in einer individuellen Grand-Tour-Wertung auf dem Podium standen. Chris Froome und Mark Cavendish sind die anderen beiden. Die letztjährige Tour hat daher historische Bedeutung. Als wir ihm das im Hotel Caesar in Lido di Camaiore an der toskanischen Küste sagen, reagiert Yates abwehrend. Das hätten wir wissen sollen – er schaut nicht gerne zurück. „Ich werde deswegen nicht allzu emotional und ich denke nicht daran, Geschichte zu schreiben“, sagt er. „All diese Fragen … Das werde ich häufig gefragt. Ich weiß nicht, was ich darauf sagen soll. Es war eine tolle Erfahrung und ein fantastisches Resultat, aber ich habe nur getan, was ich konnte. Ich will darüber nicht nachdenken.“

Yates ging als Giro-Debütant nach Sardinien. Als Fahrer, der zweimal an der Tour teilgenommen und viel erreicht hat, hätte er sauer sein können, dass sein Programm geändert wurde. White wusste sicher nicht, welche Antwort er bekommen würde, als er den Giro-Vuelta-Plan anpries. Aber Adam machte sich keine Sorgen. „Es war keine große Entscheidung, den Giro und hoffentlich die Vuelta zu fahren“, versichert er. „Es passiert ohnehin nicht oft, dass ein Neuprofi die Tour fahren kann. Normalerweise fängst du mit dem Giro oder der Vuelta an, sammelst Erfahrung und fährst dann die Tour, aber es ist gut – nicht einen Schritt zurück, sondern etwas Neues zu machen, das Ziel zu ändern.“ Yates geht mit seiner üblichen „Was kommt, das kommt“-Haltung an den Giro heran. „Es geht einfach darum, Erfahrung zu sammeln, stärker zu werden … Schon eine Grand Tour zu fahren  ist sehr schwer, aber zwei in einem Jahr sind eine andere Herausforderung. All das ist neu, etwas, was wir nie zuvor gemacht haben, also sollten wir es ausprobieren und sehen, was passiert. Und wenn es nicht klappt, können wir immer noch auf einen Plan zurückgreifen, der funktioniert.“ Obwohl er während des Interviews aufmerksam bei der Sache ist, ist er auch sparsam mit seinen Worten. Man hat den Eindruck, dass alles, was nicht zu seinem Sport und seinen Resultaten beiträgt, ein Kompromiss oder – schlimmer noch – eine Ablenkung ist. „Wir sind nicht in diesem Sport, um Unsinn zu machen“, sagt er. Themen wie harte Arbeit, nach Plan fahren, nicht zurückschauen und akzeptieren, was passiert, klingen im Interview immer wieder an. Das ist eine Eigenschaft von Yates, die sich nicht von einem Jahr aufs nächste ändern wird. Als Beispiel nehme man die letztjährige Tour. Am ersten Ruhetag rissen sich alle um Yates; im Mannschaftshotel in Andorra war er von Mikrofonen eingeklemmt. Zweiter im Gesamtklassement und im Weißen Trikot und die Geschichte vom Flamme-Rouge-Debakel, das dazu führte, dass er am Kinn genäht werden musste – all das lieferte reichlich Gesprächsstoff. Fragen prasselten von allen Seiten auf ihn ein. Die Mikrofone schoben sich näher an ihn heran, um die kurzen Antworten einzufangen, die kürzer wurden, als die Session weiterging. Yates zog sich auf den Sessel zurück und variierte das Thema „was kommt, das kommt“ noch 20 Minuten. Als den Medien keine neuen Arten mehr einfielen, ihm eine Zukunftsprognose zu entlocken, ließen sie von ihm ab und Yates sprang aus dem Sessel und war weg. Job erledigt.

Yates scheint sein Profileben – und mithin sein ganzes Leben – auf das nackte Minimum abgespeckt zu haben. Wenige Störfaktoren werden zugelassen, und das gilt auch für seine Termine, wenn er nicht auf dem Rad sitzt. Mit Blick auf beide Brüder sagte White: „Der Traum für diese Jungs wäre, mit niemandem zu sprechen. Sie lieben es, auf dem Rad zu sitzen und Rennen zu fahren. Alles andere, was mit dem Leben als Profi verbunden ist – sie wissen, dass es zum Job gehört, und sie machen es, aber sie sind nicht materialistisch und suchen keine Aufmerksamkeit.“ Während viele andere Fahrer erkannt haben, dass man seinen kommerziellen Wert erhöhen kann, wenn man erstens Rennfahrer und zweitens Social-Media-Manager ist, nutzt Yates die verschiedenen Plattformen kaum – nur gelegentlich mal ein Landschaftsfoto von einer Trainingsfahrt auf Instagram oder ein Tweet, um Werbung für einen Sponsor zu machen. „Muss ich das?“, antwortet er auf die Frage, warum er für seine 23.000 Twitter-Fans nicht mehr poste. „Nein, ich finde, Social Media … Als ich damit anfing, war es lustig, aber dann wurde es ernst. Die Leute fingen an, Dinge aus dem Kontext zu reißen, weil du sie so oder so formuliert hast, und das schafft nur Negativität. Das brauche ich nicht. Was habe ich denn davon? Das ist die Frage, die du stellen musst. Es ist nur mehr Stress, mehr Aufwand, mehr Ärger. Warum soll ich mich damit abgeben?“ Und diese Haltung scheint Yates’ Philosophie, wie man ein guter Profi ist, zu verkörpern: mentalen Druck und alles, was von der Arbeit abhält, zu vermeiden. „Hier gibt es keinen Druck“, sagt Adam über Orica. „Es sind die Fahrer, die sich selbst unter Druck setzen, und das bin nicht nur ich, das sind alle. Aber wenn es Druck von anderer Stelle gibt – die Sportlichen Leiter, die Mitarbeiter oder wer auch immer –, ist es einfach zusätzlicher Stress. Und wenn es Stress gibt, machst du kleine Fehler, Fehler, die dich Siege kosten. Ich finde, Orica geht gut mit dem Druck um. Hier heißt es nicht: Du musst das, dieses und jenes gewinnen. Wir gehen mit einem Plan in ein Rennen, versuchen den Plan umzusetzen, und wenn wir ein Resultat erzielen, erzielen wir ein Resultat.“

 

Wenn es  nichts zu gewinnen gibt, hält sich Adam zurück. Aber wenn er seine Chance gekommen sieht, gibt er alles“, sagt Mat Hayman. Er ist einer der routiniertesten Fahrer von Orica und kennt Yates besser als jeder andere im Team außer Simon. Adam sei von den beiden Brüdern „schwerer zu lesen“, so Hayman, und nicht besonders mitteilsam. „Adam braucht ein bisschen, um mit jemandem warm zu werden“, fügt Hayman hinzu. „Er ist ein sehr cleverer Rennfahrer, er verpasst keine Gruppe, wenn die Post abgeht. Auf einmal ist er genau da, wo er sein muss.“ Hayman erinnert sich an zwei windige Etappen bei der letztjährigen Tour, wo der schlanke Yates im Seitenwind in Gefahr war. „Ich war schwer beeindruckt, wie er diese windigen Etappen bei der letztjährigen Tour überstanden hat. Er brauchte unsere Hilfe, aber er war zur Stelle und wich nicht vom Hinterrad.“ Yates gibt zu, bei dem Rennen sehr gelitten zu haben, insbesondere auf der Etappe nach Montpellier, wo Froome und Peter Sagan im Seitenwind attackierten. „Wenn irgendjemand behauptet, dass ihm diese Etappen Spaß gemacht haben, muss mit ihm etwas nicht stimmen. Es war stressig, aber ich wusste, dass das ganze Team um mich herum war. Wenn du ein solches Team hast, das bei dir bleibt, ist es egal, wie sehr der Wind weht, weil dich immer jemand abschirmt.“ So wenig sich Simon und Adam in ihren Resultaten voneinander unterscheiden, so schwer ist zu sagen, ob Adam sich auf Eintagesrennen oder Rundfahrten spezialisieren wird. „Ich wollte schon sagen, dass ich bei Eintagesrennen ein bisschen erfolgreicher bin, aber ich glaube, das stimmt nicht mehr“, antwortet er. „Der Punkt ist: Ein Rennen ist für mich ein Rennen, und wenn es mir liegt, versuche ich es zu gewinnen.“ Und er ist noch in der Entwicklungsphase, in der er bei Etappenrennen etwas ausprobieren kann. Yates ging an seine zwei früheren Frankreichrundfahrten anders heran. 2015 war er da, um in Ausreißergruppen zu gehen und in den ersten paar Stunden „hundert maximale Sprints hinzulegen und durchzuhalten“. Außerdem verlor das Team drei Fahrer durch Stürze in der frühen Phase des Rennens. Das Training für 2016 drehte sich vor allem um gleichmäßigeren Output und Schwellentraining und Höchstleistung am Schlussanstieg.

Dass Yates sich so problemlos in der WorldTour einlebte, scheint dafür zu sprechen, dass ihm die Radrennen leichtfallen, aber das ist nicht der Fall. Jeder, der Yates’ Geschichte kennt, wird sich erinnern, dass Adam von der British Cycling Academy abgelehnt wurde, weil er nicht dem Profil entsprach, nach dem sie suchte – ein gestandener Bahnfahrer. Während Simon also bei British Cycling untergebracht war und fast jeden Tag auf der Bahn fuhr, verbrachte Adam zweieinhalb Jahre als Amateur in Frankreich – eineinhalb Jahre bei UVCA Troyes und ein Jahr bei CC Étupes, dem besten französischen Nachwuchsteam für Kletterer. Für Adam war die Zeit bei Étupes wegweisend, obwohl er nur drei Siege aus Frankreich mitbrachte. Ungewöhnliche Umstände für einen Fahrer seines Kalibers, sollte man denken, aber Yates erinnert sich, dass er jedes Mal an die Grenzen seiner physischen Fähigkeiten ging, sobald er auf dem Rad saß. „Ich bin diese ganzen kleinen französischen Rennen gefahren, und sie waren härter als alles, was ich in England oder sonst wo hätte machen können. Auf dem Papier schienen sie nicht hart zu sein, weil sie in einer niedrigen Kategorie waren, aber sie waren es. Richtig, richtig hart. Du musst einfach Rennen fahren, egal wer dort antritt, und so ist es heute noch. So war es immer.“ Als das Interview endet und das Fotoshooting beginnt, taucht der Junge hinter der Profifassade auf. Er will unbedingt die Fotos sehen und ärgert sich über seinen „großen Kopf“ und die Narben an seinem Kinn. „Nicht meine rechte Seite!“, sagt er lachend, als der Fotograf ihn bittet, nach links zu schauen. Die „Was passiert, passiert“-Teflonschicht, an der Enttäuschungen abperlen und an der Erfolge auch nicht haften bleiben, ist wohl seine bemerkenswerteste Charaktereigenschaft. Wo kommt das her? „Ich bin einfach so aufgewachsen. Mein Vater hat uns nicht unter Druck gesetzt“, sagt er uns. „Er ist mit uns quer durchs Land zu Jugend- und Juniorenrennen gefahren. Du siehst immer Eltern, die ihre Kinder unter Druck setzen – diese ,Du musst das verdammt noch mal gewinnen‘-Leute. Aber mein Vater sah das ganz entspannt. Wenn wir eine gute Leistung ablieferten, freuten wir uns. So war es immer. Daher ist es normal, ich mache nichts anderes.“ Vor dem Giro gab Matt White die Top Ten und das Weiße Trikot als realistisches Ziel für Yates aus. Es wären zwei Resultate von historischer Bedeutung, aber der 24-Jährige wollte noch nicht so weit vorausschauen. Kein Druck, denk’ dran.



Cover Procycling Ausgabe 160

Den vollständingen Artikel finden Sie in Procycling Ausgabe 160.

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