Andras Klöden – jenseits des Rampenlichts

Deutschlands erfolgreichster aktiver Fahrer ist auch der unnahbarste und unzugänglichste deutsche Fahrer. Wie kam es nach anderthalb Jahrzehnten im Profi-Peloton dazu?

 

Wenn Andreas Klöden seine Karriere in diesem oder nächsten Jahr beendet, wird er wahrscheinlich nie eine große Rundfahrt gewonnen haben, aber in einer Hinsicht wird er vielleicht einen Erfolg erzielt haben, der allen seinen illustren früheren Teamkollegen und Zeitgenossen verwehrt blieb. Sieben Jahre lang war Lance Armstrong schneller als Jan Ullrich. Alberto Contador zeigte Armstrong schließlich das Hinterrad. Aber keiner von diesen dreien errang je einen so nachdrücklichen und definitiven Sieg über einen noch hartnäckigeren Kontrahenten. Nein, Klöden konnte Armstrong nie schlagen, er spielte in seiner Karriere die zweite Geige hinter Ullrich und war Contadors Adjudant. Aber wen er umfassend und wahrscheinlich für immer abgefertigt hat – und das will etwas heißen – ist die Presse.

„Ah, Sie bitten mich um ein Interview mit Klöden, aber das ist nicht so leicht“, liefert RadioShack-Nissan-Pressesprecher Philippe Maertens den Beweis, dass Euphemismen ebenso eine belgische Spezialität sind wie Schokolade und Waffeln. „Andreas gibt seit Jahren keine Interviews mehr. Ich kann ihn fragen, aber ich weiß schon, was er sagen wird.“ Maertens behauptet, dieser habe kein Interesse. Klöden würde (wie bei einer Schimpfkanonade gegen die deutsche Presse 2009) hinzufügen, dass er dank seiner selbst auferlegten Kontaktsperre mit den Medien „seine Ruhe hat“. Wenn er heute etwas zu sagen hat, tut er das – wie viele Fahrer – ungefiltert und ungehindert über Twitter. Auf diesem Weg hielt er im August 2010 eine Schmährede gegen den Bund Deutscher Radfahrer (BDR), den er vor Jahren praktisch verließ, als er sich eine Schweizer Lizenz holte. „Der deutsche Verband ist ein Amateur! Keine Nominierungskriterien, keine professionelle Anleitung. Keiner hat Ahnung vom Profi-Radsport!“, wetterte er.

Ein Jahr später wollte er mit seinem Heimatland anscheinend gar nichts mehr zu tun haben. Bei der Teampräsentation von RadioShack-Nissan in Luxemburg leuchtete auf einer großen Leinwand die Landesflagge der einzelnen Fahrer auf, wenn diese die Bühne betraten – außer der von Klöden. Er entschied sich für den blauen Hintergrund und die goldenen Sterne der Europäischen Union. Er hat seit der Regio Tour 2007 in Deutschland kein Rennen mehr bestritten. Er ist seit dem Zeitfahren bei der Weltmeisterschaft 2006 in Salzburg nicht mehr für die Nationalmannschaft angetreten.

Eine der namentlich genannten Adressaten seiner Twitter-Tiraden 2010, der BDR-Vizepräsident Udo Sprenger, sagte uns per E-Mail, dass „er sich nach den Dopingkontroversen bei T-Mobile durch die Öffentlichkeit, die Medien, Vertreter des Verbands und das Nationale Olympische Komitee ungerecht behandelt gefühlt hat“. Der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, so Sprenger, war Klödens „diplomatische“ Nicht-Nominierung für die Olympischen Spiele in Peking 2008, als das Internationale Olympische Komitee (IOC) untersuchte, ob er und sein damaliger Telekom-Teamkollege Jan Ullrich sich ihre Medaillen beim olympischen Straßenrennen in Sydney 2000 erdopt hatten. „Danach äußerte er sich auf seine eigene Art auf seiner Website oder über Twitter. Weder der BDR noch ich haben darauf geantwortet, weil das nicht unser Stil ist“, schrieb Sprenger, bevor er hinzufügte: „Es gibt zu dieser Angelegenheit nichts mehr zu sagen.“ Und anscheinend auch zu nichts anderem, was Andreas Klöden angeht.
 
Zuerst fiel den Telekom-Fahrern nichts Ungewöhnliches an dem dünnen Jungen auf, der in Forst an der polnischen Grenze aufgewachsen war. Nein, das stimmt nicht – es war ungewöhnlich, dass ein Fahrer, der als Wunderkind galt, so gewöhnlich aussehen konnte wie Klöden in seiner Debüt-Saison 1998. Zwei Jahre zuvor war er Dritter beim U23-WM-Zeitfahren in Lugano geworden (der Italiener Luca Sironi, von dem man nie wieder etwas hörte, holte Gold und Klödens zukünftiger T-Mobile-Teamkollege Roberto Sgambelluri Silber). Schon 1997 hätte es Klöden bei der Rheinland-Pfalz-Rundfahrt mit den Profis aufnehmen können. Im gleichen Jahr fuhr der deutsche Festina-Sprinter Marcel Wüst mit ihm in einer sechsköpfigen Ausreißergruppe bei einem Rennen für Profis und Amateure auf Mallorca. Wüst erinnert sich: „Er war ein dünner Bursche, und wir hatten diese Steigung bei Manacor – Sa Vall – vor uns. Er fuhr auf dem großen Kettenblatt da hoch und sprengte das Rennen! Ich bin mit Ach und Krach hinterher gekommen. So was habe ich noch nie gesehen. Ich dachte nur: Verdammt, wer ist das?’“

Während Jan Ullrich zur Titelverteidigung bei der Tour antreten sollte, purzelte das nächste ostdeutsche Wunderkind – Andreas Klöden – im Mai 1998 vom Fließband und ins T-Mobile-Profi-Team. Einer der Hauptstützen des Teams bei der Tour de France, Rolf Aldag, wartete darauf, dass dieser ihn beeindruckte. Und wartete. „Wenn du hinter Jan fuhrst, konntest du seine Kraft spüren“, sagt Aldag. „Es war eindrucksvoll. Aber das Gefühl hattest du bei Andreas nicht. Er war schmal und wirkte zerbrechlich.“ Wenn er nicht auf dem Rad saß, hatte der 23 Jahre alte Klöden noch weniger Ausstrahlung. Schüchtern sei er gewesen, sagt Aldag über seinen früheren Teamkollegen, der die Kinder- und Jugendsportschule Berlin besucht hatte. Dort hatte Klöden Ullrich kennengelernt. Doch 1998 lagen zwei Jahre Altersunterschied zwischen den Freunden und Lichtjahre in ihrer Entwicklung. Aldag und ein weiteres Mitglied der Telekom-Truppe von 1998, Brian Holm, erinnern sich an Diskussionen im Teammanagement, darüber, ob Klöden zurück in ein Farmteam geschickt werden sollte, als die Enttäuschung über seine Leistung wuchs. Die zweite Saison war besser und brachte einen ersten Sieg – eine Bergankunft bei der Volta ao Algarve. Sie endete auch mit Klödens Beitrag zum Gesamtsieg seines Teamkollegen Jan Ullrich bei der Vuelta a España. Nicht, dass sein Input besonders denkwürdig gewesen wäre. „Andreas war dabei? Wirklich? Das weiß ich gar nicht mehr“, sagt Aldag, einer von Ullrichs anderen Leutnants in Spanien.

Was als Nächstes passierte, konnte damals niemand richtig begreifen. Aber einige Jahre später hatte eine unabhängige Kommission, die Doping durch die Uni Freiburg und die T-Mobile-Ärzte Lothar Heinrich und Andreas Schmid untersuchte, eine Idee: Sie stellten fest, dass die Ärzte in Freiburg am 9. März 2000 ein Paket mit Medikamenten im Wert von 1000 DM an Klödens damalige Freundin Bettina geschickt hatten. Zwei Tage später gewann Klöden bei Paris-Nizza auf dem Col d’Eze. 24 Stunden später gewann er erst als zweiter Deutscher das „Rennen zur Sonne“ (Rolf Wolfshohl war 1968 der Erste). Klöden behauptete 2008, dass sein spezielles Paket nur legale Medikamente enthalten habe. Das mag der Fall gewesen sein. Tatsache war, dass er in diesen ersten Monaten des Jahres 2000 wie ausgewechselt wirkte. Einen Monat nach Paris-Nizza gewann er ein weiteres Bergzeitfahren und damit ein weiteres prestigeträchtiges Etappenrennen, die Baskenland-Rundfahrt. Laut Giuseppe Guerini, der im Vorjahr zum Team gekommen war, „waren alle schockiert“. Der Italiener sagt weiter: „Er war ein guter Zeitfahrer, ein anständiger Kletterer, aber wir dachten, dass er noch ein paar Jahre brauchen würde. Wir dachten, dass er hin und wieder eine gute Leistung abliefern würde. Aber wir hätten nie gedacht, dass er das eine Woche durchhalten kann, wie bei Paris-Nizza und der Baskenland-Rundfahrt.“

So weit Rolf Aldag das sagen konnte, hatten die Veränderungen ebenso in Klödens Kopf wie in seinen Beinen stattgefunden. „Ich glaube, er und viele Fahrer, die aus den Nachwuchsteams kamen, dachten vielleicht, dass sie einen Freifahrtschein hätten, dass es ihnen leicht gemacht würde. Aber nach einer Weile erkannten sie, dass ihre Teamkollegen auch ihre Konkurrenten waren. Ich glaube, nach den Diskussionen 1998, dass er nicht gut genug sei, verstand er, dass er wirklich um seinen Platz kämpfen und sich den Respekt der Leute verdienen muss.“

Die Jahrtausend-Saison, das Jahr der Emanzipation von Andreas Klöden, ging ebenso erfolgreich weiter und gipfelte darin, dass die Telekom-Fahrer das komplette Olympia-Podium in Sydney belegten. Auf einer verregneten Busfahrt zur Rennstrecke hatte Ullrich trübsinnig aus dem Fenster geschaut und Klöden gefragt, ob er genug Kleingeld dabei habe, um den Fahrer zu bezahlen, um sie direkt zum Flughafen zu bringen. Ein paar Stunden später glänzte die Sonne. Genau wie Ullrich und Klödens Gold und Bronze neben Winokurows Silbermedaille.
 
Das Foto von der Siegerehrung in Sydney sagte das nächste Hindernis in Klödens Karriere voraus. Nicht, dass er das damals wusste oder es heute zugeben würde. Das Problem war nicht nur, dass Ullrich und Winokurow ihm bei Telekom den Weg versperrten; tatsächlich war Klöden fast immer am besten, wenn er außerhalb des Rampenlichts und im Schatten eines berühmteren Namens stand. Nein, im Gegenteil, das Problem war vielleicht, dass er jetzt Teil von Ullrichs und Winokurows Clique war, einer von zwei konkurrierenden Blöcken im Telekom-Team. Erik Zabel führte den anderen an, und zusammen nahmen die beiden Gruppen dem unterwürfigen Teammanagement allmählich die Kontrolle aus den Händen. Hinzu kam ein weiteres Problem: Geld. Telekom hatte reichlich, und Klöden wusste es besser als die meisten, nachdem er gerade – kraft eines neuen Drei-Jahres-Vertrags – einer der bestbezahlten Fahrer in der Branche geworden war.

Aber der Mann, mit dem er diesen Vertrag machte, Teammanager Walter Godefroot, sollte bald ungeduldig werden. Klödens Saison 2001 war schlechter als sein Jahr 2000, auch 2002 war sieglos und freudlos, und ein weiteres annus horribilis 2003 war nach einem Sturz und vorzeitigen Ausstieg aus der Tour de France auf der 9. Etappe so gut wie vorbei. „Irgendwann hatte ich den Kredit von 2000 aufgebraucht. Mein Gehalt wurde dann für 2003 um einige Prozentpunkte heruntergestuft“, sagte Klöden 2004 zu Procycling. Selbst als Klöden am Wochenende vor der Tour 2004 die deutsche Meisterschaft gewann, hatten seine T-Mobile-Bosse offenbar kein Vertrauen zu im. „Das Trikot passt nicht zu ihm“, war die spontane Bemerkung von Sportdirektor Mario Kummer, als Klöden vom Podest stieg. Knapp zwei Wochen später drehte sich Klöden am Tourmalet auf halbem Weg zum Gipfel um und war überrascht, dass er Ullrich abgehängt hatte. „Fahr weiter, Guerini ist bei mir“, keuchte Ullrich über Funk. 20 Minuten später trennten die Freunde und Teamkollegen elf Plätze in der Gesamtwertung sowie zwei Meter und eine erdrückende Stille im T-Mobile-Wohnmobil. Draußen verschlug es Godefroot fast die Sprache, als Journalisten ihn fragten, ob T-Mobile jetzt mit Klöden einen neuen Herausforderer für Lance Armstrong habe. „Einige Fahrer werden unter Druck besser, andere brechen ein. Wenn du von Andreas etwas verlangst, bringt er nichts mehr. Aus dem Grund bleibt Jan der Kapitän“, sagte Godefroot damals. Zehn Tage später hatte Armstrong seine sechste Tour gewonnen und Klöden war Zweiter geworden. Ullrich war auf dem vierten Platz gelandet.

 

Der Spätsommer und Herbst 2004 waren lebhafte Zeiten für Klöden. Neben lukrativen Angeboten von Phonak, Liberty Seguros und Illes Balears, die er in Erwägung zog und dann ablehnte, gab es einen ständigen Strom von Medien-Terminen, wenn auch nicht so viele, wie seine Leistung bei der Tour seiner Meinung nach verdient hatte. Als Procycling ihn in Kreuzlingen am schweizerischen Ufer des Bodensees – nicht weit von Ullrichs Wohnort – besuchte, beklagte sich Klöden, dass die deutsche Presse nach der Grande Boucle 1994 noch Wochen später über Udo Bölts’ neunten Platz schrieb, jetzt aber mehr Interesse an Ullrichs angeblichem Krach mit Godefroot als an seinen eigenen Erfolgen habe. Seine Kommentare zur Armstrong zeigten, dass die deutschen Medien nicht wussten, was ihnen entging. „Ich glaube, dass die Franzosen Armstrong regelrecht hassen“ und „wenn Armstrong ein schwieriges Verhältnis zu den Zuschauern hat, ist er selbst schuld“, waren typische Zitate.

Abgesehen von diesen und anderen O-Tönen, war Klöden in dem ausführlichen Interview mit Procycling-Redakteuren Marcus Degen und Christian Harth, „sehr höflich und zuvorkommend.“ „Ich habe ihn vor zwei Jahren bei der Tour de France gesehen und er ist immer noch sehr freundlich“, sagt Degen. „Wir haben kurz nett geplaudert und am Ende habe ich ihm gesagt, dass ich mich gerne mal wegen eines Interview-Termins bei ihm melde würde. Aber als ich das tat, hat er nicht geantwortet, was sehr schade ist, da Procycling unserer Meinung nach immer sehr fair zu ihm war …“

In dem Gespräch mit Degen bestätigte Klöden, dass er im September 2004 nahe dran war, ein Angebot von Liberty Seguros anzunehmen. Angesichts des Dopingskandals, der Liberty zwei Jahre später das Genick brach, wäre es sicher ein Fehler gewesen. Trotzdem ist einer der damaligen T-Mobile-Sportdirektoren, Brian Holm, der Meinung, dass Klöden die Chance hätte ergreifen sollen, ins Ausland zu gehen. „Ich persönlich glaube, dass jemand wie er bei T-Mobile am schlechtesten aufgehoben war“, argumentiert Holm. „Es war ein Team von Stars, Fahrer mit gut bezahlten Verträgen, die keine Resultate einfuhren. Jungs wie Matthias Kessler zogen den Rest runter. Ullrich, Danilo Hondo, Stefan Wesemann und Klöden waren für sich allein tolle Jungs, aber wenn du sie zusammen stecktest, und noch Kessler dazu stecktest, wurden sie zu verwöhnt und schwer zu kontrollieren. Das Hotel, das Rennrad, das Material – alles fanden sie Scheiße. Man konnte sehen, dass sie auf dem falschen Weg waren.“

Aldag hingegen sieht die Schuld eher beim schwachen Management als bei Kessler und seiner „Bodensee-Mafia“. Aldag kann auch verstehen, warum Klöden T-Mobile nie verlassen wollte. „Wegzugehen wäre eine sehr schwierige Entscheidung gewesen. Damals konnte man noch nicht absehen, dass alles zusammenbrechen würde“, so Aldag. „Für Andreas’ Ruf und Profil in Deutschland war es besser, mit T-Mobile Zweiter bei der Tour zu werden, als sie mit Mercatone Uno zu gewinnen. Ich meine, die Vergünstigungen waren fantastisch. Wir hatten alle einen Audi, und wenn du den zu Schrott fuhrst, schickten sie dir einfach einen neuen. Du brauchtest weder Versicherung noch Sprit, noch sonst was zu bezahlen. Auch keine Telefonrechnung. T-Mobile ließ jedes Jahr 135 deutsche Journalisten zum Trainings-lager nach Mallorca einfliegen, und die Jungs bettelten förmlich darum, in die Zeitungen zu kommen. Wenn man dort war, ging es nicht so sehr darum, Radrennen zu gewinnen. Vielmehr hatte die Tatsache, in diesem Team zu sein, einen hohen Wert.“ Marcel Wüst drückt es prägnanter aus: „Wenn dir als Radprofi jemand viel Geld anbietet, nimmst du es natürlich. Warum sollte man zu einem anderen Team gehen, das dir vielleicht genauso viel zahlt, aber dafür was weiß ich für Ergebnisse von dir erwartet?“
 
Das Blatt kann sich im Radsport schnell wenden. Das wusste Andreas Klöden, bevor er im Juni 2006 seinen 31. Geburtstag feierte, und ein oder zwei Monate später ganz bestimmt. Am Vorabend der Tour de France musste sein bester Freund Jan Ullrich wegen seiner Verwicklung in die Operación Puerto das Rennen und praktisch auch den Sport verlassen. Sechs Wochen später, nach einer Tour, die Klöden ohne eine Schulterverletzung hätte gewinnen können, trat bei
T-Mobile die Kernschmelze ein, und ein amerikanischer Telekommunikations-Mogul berief die Sportlichen Leiter des Teams zu einem Treffen in Hamburg ein. Anderthalb Jahre lang hatte Bob Stapleton das Frauenteam von T-Mobile geleitet, und nun hatte der Sponsor in Bonn Stapleton gebeten, eine glaubwürdige Nach-Ullrich-Ära einzuläuten. „Auch ohne den Dopingskandal war es eine beschissene Saison, und Bob ging um den Tisch herum und fragte uns, wer oder was unserer Meinung nach das Problem war“, erinnert sich Brian Holm. „Einige von uns erwähnten Kessler und den schlechten Einfluss, den er auf andere Jungs in der Gang hatte, wie Klöden und Wesemann. Bob sagte nur: ‚Gut, der, der und der muss gehen.’ Wir sagten, nein, das sind die großen deutschen Stars, sie sind unantastbar, aber Bob sagte, dass wir uns irrten. ‚Von jetzt an leitet ihr das Team, nicht die Fahrer’, sagte er. Und er hatte recht.“

Klödens letzte Rennen im T-Mobile-Magenta umfassten die Regio Tour, wo er einem jungen Stagiaire namens Mark Cavendish eine gut gemeinte Standpauke hielt, weil er sich nicht an die Stallorder hielt. Als Klöden die Gesamtwertung gewann, bedankte er sich trotzdem herzlich bei Cavendish. „Er war der einzige nicht anglophone Fahrer, der mit mir sprach“, erinnert sich Cavendish. „Die anderen sprachen alle bloß Deutsch… und merkten nicht, dass ich verstand, was sie sagten.“

Das folgende Jahr war ein Alptraum, als Klödens Manager Tony Rominger ihn überredete, mit Kessler und Winokurow zu Astana zu gehen. Es ging ganz gut los – mit Gesamtsiegen bei Tirreno-Adriatico und dem Circuit de la Sarthe. Aber im Juni wurde Kessler positiv getestet. Bei der Tour erlebte Klöden dann den doppelten Frust, seine Chancen für Winokurow zu opfern, nur damit der Kasache des Fremdblutdopings überführt wurde und das gesamte Astana-Team die Heimreise antreten musste. Klöden dachte darüber nach, mit dem Radsport aufzuhören. „Ich kann nicht mehr schlafen“, sagte er. „Vielleicht höre ich ganz auf. Ich habe Angst, dass der Sport kriminalisiert wird und die Leute im Gefängnis landen… Ich habe eine Familie. Das macht alles keinen Sinn mehr.“

Klöden klang, als wüsste er, was kam. 2008 wurde ihm vorgeworfen, dass er einer derjenigen war, die am ersten Abend der Tour 2006 am berüchtigten „Rhein-Konvoi“ von T-Mobile-Fahrern von Straßburg nach Freiburg teilnahmen, um eine Bluttransfusion zu bekommen – wenige Stunden nach Ullrichs Ausschluss von der Tour. Klöden bestritt den Vorwurf, ebenso wie er bestritt, dass seine fünfstellige Spende an ein Kinderhilfswerk im Jahr 2009 eine Art Deal mit dem untersuchenden Staatsanwalt in Bonn war. Warum weder Klödens Schweizer „Heimat“-Verband noch die UCI den Fall weiter untersuchten, ist ebenso mysteriös.
 
Wenn Marcel Wüst heute sagt, dass Klödens Karriere „nicht geradlinig“ war, hätte er sie auch „ungewöhnlich“ nennen können. Ungewöhnlich insofern als er schließlich zwei Jahre mit seinem alten Gegner Armstrong fuhr und zu dem Schluss kam, dass „Lance sehr ähnlich ist wie Jan“. Eigenartig insofern, als er „nicht alles erreicht hat, was er hätte erreichen können“, wie Giuseppe Guerini meint, und insofern als er – wie Brian Holm, Wüst und Cavendish übereinstimmend sagen – wirklich eine Tour de France hätte gewinnen sollen, aber es ihn anscheinend nie kratzte, dass er sie nicht gewann und nicht gewinnen wird.

Cavendish schätzt das Paradox und seinen alten Teamkollegen so ein. „Für ihn zählt nur das Geld. Deswegen hat er nie die Tour oder sonst was gewonnen. Er hätte die Tour gewinnen können, aber er will nicht unter dem Druck stehen, Kapitän zu sein. Er kommt doch aus Ostdeutschland, oder?“ Ist das so einfach? Glaubt er wirklich, dass Klöden, der 14 war, als die Mauer fiel, aufgrund seiner Herkunft eine besonders materialistische Einstellung hat? „Davon bin ich überzeugt“, bietet der Brite eine etwas gewagte Analyse. Auch Brian Holm meint bei Klöden ostdeutsche Charakterzüge zu erkennen: „Andreas ist ein liebenswerter Junge, sehr höflich, aber von der alten Schule. Er will einfach nur Rad fahren. Die Ostdeutschen sind keine Standup-Comedians, sie sind keine Spaßvögel. Tony Martin ist bestimmt kein Eddie Murphy.“ „Ich meine, auf dem Rad ist Andreas ein Gott“, stellt Holm klar. „Er ist Francesco Moser, er ist Roger De Vlaeminck – er hat so viel Stil. Sein Oberkörper bewegt sich keinen Millimeter, wenn er fährt. Er und Ullrich waren so gute Rennfahrer, dass sie sogar bei den Klassikern brillant gewesen wären. Aber die Medien und der ganze andere Kram kümmerte sie nicht.“

RadioShack-Pressesprecher Philippe Maertens hat fünf Jahre lang mit Klöden gearbeitet, ohne je wirklich mit ihm gearbeitet zu haben – aus den naheliegenden Gründen. Trotzdem, so Maertens, hat er einen Mann kennen und schätzen gelernt, der zwei sehr unterschiedliche Gesichter hat – ein öffentliches und ein privates. „Wenn du beim Abendessen oder morgens im Bus Gelächter hörst und dich umdrehst, war es fast immer Andreas, der den Witz gerissen hat. Er ist sehr scharfsinnig. Dann steigt er aus dem Bus, setzt seine Sonnenbrille auf und das war’s: Die Maske geht runter.“

Maertens sagt, dass seine Professionalität ihm Respekt im Team einbringt, aber nicht annähernd die Beliebtheit, der sich zum Beispiel Jens Voigt erfreut. Es ist ein offenes Geheimnis – auch wenn das bei RadioShack niemand zugibt – dass das Verhältnis zwischen Klöden und Chris Horner sich merklich abgekühlt hat, seit der Deutsche den Amerikaner bei der Baskenland-Rundfahrt 2011 schlug. Andere, jüngere Mitglieder des Teams werden Klöden nicht nach seiner Meinung zu Gott und der Welt fragen, obwohl es sich lohnen würde, wenn sie das täten. Marcel Wüst erinnert sich an ein Gespräch mit Klöden in einer verlassenen Hotelbar vor vier oder fünf Jahren „über Probleme im Sport und alles mögliche“, das bis kurz vor Sonnenaufgang dauerte, und das „mir wirklich geholfen hat, Andreas zu verstehen, und warum er über die Art, wie er behandelt wurde, so denkt.“ „Er ist jemand, der zunächst keine Meinung zu irgendetwas zu haben scheint, aber wenn du ihm die Chance gibst, seine Sichtweise zu erklären, geht er sehr ins Detail und überrascht dich“, bestätigt Rolf Aldag.

Wird Klöden auch in seinen verbleibenden ein oder zwei Jahren im Profi-Radsport oder vielleicht nach seinem Karriereende überraschen? Aldag spricht für die meisten, wenn er sagt, dass der Radsport wohl nicht Klödens einzige oder wesentliche Beschäftigung bleiben wird. „Ich kann ihn mir mit einer großen privaten Pension und ohne viel Stress vorstellen. Er wird in der Schweiz leben, Zeit mit seinen zwei Kindern verbringen, ein bisschen Kontakt mit dem Radsport haben, aber nicht allzu viel.“ Wüst stellt sich vor, dass „er mit Jan ausgeht und ein paar Flaschen guten Wein trinkt.“

Was auch immer er machen wird, die Statistik wird sagen, dass Klöden der zweiterfolgreichste deutsche Tour-Fahrer aller Zeiten ist. Als Procycling ihn 2004 besuchte, glaubten wir, dass es erst der Anfang sei, nicht nur für ihn, sondern auch für eine junge Radsport-Nation voller Talente, Optimismus und Investitionen. Zwei Jahre später war die Apocalypse eingetreten und über Nacht war Klöden einer der wandelnden Toten des deutschen Radsports.
Er wollte es nicht, er hat es sich nicht ausgesucht, aber alles in allem hat ihm die ruhige, undurchsichtige Rolle etwas besser gestanden als das Trikot des deutschen Meisters 2004.
 



Cover Procycling Ausgabe 100

Den vollständingen Artikel finden Sie in Procycling Ausgabe 100.

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