„Für die Sieger fahren“

Tour-de-France-Veteran George Hincapie steht in den Startlöchern, um im Juli mit seiner 17. Tour-Teilnahme einen Rekord zu brechen. Cadel Evans, für den er dieses Jahr wieder in die Pedale tritt, ist bereits sein dritter Toursieger.

 

Die einzige Tour de France, die George Hincapie in Angriff nahm, ohne sie zu beenden, war seine erste im Jahr 1996, als der amerikanische Radsportverband (USA Cycling) ihn überredete, vorzeitig auszusteigen, um sich vor den Olympischen Spielen in Atlanta zu regenerieren. Seitdem hat er die Tour jedes Jahr bestritten und hält gemeinsam mit Joop Zoetemelk den Rekord von 16 Starts. Dieses Jahr wird er ihn brechen.
 
Noch beeindruckender als seine bloße Teilnahme ist freilich die Anzahl von Frankreich-Rundfahrten, die Hincapies Teams gewonnen haben. Während die meisten Profis nur davon träumen können, einmal mit ihrem in Gelb gekleideten Kapitän auf die Champs-Élysées zu fahren, hat Hincapie dies bereits neun Mal erlebt – sieben Mal mit Lance Armstrong, ein Mal mit Alberto Contador 2007 und im letzten Jahr mit Cadel Evans. Seine Allrounder-Qualitäten und seine Erfahrung machen Hincapie zu einem wertvollen Mitglied des Teams. Für Procycling rekapituliert er seine Frankreich-Rundfahrten mit drei Kapitänen, die zu den besten Rundfahrern der jüngeren Tour-Geschichte gehören.
 
Lance Armstrong
Hincapie bestritt mit Armstrong sieben Frankreich-Rundfahrten, die alle im Gesamtsieg gipfelten. Bei Armstrongs siebtem und letzten Sieg sicherte sich Hincapie in Pla d’Adet auch seinen einzigen Tour-Etappensieg.
 
Lance glaubte sehr an sich, war sehr willensstark und selbstbewusst. Er war penibel und detailorientiert, schaute sich die Etappen vorher an und plante die Orte, an denen er glaubte, attackieren zu können. Schwächen? Nein – die zeigte er kaum. Er wollte das beste Team um sich haben und das Tour-Aufgebot mitbestimmen. Er behielt im Blick, wie gut sie vor der Tour waren, um sicherzugehen, dass er die besten Helfer dabeihatte. Er strahlte Selbstbewusstsein aus und die Mannschaft glaubte an ihn, sodass alle 100 Prozent für ihn gaben.

Im Teambus sagte er, „heute fühle ich mich wirklich gut, und ich glaube, ich kann die Etappe gewinnen“, oder „ich glaube, ich kann Zeit auf meine Konkurrenten herausfahren“. Er machte uns heiß. Ich war sehr unter Druck, wenn ich auf den Flachetappen für Lance fuhr, weil wir immer um Positionen kämpfen mussten und uns nie entspannen konnten. Es ist schwer genug, wenn du das für dich allein machst, aber wenn du das machst, wenn jemand hinter dir ist, ist es eine Kunst. Du musst wissen, wie und wo sie fahren wollen, und einschätzen können, wie viel Kraft sie aufwenden müssen, um an deinem Hinterrad zu bleiben. Das ist nie leicht, aber für Lance war diese Arbeit etwas einfacher zu leisten.

Natürlich wusste Lance, dass die Berge die entscheidenden Tage sind. Er wachte morgens auf, und du konntest die Entschlossenheit in seinem Gesicht sehen. Du konntest sehen, dass er die Etappen in Gedanken durchging, aber gleichzeitig sah man, dass er deswegen nie in Stress geriet. Er wusste, dass er seinen Job machen musste, und konzentrierte sich vollkommen auf diese eine Aufgabe. Wenn er nicht auf dem Rad saß, war er – wenn es gut lief – froh und begeistert. Wenn es ein Tag war, an dem er das Trikot geholt hatte, war er natürlich glücklich, aber wir feierten erst, wenn das Rennen vorbei war. Ob die Etappe gut oder schlecht war – er wollte nie zu viele Gefühle zeigen oder zu sehr reagieren, bevor das Rennen vorbei war. Champagner gab es erst am letzten Tag.

 
Alberto Contador
Hincapie war 2007 Teamkollege von Alberto Contador bei Discovery Channel – das einzige Jahr, in dem sie die Tour zusammen fuhren. Damals musste Contador seine Rundfahrer-Qualitäten erst noch beweisen, und die Mannschaft ging als Underdog ins Rennen.
 
Contador ist als großartiger Kletterer bekannt, und bei der Tour 2007 war er phänomenal. Er war wirklich aggressiv und wollte die ganze Zeit attackieren. Ich würde sagen, dass er damals nicht so gut darin war, sich im Feld zu positionieren, obwohl er immer noch besser war als die meisten Klassement-Fahrer in dem Jahr. Er war ein sehr willensstarker Charakter, der sich nicht aus der Ruhe bringen ließ. Er wollte Etappen gewinnen, und obwohl er nicht zu den Favoriten zählte, gewann er die Tour trotzdem.

Es war eine tolle Erfahrung, aber ich habe ihn nie so gut kennengelernt wie Lance. Er zeigte seine Führungsqualitäten, indem er Etappen der Tour gewann – und das war es eigentlich. Er hatte nicht viel zu sagen, wenn es um Taktik ging oder darum, die Jungs zu motivieren. Er war ein wirklich netter Typ und es war angenehm, mit ihm zu fahren, aber er hat uns nicht angetrieben. Man sah, dass er konzentriert war, und er dachte, dass er bestimmte Etappen wie Plateau de Beille gewinnen kann.

Er war super begeistert, dass wir da waren und für ihn fuhren – ich habe geholfen, die Ausreißer zu stellen, und er hat die Etappe gewonnen. Dafür war er sehr dankbar. Zu jenem Zeitpunkt war er bescheiden und wollte den Gesamtsieg nicht versprechen, aber wir wussten alle, dass dazu nicht mehr viel fehlte. Er verließ sich auf den Flachetappen wirklich auf uns. Er wusste, dass unser Team gut darin ist, sich zu positionieren, und folgte uns durchs Feld, vor allem, wenn es windig war. Astana attackierte eines Tages in der Verpflegungszone und ich brachte ihn nach vorn. Das war wichtig, weil viele Fahrer dort Zeit verloren. Er wusste, dass er die Fahrer hat, die ihm helfen können, und konnte mein Hinterrad gut halten.

2007 führten wir das Rennen erst gegen Ende an, daher war unser Job, Contador für die Bergetappen in einer aussichtsreichen Position zu halten. Es war wichtig für uns, in guten Ausreißergruppen zu sein, wie das Mal, wo er mich am Col de Peyresourde einholte. Ich wartete oben auf ihn, sodass er sich in der Abfahrt an mich andocken konnte und wir Zeit auf Cadel Evans herausfuhren – was ungefähr der gleiche Zeitabstand war, mit dem er die Tour de France gewann. Wenn er nicht auf dem Rad saß, trieb Contador gerne Scherze mit einem. Er war noch jung, erst 25, und war gerne mit Leuten zusammen, die Spaß verstehen. 

 

Cadel Evans
Hincapie kam 2010 zum Team BMC, im gleichen Jahr wie Cadel Evans. Als Evans 2010 das Gelbe Trikot trug, beendete ein gebrochener Ellbogen seine Chancen, aber das Team fuhr 2011 eine perfekte Tour und gewann sie.
 
Cadel ist einer dieser Fahrer, die leidensfähiger sind als jeder andere Rennfahrer. Er hat einfach so viel Willenskraft und Entschlossenheit. Jemand wie Andy Schleck mag ein besserer Kletterer sein, aber er hält nicht so viel aus wie Cadel. Evans ist dazu sehr gewissenhaft. Er kennt jede Kurve, jeden Anstieg und jeden Winkel jeder Etappe. Er liest das Roadbook morgens und abends wie eine Bibel und achtet jeden Tag auf Windrichtung und Wetter. Bei seiner Vorbereitung will er nichts dem Zufall überlassen. Schwächen sind mir bei ihm keine aufgefallen. Er ist super gut darin, sich zu positionieren, ist natürlich einer der besten Zeitfahrer der Welt und kann in den Bergen auch mit den Besten mithalten. Er ist so ausdauernd und hat einfach nicht aufgegeben. Viele Jahre lang war er der Fahrer, der es fast geschafft hätte – aber zwischen einem zweiten oder dritten Platz und dem Tour-Sieg ist ein großer Unterschied.

Als er zu BMC kam, hatte er eine Umgebung gefunden, in der er aufblühte, und er fing an zu gewinnen, krönte die Sache mit einem Sieg bei der Tour de France. Er ist nicht aggressiv zu uns – er ist bloß sehr ruhig und will nur Teil der Gruppe sein. Er verlässt sich auf seine Sportlichen Leiter und darauf, dass seine „Road Captains“ ihn durchs Rennen eskortieren, und er sagt dir nicht, was du tun sollst. Er will Leute um sich, die im Rennen gute Entscheidungen treffen können, ob das nun Sportliche Leiter sind oder ob ich das bin.

Er ist im Flachen einer der besten Fahrer der Welt und wird dein Hinterrad nicht verlieren, komme, was wolle. Wenn es um die Wurst geht und du vorne fahren willst, bleibt er dran. Wenn es in die Ansteige geht, ist er gerne weit vorne im Feld. Er ist jemand, der über lange Zeit eine hohe Leistung bringen kann – die abrupten Beschleunigungen liegen ihm glaube ich nicht so. Wenn wir ein Rennen kontrollieren, will er, dass wir ein gutes Tempo für ihn machen; so ist es leichter, vorn zu bleiben, als wenn eine andere Mannschaft das Rennen kontrolliert. Er möchte, dass wir uns an die Spitze setzen, um ihn aus dem Wind zu halten, und dafür sorgen, dass er immer zu essen und zu trinken hat. Er nimmt nicht gerne Verpflegungsbeutel an, deswegen holen wir sie für ihn, was normal ist, weil es gefährlich ist. Wenn er nicht im Sattel sitzt, ist Cadel ein sehr netter Typ. Er ist einfach einer von den Jungs. Er ist unkompliziert, mag gutes Essen und guten Wein und ist gerne in Gesellschaft von Leuten, denen er vertraut.



Cover Procycling Ausgabe 102

Den vollständingen Artikel finden Sie in Procycling Ausgabe 102.

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