Rollentausch

Procycling stellt fest, dass Glück, Laune und öffentliches Profil der Top-Sprinter Mark Cavendish und André Greipel sich von einer Tour zur nächsten drastisch geändert haben.

 

André Greipel
 
Marcel Sieberg ist ein echter Spaßvogel. An einem drückend heißen Nachmittag des Ruhetags in Pau saß Sieberg – Sibi –, während sich die meisten Fahrer in ihrem klimatisierten Zimmer ausruhten und für den letzten Teil der Reise nach Paris erholten, fröhlich plaudernd im Hof des Hotels. Er fuhr ein Kinderrennrad für belgische Fernsehkameras und spielte mit der Kamera eines deutschen Fotografen herum. Wo er die Energie hernahm, war ein Rätsel.

Auf der anderen Seite des Tisches schaute das Objekt im Display der Kamera angestrengt auf seinen Laptop und weigerte sich – zumindest anfangs –, auf Siebergs Späße einzugehen. André Greipel und Sieberg sind seit über 15 Jahren befreundet, und wenn irgendjemand den gebürtigen Rostocker straflos foppen darf, dann Sieberg. Tatsächlich ließ sich Greipel schließlich erweichen, lächelte ein breites Lächeln, und der Auslöser wurde gedrückt wie verrückt. Nach zwei Dritteln des Rennens konnte sich der Mann mit dem Spitznamen „Gorilla“ ein Grinsen erlauben. Ungeachtet der abgeschürften Haut und der verletzten Schulter (beide von einem Sturz auf der 6. Etappe) war er gekommen, um auf Etappenjagd zu gehen, und bis Paris sollten es drei Siege werden: die Etappen 4, 5 und 13. In der ersten Woche bedeutete dieser Erfolg, dass das Grüne Trikot – zumindest für eine Weile – ein verfolgenswertes Ziel war. Greipel sammelte sogar schon Punkte in den Zwischensprints, ehe ihn ein stürmischer Peter Sagan vor dem Ende der zweiten Woche klar auf den zweiten Platz verwies.

Der Grund für die Erfolge in diesem Jahr ist klar: ein Team, das geschlossen hinter ihm steht. Valerio Piva, Greipels früherer Sportdirektor bei Highroad, sagte zu Recht: „André braucht seine Jungs. Er ist der einzige Sprinter bei der Tour mit einem starken Team. Die ersten beiden Siege hat er seinem Team zu verdanken.“ Aus der letztjährigen Tour ging Greipel mit einem Etappensieg und drei Top-Drei-Plätzen hervor – solide, aber nicht phänomenal. Auch seine Saison-Ausbeute war geringer geworden: 2009 waren es 20 Siege; 2010 sogar 21; 2011 nur acht. Insgeheim hatte er sich bestimmt mehr erhofft. Physisch hatte sich nichts geändert – Greipels Wattleistung ist seit einigen Jahren konstant und er war verletzungsfrei. Die größte Variable war ein Wechsel des Teams. Bei HTC-Columbia hatte ihn eine starke Sprint-Formation, selbst wenn er dort im Schatten von Cavendish stand, 2010 zu einem der erfolgreichsten Fahrer der Welt gemacht. Der Rückgang der Siege verdeutlichte einen wichtigen Punkt: Ohne Sprintzug ist Greipels Erfolgsquote wesentlich geringer.

Auf die Frage, wie groß der Beitrag des Team zu seinen Siegen ist, sagt Greipel: „Ich würde sagen, 70 bis 75 Prozent. Denn wenn ich aus sechster oder siebter Position sprinte, kann ich, glaube ich, nicht gewinnen, weil die Tour das größte Rennen der Welt ist. Wenn ich meinen Sprint von vorne starte, wird alles viel leichter.“ Die Schlussfolgerung, auf die andere hingewiesen haben, ist, dass Greipel nicht übermäßig gut darin ist, das richtige Hinterrad zu wählen und ihm zu folgen, wenn er isoliert ist. Doch diese Schwäche scheint abzunehmen. Es ist eine köstliche Ironie, dass er seinen Sieg auf der 13. Etappe in Cap d’Agde aus dem Windschatten von Cavendishs luxuriösem Sprintzug mit dem Gelben Trikot in Form von Bradley Wiggins und Edvald Boasson Hagen improvisierte. Doch so autonom ist er nicht immer.

Nach der letztjährigen Tour fing Greipel an, Mark Sergeant und den Rest der Lotto-Belisol-Teamleitung zu motivieren, seinen Sprintzug zu verstärken. „Wir hatten vorher auch gute Leute – Jurgen Roelandts und Marcel Sieberg, aber drei Mann sind nicht genug“, so Greipel. Es kamen Lars Bak und Greg Henderson, die die Zahl der ehemaligen Highroad-Fahrer bei Lotto-Belisol auf sieben erhöhten. Vier von ihnen – Sieberg, Bak, Henderson und Greipel – waren ausdrücklich für die Sprints zuständig. Ein weiterer Fahrer, Adam Hansen, war an der Peripherie des Zuges, und die anderen beiden, Vincent Reynes und Gert Dockx, anderweitig bei Rennen im Einsatz. Greipels Gruppe fuhr bei der Tour Down Under erstmals zusammen – unter Anleitung von Anfahrer Henderson, der Anfang des Jahres von Sky gekommen war, als klar war, dass Mark Cavendish auf dem Weg zu diesem Team war. „Mein Job war im Prinzip, ihn wieder flott zu machen“, sagte der 35 Jahre alte Neuseeländer über den Lotto-Belisol-Sprintzug. „Ich wusste, dass Greipel einer der schnellsten Sprinter der Welt ist, aber ihm fehlte einfach die Unterstützung durch einen Zug. Die Jungs waren da, um ihn zu unterstützen, aber es fehlte noch das Feintuning.“

Dank Hendersons Instruktionen lief der Zug unter Volldampf, und die Siege stellten sich ein. „Bei mir hat Greipel dieses Vertrauen, und ich treffe die Entscheidungen auf der Straße“, sagte Henderson. „Wenn er zu viel selber denkt, kann er sich manchmal an der falschen Stelle positionieren oder von zu weit hinten sprinten, was wir so oft gesehen haben. Er vertraut mir, dass ich ihn an die richtige Stelle bringe.“ Neben Erfahrung und Feuerkraft brachte der Zustrom von früheren Teamkollegen auch Brüderlichkeit, stellte Sieberg fest: „Ich glaube, es gibt Geborgenheit, weil wir jetzt wie eine Familie sind. Wir haben viele Fahrer wie Adam Hansen und Greg Henderson. Alle arbeiten füreinander, und jedem gefällt es.“ Ein schönes Zitat, das an Substanz gewann, als er erzählte, dass im Team Handys beim Abendessen verboten sind. „Es ist die einzige Zeit, wo wir uns alle unterhalten können. Wir sprechen über den Tag, weil es vorkommt, dass eine Gruppe nach dem Start weg ist und du nicht weißt, wie das Rennen für sie war und wie sie sich gefühlt haben. Das ist gut“, so Sieberg. „Jetzt sind wir Freunde“, sagte auch Henderson. „Es war eine der Entscheidungen, Sky zu verlassen. Es war kein Geheimnis, dass Cavendish kam – ich habe nichts gegen Cav, ich mag Cav, aber bin ich lieber Anfahrer für meinen Kumpel oder für Cavendish? Natürlich will ich Anfahrer für meinen Kumpel sein.“

In der Nachmittagshitze in Pau fragte Procycling Greipel, ob das Team um ihn herum der beste Sprintzug ist, den er je hatte. „Ja“, war seine einfache Antwort. Gibt es irgendwelche anderen Fahrer, die er gerne hätte, um den Zug noch stärker zu machen? „Nein. Ich glaube, für den Moment sind wir perfekt. Zusammen sind wir eine richtig gute Truppe.“ Also alles bestens im Hause Lotto.

Mark Cavendish
 
Bei jeder der beiden letzten Frankreich-Rundfahrten hat Mark Cavendish zu dem einen oder anderen Zeitpunkt über seine Gegenwart und Zukunft nachgedacht und feierlich erklärt, dass es nächstes Jahr um diese Zeit ganz anders sein würde. 2011 horchte Cavendish am zweiten Ruhetag den HTC-Highroad-Eigentümer Bob Stapleton über seine Rettungspläne für das Team aus – kam aber letztlich zu dem Schluss, dass die seit dem vorausgegangenen Herbst komplett zerrüttete Beziehung nicht mehr zu reparieren war. Der Verlust des vermarktungsfähigsten Stars des Radsports machte Stapletons Bemühungen praktisch aussichtslos. Der Amerikaner verlies den Radsport unter großem Bedauern, nicht zuletzt darüber, dass Sky-Boss Dave Brailsford anscheinend schon vor der Tour die Spekulationen darüber gefördert hatte, Cavendish würde zu seinem Team kommen, was Stapletons Suche nach einem neuen Sponsor erschwerte. Er war nahe dran, Cavendish nicht mit ins HTC-Tour-Team 2011 zu nehmen, um potenziellen Investoren zu zeigen, was sie mit Matt Goss und Tony Martin als Kapitänen ausrichten können, hielt sich aber schließlich an der Hoffnung fest, dass denkwürdige drei Wochen Cav zum Bleiben bewegen und einen neuen Sponsor anlocken könnten.

Leider funktionierte es nicht und Cavendish wechselte zu Sky. Freunde im Radsport warnten ihn, dass es dort anders sein würde, dass Brailsford auch Wiggins hatte, aber sowohl er als auch seine neue Managementfirma waren angetan von der Plattform, die Sky für sein öffentliches Profil anbieten konnte. Sein neues Gehalt lag angeblich bei über zwei Millionen Pfund – „das Gehalt eines Fußballers“, wie sein Trainer Rod Ellingworth sagte. Ein Jahr später trat der Weltmeister zum Tour-Start in Lüttich an, ohne einen einzigen Helfer zu seiner ausschließlichen Verfügung zu haben, da Bernhard Eisel sich einen großen Teil der ersten Woche um Wiggins kümmern würde. Eisel wäre beinahe gar nicht mitgenommen worden, aber am Ende gab Brailsford ihm den Vorzug vor Danny Pate, vielleicht weil er Cavendishs Reaktion fürchtete.

Aber es bräuchte mehr, oder besser gesagt, es hätte mehr gebraucht als Eisel, um Cavendish gerecht zu werden. Er gewann den ersten Sprint in Tournai, nachdem er Edvald Boasson Hagen fünf Kilometer vor dem Ziel gesagt hatte, er käme alleine klar, stürzte aber am folgenden Tag in Rouen, möglicherweise, weil ihn niemand beschützte. 24 Stunden später schob er es auf schlechte Positionierung, nicht auf die Blessuren vom Vortag, dass er auf einem anonymen fünften Platz landete. Obendrein musste er mit ansehen, dass sein früherer Teamkollege André Greipel seinen  zweiten Etappensieg in Folge feierte.

Langsam ließ Cavendish die Schultern hängen. Am ersten Ruhetag hielt Sky vor smaragdfarbenen Beaujolais-Weinfeldern eine Pressekonferenz ab, auf der Cavendish nur der drittgefragestete Fahrer war. Im Laufe der Woche, am französischen Nationalfeiertag, gewann Greipel wieder – dank seiner Teamkollegen, die ihn auf der Kuppe des Mont Saint Clair ins Schlepptau nahmen und wieder an das Feld heranfuhren. Cavendish rollte acht Minuten später einsam und verloren über die Linie. Als er den kurzen, aber brutal steilen Anstieg hoch kraxelte, war er auf Tuchfühlung zur führenden Gruppe, aber auch isoliert, da Sky alle Arbeitskräfte, die sie entbehren konnten, für Boasson Hagen einspannten.

In den Medien lobte Brailsford immer noch Cavs Form und sein Bekenntnis zu den Ambitionen mit Wiggins, die beide über jeden Zweifel erhaben waren. Aber hinter der ungetrübten Fassade war nicht alles so, wie es schien. Wie viel wusste Brailsford schon über Unterhaltungen, die bereits zwischen Cavendishs Vertretern und Managern anderer Teams stattfanden? Vermutete er bereits, dass sie eine Ausstiegsstrategie vorbereiteten? Und kümmerte Brailsford das überhaupt? Denn in der Mitte der dritten Woche, als Berichte auftauchten, in denen Omega Pharma – Quick-Step als möglicher Arbeitgeber von Cavendish im Jahr 2013 genannt wurde, wurde auch gemunkelt, dass der Boss des Sky-Teams sogar froh wäre, wenn er sich das Geld für Cavendish sparen könnte.

„Sie sind sehr ambitioniert. Wenn sie glauben, dass sie ihre Ziele hier erfüllen können, werden sie bleiben. Wenn nicht, gehen sie irgendwo anders hin. Das ist ganz einfach“, sprach Brailsford am zweiten Ruhetag in Pau etwas zweideutig über einen Konkurrenzkampf um Plätze in seinem Team. Unterdessen machten auch Gerüchte die Runde – und wurden SMS zwischen früheren HTC-Fahrern hin und her geschickt –, wonach einige Fahrer, die die Tour nicht genossen, am liebsten die Uhr zurückgedreht hätten. „Wir wussten nicht, wie gut wir es dort hatten“, sagte ein früherer HTC-Mann. „Was wir hatten, werden wir wahrscheinlich nie wieder bekommen.“

Nur einige Tage zuvor in Limoux hatte Omega Pharma-Chef Patrick Lefévère Procycling bestätigt, er habe sich in der Woche nach der letztjährigen Weltmeisterschaft mit Cavendish und seinem Agenten Simon Bayliff in London getroffen und ihnen ein Angebot gemacht. Sie entschieden sich für Sky, glaubt Lefévère, „weil es ein englisches Unternehmen ist und es ein Image-Ding ist“. Aber der Belgier fügte hinzu: „Für einen Fahrer wie Cavendish steht die Tür immer offen.“ Außerdem sagte er, dass er sich das Gehalt für Cavendish leisten könne, wenn „meine Sponsoren eine größere Anstrengung unternehmen“, wozu sie seiner Meinung nach bereit seien. Die angebliche Ablöse von sechs Millionen Euro wäre ein viel größerer Stolperstein, aber auch – wie Lefévère meinte – für jedes Team zu hoch und daher verhandelbar.

Was auch immer hinter den Kulissen passierte – in der Öffentlichkeit wollte Sky nichts davon hören, Cavendish wolle seinen Vertrag auflösen oder sei gar unzufrieden. „Es wird ein bisschen dauern, die Interessen zu kombinieren und auf Grün und Gelb hinzuarbeiten. Wir müssen geduldig sein“, sagte Rod Ellingworth in Pau am Morgen der 16. Etappe. Cavendish „regeneriert fantastisch“, sagte Ellingworth, und der Sprinter hätte ohne den Crash in Rouen und mit ein bisschen mehr Kooperation von anderen Teams bei der Verfolgung von Ausreißern weitere Etappen gewinnen können.

Doch das Problem war Folgendes: Ellingworth hat Cavendish immer gesagt, er solle „seine Träume verfolgen“ . An erster Stelle steht dabei – vielleicht nicht im Olympia-Jahr, aber sicher in der Zukunft – der Erfolg bei dem Rennen, dass er „das größte der Welt“ nennt, die Tour de France. Und Erfolg heißt für Cavendish heute zweierlei: erstens weiter mit derselben Frequenz zu gewinnen wie in den letzten vier Jahren mit HTC-Highroad, und zweitens, die Marke Cavendish wachsen zu lassen. Ohne Huhn kann es keine Eier geben.

Ironischerweise hat Wiggins’ Sieg die Bedeutung der Tour für Cavendish noch vergrößert und gezeigt, wie wichtig es ist, dort zu glänzen. Aber auch, wie schwer das mit einem Team Sky sein wird, das noch einige Jahre aufs Gelbe Trikot fahren kann. Cavendish und seine Leute wissen genau, dass genau dort die Prioritäten von Sky liegen. Man hatte im Laufe des Rennens auch immer mehr das Gefühl, dass das Image, das Sky sich ausgesucht hatte – die schwarze Kleidung, die methodische Herangehensweise statt joie de vivre –, irgendwie Cavendishs natürlichen Elan und seine Lust auf Spektakuläres abwürgte. In einer Karriere, die vor Emotionen übersprudelt und vor Persönlichkeit strotzt, sind die letzten Monate auffällig ereignislos, ja fast belanglos gewesen. „Wann hat das letzte Mal irgendjemand über Cav geredet, außer wenn er einen Sprint gewonnen hat?“, fragte ein Freund. „Er sagt nie etwas. Er ist in diesem Jahr langweiliger als Miguel Indurain geworden.“ Da war es gut für Cav, auf der 18. Etappe in Brive und zwei Tage später auf der Champs Élysées zeigen zu können, dass sich auf den letzten 200 Metern unter den richtigen Bedingungen nicht viel geändert hat.
 

Dieser Text ist ein Auszug des großen Tour-Rückblicks in Procycling 09/12. Dort finden Sie zwanzig weitere Hintergrund-Artikel rund um das Rennen.



Cover Procycling Ausgabe 103

Den vollständingen Artikel finden Sie in Procycling Ausgabe 103.

Heft Bestellen