Ein Schritt zurück, zwei nach vorn

Warum sitzen die Profis in der Saisonpause lange Zeit nicht auf dem Rad, und wie gestalten sie ihr Wintertraining?

 

Drei Kontinente, 30.000 Kilometer, unzählige Hotels und seit Januar nur 30 Tage zu Hause. Wenn die Fahrer bei den letzten Rennen der Saison die Ziellinie überqueren, sind sie mental und körperlich erschöpft. Der Herbst ist da, und das anstrengende Leben in der WorldTour kann pausieren. Doch eine Karriere ist kurz und es dauert Monate, die Form aufzubauen, aber nur Wochen, um sie zu verlieren. Warum dann überhaupt eine Pause einlegen? In diesem Monat spricht Steve Cummings von BMC Racing über diese Auszeit, und Vincent Villerius, Sportwissenschaftler bei Cofidis, erklärt, wie man einen „Burnout“ vermeidet und die Leistungen kritisch bewertet, um die Erfolge zu verstehen. Wir stellen auch fest, dass nicht einmal die Profis genau wissen, wie sie ihr Wintertraining am besten organisieren und welche Optionen sie haben.
 
Neustarten, regenerieren, relaxen
Der Februar ist für den BMC-Fahrer Steve Cummings lange her. Nach einer anstrengenden Saison mit zwei großen Rundfahrten braucht er Ruhe für Körper, Geist und Seele: „Nach der Lombardei-Rundfahrt sehnen sich die erschöpften Fahrer nach einer Pause; nicht, weil sie nicht gerne Rennen fahren, sondern weil sie mental fertig sind. Jede Saison ist anders, aber in diesem Jahr bin ich erschöpft.“ Es ist bemerkenswert, dass die Fahrer das Bedürfnis nach einer Pause nach der Saison ebenso mit mentaler wie mit physischer Erschöpfung erklären. Vincent Villerius sieht das ähnlich: „Sie sind keine Maschinen – selbst die leidenschaftlichsten Fahrer sind froh, wenn sie im Oktober etwas anderes machen können. In der Pause können sie das machen, wozu sie in der Saison keine Zeit haben. Das hilft ihnen, den Rest des Jahres konzen-triert und diszipliniert zu bleiben. Die Form, die man in zwei Wochen verliert, ist nichts gegen das Problem, im Juni schon ausgebrannt zu sein.“
 
Es scheint, dass dank sorgfältiger Gestaltung der Trainingspläne und gewissenhafter Ernährung zwei Wochen Ruhe reichen, um sich körperlich zu regenerieren. Doch der Körper kann nicht isoliert betrachtet werden, und wie Villerius sagt, sind „die Rennen nur eine von mehreren Belastungen für einen Profi. Reisen, Privatleben und die Medien sind zusätzliche Stressfaktoren. Man muss bedenken, in welchem Kontext diese Rennen gefahren werden“. Nach ihrem zehntausende Kilometer langen Weg durch die Saison ist der Kopf ebenso vom Kampf gezeichnet wie der Körper. Alle Bereiche des Lebens für die Optimierung der Leistung und Regeneration zu öffnen, erfordert totale Hingabe. Der Prozess, der den Körper leistungsfähig hält, strapaziert den Kopf bis an die Grenze der Belastbarkeit. Die Mehrfachbelastung – Familie, Karriere, Training und Rennen unter einen Hut zu bringen – macht eine Pause unerlässlich. Wie Villerius sagt, ist „eine Woche Ruhe und dann abwechslungsreiches, lockeres Training“ die bessere Wahl. Mentale Frische und minimaler Verlust der Form sind bis November die einzigen Ziele.
 
Aus Erfahrung lernen
Auch während der Pause vom strukturierten Training gilt es, Lehren aus der Saison zu ziehen, denn sie sind der Ausgangspunkt für den Erfolg im nächsten Jahr. Viel zu viele Amateure werfen die Erkenntnisse der Saison mit der Verpackung der Energiegele weg. Nicht so die Profis. Fahrer und Trainer setzen sich kurz nach der Saison zusammen, um diese aus zwei ganz unterschiedlichen Blickwinkeln zu analysieren und zu verstehen. Cummings schaut zurück, um sicherzugehen, dass „die Resultate gut waren und ich meinen Job gemacht habe – ganz einfach“. Die Aufgabe eines Profis, sagt er, sei, den Plan umzusetzen, den die Trainer, Physiologen und Sportlichen Leiter aufgestellt haben. Auch die Trainer beschäftigen sich mehr mit der Form als mit den Ergebnissen, wie Villerius erklärt. „Ich schaue mir die Leistungsdaten von den Rennen noch einmal an, um zu kontrollieren, ob die Fahrer bei den Rennen, die sich zum Ziel gesetzt hatten, ihre beste Leistung brachten. Wenn sie zur richtigen Zeit in Bestform waren, habe ich meine Aufgabe erfüllt. Ob man gewinnt oder verliert, hängt vom Fahrer und vom Sportlichen Leiter ab“, so Villerius

Die höchste Leistung, die ein Fahrer über bestimmte Zeiträume produziert, normalerweise 20 Minuten oder zwei Minuten, entspricht seiner aeroben und anaeroben Kapazität. Der Schlüssel zu einer genauen Analyse besteht darin, die richtige Zahl auszuwählen und sie in den Kontext des Rennens zu setzen. „Eine Zahl für sich allein genommen sieht vielleicht nicht wie eine starke Leistung aus, aber wenn sie nach ein paar harten Renntagen oder am Ende einer Etappe bei 40 Grad produziert wurde, dann ist das in diesem Kontext vielleicht eine großartige Leistung. Du musst das Rennen aus den aufgezeichneten Wattzahlen ablesen und verstehen, wie diese Zahlen produziert wurden, nicht nur die Zahlen als solche sehen“, sagt der Cofidis-Coach. 

Die besten Ergebnisse eines Fahrers werden dann zu dem Training in Bezug gesetzt, mit dem diese Spitzen erreicht wurden. „Wir versuchen zu verstehen, wie der Fahrer diese Leistungen erzielt hat, aber jeder Fahrer reagiert anders auf die Trainingsbelastungen, also kann man keine generellen Schlüsse daraus ziehen“, sagt Villerius. Was man daraus lernen kann, ist, dass Personalisierung wichtig ist. Keine zwei Fahrer brauchen dasselbe Training, sondern jeder Fahrer sollte seine Saison bewerten, damit er für die Ziele in der nächsten Saison und den folgenden Jahren auf Kurs liegt.
 
Sobald klar ist, wo Verbesserungsbedarf besteht, besteht die Herausforderung für die Trainer und Fahrer darin, das Wintertraining optimal zu strukturieren. Es deutet vieles darauf hin, dass eine Variation der Intensität, des Volumens und der gesamten Trainingsbelastung im Laufe eines Jahres (eine Methode, die auch Periodisierung genannt wird) zu besseren Ergebnissen führt als ein Schema F, an das man sich das ganze Jahr hält. Trotzdem verlassen sich Radsportler bei der Planung ihrer Trainingsphasen immer noch auf Faustregeln, denn es fehlen wissenschaftliche Antworten, sogar auf grundlegende Fragen. Das Peloton spiegelt diese Unentschiedenheit wieder, und jede der drei bekannten Methoden für die Strukturierung des Trainings hat ihre Anhänger.

 

Moderne Traditionalisten
Steve Cummings erklärt, dass der Winter für ihn die Zeit ist, um eine solide Grundlage zu legen, wie es jeder Profi der Tradition zufolge tun sollte. Er hält sich dabei in den Wintermonaten an die Struktur des BMC-Sportdirektors Max Sciandri, eines früheren Bronzemedaillengewinners bei Olympia. „Es ist einfach, aber es funktioniert. Du machst durchgehend drei Einheiten pro Woche, die auf verschiedene Bereiche der grundlegenden Fitness aus-gerichtet sind, nicht nur die Grundlagen-Kilometer“, sagt Cummings, der überzeugt ist, dass „du, wenn du im Winter konsequent bist, beim Team-Trainingslager an der Schnelligkeit arbeiten kannst und dann bei Paris-Nizza keine Angst davor haben brauchst, über Stunden 300 Watt zu treten“.
 
Dieses Prinzip, gleichmäßig und langfristig an den Grundlagen von Ausdauer und Form zu arbeiten, bevor man die Intensität steigert, wenn die Saison näher rückt, nennt man lineare Periodisierung. Klar scheint aber zu sein, dass „Grundlage“ für die Profis keine gleichbleibende, nur aus Ausdauer-Kilometern bestehende Kost ist. Während die Vereine in einigen Ländern (vor allem Frankreich und Großbritannien) die Kultur haben, im Winter regelmäßig und mit moderatem Tempo zu fahren, sagt Cummings, dass die italienischen Amateure seine Methode übernehmen: „Sie sind den ganzen Winter im Fitnessstudio und machen strukturierte Sessions. In Großbritannien sind es bei den meisten Vereinen vor allem Grundlagen-Kilometer und Teepausen. Das gefällt mir durchaus, aber so gewinnt man keine Rennen.“ Cummings ist gut damit gefahren, im Winter die Grundlagen zu legen. Obwohl dies seit vielen Jahren die akzeptierte Praxis im Radsport ist, gibt es kaum wissenschaftliche Belege, dass es tatsächlich die beste Methode ist.

Ein Blick zurück
Ein alternativer Ansatz, mit dem Tim Kerrison beim Team Sky Erfolge erzielt hat, kommt seit Langem in explosiven, sprintbetonten Sportarten zum Einsatz. Auch Villerius setzt bei seinen Schützlingen auf diese Methode. Bei der sogenannten „umgekehrten Periodisierung“ arbeiten die Fahrer schon früh an Koordination, Technik und Kraft, bevor sie die Dauer der Belastungen ausdehnen. 

Die Cofidis-Fahrer unter den Fittichen von Villerius haben zwei- bis dreiwöchige Blocks mit zunehmender Dauer, in die gezielt intensive Belastungen eingestreut werden. „Im November machen die Jungs auf ihren Ausdauerfahrten mehr Sprints, um ihre Explosivität zu erhalten, ohne zu ermüden. Im Dezember lege ich den Schwerpunkt dann auf die Kraft und längere Belastungen, um auf der Sprintarbeit aufzubauen.“ Auf diese zwei Monate, in denen die Länge der Intervalle erhöht wird, folgen die Trainingslager des Teams, wo längere Kletterpartien und Ausdauerfahrten die Norm sind, bevor es in die ersten Rennen der Saison geht. Diese Methode widerspricht dem traditionellen Radtraining, aber die Cofidis-Fahrer „sind motivierter, weil die Fahrten im Winter durch die Intervalle kurzweiliger sind“, erklärt die Villerius.
 
Befürworter der umgekehrten Periodisierung glauben, dass die monatelange Wiederholung der Muskelaktivierungsmuster, die für das Treten hoher Wattzahlen kennzeichnend sind, dazu führt, dass die Fahrer diese Abläufe viel stärker verinnerlicht haben, als diejenigen, die erst in der letzten Vorbereitungsphase auf ein Rennen die nötige Kraft erreichen. Im Radsport macht Übung anscheinend wirklich den Meister. Die Gegner der umgekehrten Periodisierung wenden ein, dass hochintensive Belastungen dem Körper mehr schaden und das Verletzungsrisiko erhöhen, während die Fahrer dekonditioniert werden. In einer Sportart ohne Stoßeinwirkungen wie beim Radsport kann man diese Gefahr jedoch durch gründliches Aufwärmen und eine vorsichtige Herangehensweise an die ersten größeren Belastungen minimieren. Doch während Villerius die Erfolge analysiert, die er mit seinen Fahrern dank einer Form der umgekehrten Periodisierung erreicht hat, experimentieren andere offenbar schon mit einer anderen Art der langfristigen Strukturierung von Trainingsplänen.
 
Wechselnde Ansprüche
Die sogenannte „wellenförmige Periodisierung“ ist eine weitere Methode, die aus der Welt des Krafttrainings stammt, wo die wissenschaftliche Basis für den Vergleich und den Test von Periodisierungsstrategien viel stärker ist. Bei dieser Methode wird auf lange, konzentrierte Trainingsblocks verzichtet. Stattdessen wird dem Fahrer eine alle paar Tage wechselnde Kost aus unterschiedlichem Training verordnet, sodass der Körper permanent durch neue Reize auf Trab gehalten wird. Gerade die Interaktion von schnellen, kraftvollen Bewegungen (z. B. Bergab-Sprints) und langsamen Bewegungen (Klettern mit großer Übersetzung) ist der Schlüssel zur Wirksamkeit der wellenförmigen Periodisierung, sagen ihre Befürworter.
 
Indem man Körper und Kopf zwingt, sich auf ganz unterschiedliche Belastungen in kurzer Abfolge einzustellen, sind die Gewinne in jedem Bereich größer, als wenn man sie isoliert trainiert. Die meisten dieser Gewinne beruhen auf einer Verbesserung der Muskelkontrolle durch Gehirn und Nervensystem (neuronale Adaptation), die durch die rasch wechselnden Ansprüche des Trainings gefördert wird. Aber die Prozesse, die den aeroben Fitnessgewinn steuern, brauchen länger, um auf Training zu reagieren, als die neuronale Adaptation. Vorausgesetzt, dass das gesamte Trainingspensum über Wochen und Monate ausreichend ist, sollten Zuwächse der aeroben Kapazität, die grundlegend für den Erfolg im Radsport sind, beibehalten oder sogar verbessert werden, da stärkere Muskeln noch mehr Sauerstoff für die Kontraktion benötigen. Niemand, mit dem Procycling sprach, beschrieb die Anwendung von wellenförmiger Periodisierung, aber wenn man sich Fahrer-Interviews mit Bradley Wiggins aus dieser Saison noch einmal anschaut, sieht es so aus, als ob Tim Kerrison, ein Mann, dessen Erfolg auf umgekehrter Periodisierung basierte, die Grenzen wieder einmal neu ausreizt.
 
Bevor er die diesjährige Tour gewann, sagte Wiggins, die Methode des Teams sei, „zu versuchen, das ganze Jahr über bei 95,97 Prozent zu sein und konstant zu arbeiten. Es ist vielleicht nicht im traditionellen Radsport-Sinne, wonach man in schlechter Form in den Januar startet und dann immer mehr aufbaut“. Bei gnadenlosem Tempo bei Rennen, die gleichmäßig auf die Saison verteilt sind, und zwischen denen nur Wochen liegen, scheint das Team Sky dank marginaler Gewinne abermals in Neuland vorgedrungen zu sein.
 
Die Saisonpause und die Strategien, um die mentale Frische der Fahrer aufrechtzuerhalten, werden die der nächste Bereiche sein, in denen große Leistungsgewinne erzielt werden können – jetzt, wo wissenschaftliche Trainings- und Regenerationspläne die körperlichen Fähigkeiten der Fahrer so weit ausgebaut haben, dass der Kopf und die Motivation die schwächsten Glieder in der Kette sind. Die Profis konzentrieren sich im Winter nicht nur aufs Kilometersammeln, aber es gibt keinen Konsens über den idealen Trainingsplan. Vorerst bleibt es eine persönliche Entscheidung.
 
Wenn das Peloton zum Stillstand kommt und Cummings etwas Zeit für sich hat und „versucht, sich wie ein normaler Mensch zu fühlen“, sollten wir dasselbe machen. In diesem Monat sagt uns die Wissenschaft, dass wir eine Pause machen sollten.



Cover Procycling Ausgabe 106

Den vollständingen Artikel finden Sie in Procycling Ausgabe 106.

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