„Jungs aus Kilburn gewinnen keine Tour de France“

Was für eine Persönlichkeit muss man sein, um in einem glorreichen Sommer sowohl die Tour als auch das olympische Zeitfahren zu gewinnen? Extrovertiert und selbstbewusst? Überheblich gar? Vielleicht nicht. Für Bradley Wiggins,  einen selbsterklärten „Einzelgänger“ und „Eremiten“, ist der Umgang mit seinen beiden Siegen ebenso schwer, wie sie zu erringen waren.

 

Nicht zum ersten Mal in zwei ineinandergreifenden Karrieren genoss Mark Cavendish die Aufmerksamkeit, während Bradley Wiggins sich in einem Rampenlicht drehte und wand, das er nie suchte, dem er aber auf dem Weg zu sportlichem Ruhm nicht entgehen konnte. „Ich bin so stolz. Danke“, stammelte Cavendish, Straßenweltmeister und soeben von der britischen Rundfunk-anstalt BBC zum Sportler des Jahres 2011 gekürt. Wiggins beobachtete seinen alten Freund, den angenommenen jüngeren Bruder, und lächelte. Aber innerlich sah er seinen künftigen Sky-Teamkollegen dort stehen und spürte, wie ihm ein kalter Schauer über den Rücken lief. Am selben Tag hatte der renommierte britische Filmemacher John Dower das Haus der Familie Wiggins in Lancashire aufgesucht, um Pläne für einen Dokumentarfilm über Wiggins’ Angriff auf die Tour und das olympische Gold zu machen. Als Wiggins ihm sagte, er hoffe, beides zu gewinnen, nickte Dower. Insgeheim gab er Wiggins keine Chance. Nun, wo die britische Öffentlichkeit über die erfolgreichste Saison eines einheimischen Fahrers jubelte, plagten Wiggins dieselben Zweifel: „Was ist, wenn alles schiefgeht?“; „Was ist, wenn ich wieder stürze, wie im letzten Jahr?“; „Tour und Olympia? Unmöglich.“ Die Gedanken kamen und ließen sich nicht vertreiben. Am nächsten Tag rief er seinen Agenten Jonathan Marks an uns sagte ihm: „Scheiß drauf. Nein. Ich mache diesen Film nicht.“ Ausnahmsweise einmal war das nicht der schüchterne oder ausweichende oder hilflose Bradley. Das war ein Bradley Wiggins, der Angst hatte. 

Elf Monate später sitzen Bradley Wiggins und John Dower auf einer Bühne im Millbank Media Centre im Londoner Stadtteil Westminster und beantworten Fragen über Bradley Wiggins, den Film und den Mann. Ja, Wiggins änderte seine Meinung doch noch und Dower drehte seinen Film. Und der Rest, Tour und Olympia – nicht zu vergessen Paris-Nizza, Romandie und Dauphiné – ist Radsportgeschichte, brillant eingefangen von Dower und seinen Kameraleuten. Es gibt ein Problem: Wiggins fühlt sich jetzt, wo er es wieder durchlebt, noch unwohler als bei der Wahl der Sportler des Jahres. „Es war harte Arbeit, das zu sehen [den Film]. Okay, es ist eine Anerkennung einiger großer Leistungen, aber es ist trotzdem sehr hart“, verzieht er das Gesicht. Auf die Frage,warum, kommt eine interessante Antwort: „Na ja, es ist ein Film über Bradley Wiggins“, sagt Wiggins und zögert. „Und ich weiß nicht genau, wer er ist.“ Dower wird in ein paar Minuten sagen, genau das habe an Wiggins gereizt. Er hätte einen Film über Mark Cavendish machen können und wurde vor zwei Jahren sogar von dessen damaligem Manager angesprochen, aber er macht jetzt den Eindruck, dass der Fahrer von der Isle of Man vielleicht zu greifbar, zu offensichtlich gewesen sei. Es gab kein Cavendish-Rätsel. Wiggins hingegen, Wiggins … Dower war von ihm fasziniert, seit er bei der Tour 2010 nach einer weiteren mittelmäßigen Vorstellung vom Rad stieg und die Maske fallen ließ. „Ich bin am Arsch“, keuchte er. Anschließend nannte Wiggins seinen vierten Platz im Vorjahr, der hohe Erwartungen geweckt und die an Garmin zu zahlende Ablöse verteuert hatte, einen „Glückstreffer“.

Wiggins gibt in dem Film zu, sein Umfeld während der Vorbereitung auf die Tour 2010 „manipuliert“ zu haben. Sein Trainer, Mentor und Ersatzvater, Shane Sutton, drückt es weniger diplomatisch aus. „Das Team, das uns umgab, hat uns die ganze Zeit verarscht. ‚Oh, er ist gerade auf einem Berg in Girona persönliche Bestzeit gefahren. Er ist besser als er je war.‘ Besser als er je war? Dass ich nicht lache. Als er zur Tour kam, war er so was von unfit …“ Der springende Punkt ist, dass all das Wiggins in Dowers Augen zu hervorragendem Rohmaterial machte. Der Film zieht seine zwei Masken weg: die des ex-trovertierten Introvertierten, der sich in Umgebungen wie der des heutigen Abends wohlzufühlen scheint, mit einem Drink in der Hand und Witze machend, und darunter die des selbsterklärten „Eremiten“ oder „Einzelgängers, der immer abdriftete“. Das sind die beiden öffentlichen Gesichter von Bradley Wiggins. Auch privat ist er eine wandelnde Dichotomie. Seine Ehefrau Catherine sagt: „Mein Ehemann ist brillant. Er ist gut, rücksichtsvoll, geduldig, liebenswürdig, ein toller Vater und verständnisvoll. Er ist wirklich gut. Ich wünschte, ich könnte ihn die ganze Zeit haben, aber ich kann ihn nicht die ganze Zeit haben, weil – weil es diesen Radrennfahrer gibt, und er ist, na ja … Darf ich fluchen?“ Ihr Gesichtsausdruck legt nahe, dass sie, wenn ihr das Fluchen untersagt wird, ihre Meinung nicht ausdrücken kann. Sie schaut vorsichtig, fast um Entschuldigung bittend in die Kamera. „Er ist ein Scheißkerl, ja wirklich.“

Niemand kennt Wiggins besser als seine Frau. Sie hat sicher Recht, wenn sie sagt, Bradley Wiggins, der Rennfahrer, sei „egoistisch“ und nehme auf nichts Rücksicht, „egal, ob es die Geburt eines Kindes oder ein Umzug ist, oder dass ich krank bin“. Die meisten Athleten sind so, und Wiggins kann absolut zielstrebig sein. Aber mit seiner Entschlossenheit, auf einige der Allüren zu verzichten, die gleichbedeutend sind mit Ruhm, mit seinem Wunsch, ein Anti-Star des Sports zu bleiben, hat Wiggins eine britische Öffentlichkeit für sich eingenommen, die nichts anderes kennt als Fußball-Primadonnen. Da ist der Unterschied. Dabei fiel seine berufliche Erfüllung mit einer herausfordernden Phase im Privatleben von Wiggins, dem Einzelgänger und Eremiten, zusammen. Wir haben von den Fans gehört, die Catherine bitten, einen Schritt beiseite zu gehen und ein Foto von Bradley und ihnen zu machen. Auch Sir Chris Hoy erlitt diese Schmach, als die beiden im olympischen Dorf abends zusammen essen gingen. Wir haben gehört, dass er sich seine Koteletten abrasierte, um nicht erkannt zu werden, „weil es verrückt wurde“. Wir und Wiggins wissen jetzt auch ganz genau, dass sein höherer Status auch eine verschärfte Beobachtung durch die Medien mit sich bringt. So berichtete die „Daily Mail“ im Oktober, dass Wiggins in ein „missbräuchliches“ Steuersparmodell auf den Cayman Islands investiert habe. Wiggins hat sein Geld „mit sofortiger Wirkung“ aus der fraglichen Firma, Twofold First Services, abgezogen. Und zwar offenbar, bevor er seine Investition steuerlich absetzen konnte.

Das erinnerte Wiggins zumindest daran, dass das Gelbe Trikot nicht nur Privilegien, sondern auch Verantwortung mit sich bringt. Bei jedem öffentlichen Auftritt in diesem Herbst oder Winter fragte ihn jemand nach seiner Meinung zu Lance Armstrong. Es ist ein Thema, das er „verdammt nochmal hasst“, um das er aber als Aushängeschild und De-facto-Sprecher seiner Sportart nicht umhinkommt. Glücklicherweise hat er seit der Tour auch eine wertvolle Lektion gelernt: Wenn Wiggins er selbst ist und sagt, was er denkt, werden ein Großteil der Öffentlichkeit und die Presse seine Verärgerung verstehen. Und für die anderen, „die Leute auf Twitter“, die Wiggins während der Tour als „Schwachköpfe“ bezeichnete, hatte David Millar diese Botschaft in einem Interview mit dem Guardian im November: „Warum zum Teufel sollte Brad zartfühlend mit den Kritikern umgehen? Er hat fast während seiner ganzen Karriere geglaubt, dass der Sieg bei der Tour de France ein Traum ist, der nie in Erfüllung geht, weil man dazu dopen muss. Und dann hat sich der Sport in den letzten vier Jahren geändert. Er ist da, wo er jetzt ist, weil er hart gearbeitet und Opfer gebracht hat. Und wenn er die Tour gewinnt und die Leute an ihm zweifeln? Kein Wunder, dass er sich aufregt. Er denkt sich: ,Ihr Penner, ihr habt nicht so hart gearbeitet wie ich. Wie könnt ihr es wagen, mit euren Handys im Café herumzusitzen und mich zu kritisieren?‘ Brad hatte jedes Recht, verbal auszuteilen. Es ist normal, dass ein sauberer Fahrer das macht. Ich bin anders. Ich habe Fehler gemacht. Ich habe gedopt. Ich habe betrogen. Ich habe die Pflicht, etwas zu sagen und transparent zu sein. Aber ich glaube nicht, dass die sauberen Jungs diese Pflicht haben.“
 
Ende Oktober reagierte Wiggins auf die Erwähnung des „D-Worts“ eher mit einem tiefen Seufzer als mit einem Schwall von Schimpfwörtern. In John Dowers Film erklärt Michael Barry, Wiggins sei nicht der charismatische Kapitän bei Sky, der Armstrong bei US Postal war. Wiggins gibt ihm Recht – aber er findet den Vergleich unklug, vielleicht doppelt unklug angesichts der Dopingbeichte, die Barry vor Kurzem abgelegt hat. „Das ist alles gut und schön – diese Geschichten, dass Lance im Mannschaftsbus aufsteht und in die Sitze boxt und sagt, ich mache dies, ich mache jenes –, wenn du zehn Liter Blut im Körper hast. Aber ich bin nur ein normaler Typ und mache, was ich mache, und das ist mir nicht in den Schoß gefallen.“ Auch wenn ihm das Thema nicht gefällt, ist seine Verärgerung stärker als seine Abneigung, darüber zu reden. „Meine Familie ist nicht der einzige Grund, warum ich nicht dopen würde. Es ist alles“, fährt er fort. „Ich sitze jetzt auf dieser Bühne mit Anzug und Hosenträgern vor all diesen Leuten, und das, wo-rauf ich immer wieder zurückkomme, und was Christian Prudhomme immer sagt, ist, dass du das Gelbe Trikot verdienen musst. Und ich glaube, dass ich es verdient habe, durch harte Arbeit, Hingabe und Aufopferung. Und das ist eine Aufopferung, für die meine Familie bezahlt. Ich würde jetzt nicht auf dieser Bühne sitzen oder einen Film über mich drehen lassen, wenn mich das in zehn Jahren einholen und mir in den Hintern beißen würde. Ich bin sehr, sehr, sehr stolz darauf. Nachher gehe ich zu den ,Pride of Britain Awards‘ und muss eine Auszeichnung von Prinz Charles entgegennehmen. Und ich als schüchterner, selbsterklärter Eremit – würde ich mir das alles antun, wenn mir das alles in den Hintern beißen würde? Ich habe ein Tattoo auf der Innenseite meines Arms mit dem Datum, an dem ich die Tour gewonnen habe. Das habe ich, bis ich sterbe, und ich bin sehr stolz darauf.“

Er hält inne. „Der Radsport ist in diesen letzten beiden Wochen auf den Kopf gestellt worden, aber das [der Toursieg] ist nicht auf Sand gebaut, und ich bin sehr stolz darauf.“ Derselbe Stolz, das spürt man, hat Wiggins vor der Art Krise bewahrt, die andere Tour-Sieger ereilt hat – man denke an Jan Ullrich und den Schokoladenkuchen seiner Mutter im Winter 1997/98 –, und die Wiggins selbst nach Olympia 2004 durchlebt hat. Bei einer Sky-Fete im Oktober in London scherzt er, dass er seit den Olympischen Spielen „angetrunken“ sei. Aber es ist eben nur das – ein Scherz, die Art von Witzen, die Wiggins immer anbringt, um sich selbst und andere Leute aufzulockern. An jenem Abend gab es für ihn alkoholfreie Getränke. Ähnlich hat er während der Tour den Druck zu mindern versucht, indem er sich und andere daran erinnerte, dass es „nur ein Radrennen ist“ und „nicht die Realität“, obwohl diese Realität die Achse ist, um die sich alle Träume seit seiner Kindheit gedreht haben. „Die Tour de France ist immer noch nicht richtig bei mir angekommen. Ich bin so ein Fan dieses Sports, dass ich mir nie hätte träumen lassen, ich würde sie eines Tages gewinnen“, erinnert er uns jetzt.

 

Vielleicht ist es derselbe Unglaube oder die Erinnerung daran, wo er vor ein paar Jahren noch stand, die Wiggins so zurückhaltend sein lassen, was seine Titelverteidigung angeht. Er hält nichts für selbstverständlich, fühlt sich nicht weniger zerbrechlich als vor einem Jahr, als er – aus Angst vor einem Desaster – aus Dowers Film raus wollte. Oder vielleicht ist es, wie er sagt, einfach so, dass er mit 32 erkennt, noch viel erreichen zu wollen, aber nicht mehr viel Zeit dazu hat. „Von jetzt an geht es darum, andere Ziele zu erreichen. Dinge, die mir ans Herz gewachsen sind, wie Paris-Roubaix, der Giro d’Italia …“, sagt er. Erst nach einer Pause fügt er an: „Vielleicht gewinne ich die Tour ja noch mal …“ „Aber das sind Dinge, die ich machen will, nicht nur, weil es Tradition ist“, sagt er weiter. „Warum ist es Tradition? Wer sagt das? Lance Armstrong? Wir haben ja gesehen, was mit ihm passiert ist. Das heißt, wir müssen keine sieben Frankreich-Rundfahrten gewinnen, das wissen wir. Denn so, wie es heute aussieht, habe ich mehr Frankreich-Rundfahrten gewonnen als Lance Armstrong …“ Wiggins lächelt. „Also fängst du noch mal von vorn an und denkst darüber nach, was dich wirklich motiviert. Ich würde gerne den Giro d’Italia gewinnen. Für mich ist er sportlich auf demselben Niveau wie die Tour de France. Ich hatte das Glück, das Rosa Trikot zu tragen [er gewann 2010 den Prolog], aber ich möchte wirklich die Gesamtwertung gewinnen. Dann würden die Leute in Zukunft sagen: ‚Na ja, er war ein beschissener Kletterer, aber er hat die Tour de France und den Giro d’Italia gewonnen und er war Verfolgungs-Olympiasieger und Olympiasieger im Zeitfahren‘. Ich würde auch gerne Paris-Roubaix gewinnen. Dann vielleicht wieder bei der Tour antreten und sie eines Tages noch mal gewinnen. Aber wir werden sehen.“

Eine weitere Entschuldigung dafür, einen zweiten Toursieg nicht zur Priorität zu erklären, ist, dass das Team Sky mit dem Zweitplatzierten von 2012, Chris Froome, eine echte Alternative hat. Er ist vielleicht der einzige Fahrer, der Alberto Contador bei seinem Tour-Comeback wirklich gefährlich werden kann. Privat hat der Spanier gesagt, dass er zu Beginn der Vuelta vor allem deswegen so aggressiv fuhr, weil er Froomes Qualitäten in den Bergen fürchtete. Wie sich herausstellte, war der Brite noch erschöpft von der Tour und verlor schnell Zeit. Contadors Einschätzung hat sich nicht geändert: Der Spanier respektiert Wiggins, hält Froome aber in den Bergen und im Flachen für gefährlicher.
Könnte es einen anderen Grund geben, warum Sky Wiggins zum Giro entsendet? Zum Beispiel latente Spannungen in seinem Verhältnis zu Froome? Wiggins versicherte uns im Juli, dass das „kein Thema“ sei, aber die vielen Hinweise, die aus dem Sky-Lager nach außen dringen, deuten auf das Gegenteil hin. Sei es die Behauptung, Wiggins habe Wochen gebraucht, um sich förmlich bei den Sky-Fahrern und -Mitarbeitern für ihre Unterstützung bei seinem Toursieg zu bedanken („Ich wusste einfach nicht, wie ich mich bei ihnen bedanken sollte“, sagte er) oder die Bezeichnung von Froome als „taktisch naiv“ in Wiggins’ neuem Buch My Time – man hat den Eindruck, dass die beiden keine natürlichen Partner sind. Bei einer Veranstaltung in Belgien, als die Vuelta fast zwei Wochen im Gange war, fragten Journalisten Wiggins, was er von Froomes Leistung halte. Er sagte: „Ist Chris Froome noch bei der Vuelta?“ Auch das war ein Scherz, der aber nicht nur für Erheiterung, sondern auch für Stirnrunzeln sorgte.
 
Wenn es nun der Giro für Wiggins sein soll, was hätte er dort zu erwarten? Sicher ein Rennen, das anders ist als die diesjährige Tour, mit sieben echten Bergankünften (bei der Tour 2012 waren es drei) plus einem Bergzeitfahren. Das könnte man als schlechte Nachricht auslegen. Die gute ist, dass ein Fahrer, der ihm sehr ähnlich ist, Ryder Hesjedal, im vergangenen Jahr auf einem ähnlichen Kurs gewonnen hat. Ohne Hesjedals Leistung schmälern zu wollen, besteht auch kein Zweifel, dass die qualitative Kluft der Teilnehmer zwischen dem Giro und der Tour in den letzten Jahren gewachsen ist. Und um auf den Kurs zurückzukommen, so werden Wiggins’ Augen geleuchtet haben, als er feststellte, dass die erste Woche mit einem 55 km langen Zeitfahren endet. Seine potenziellen Rivalen sind sich einig: Wenn er am 4. Mai in Neapel an den Start geht, wird Wiggins der Favorit sein. Vincenzo Nibali glaubt: „Wenn es derselbe Wiggins ist, den wir dieses Jahr in Frankreich erlebt haben, wird er der Favorit sein. Aber“, schränkt Nibali ein, „die Berge in Italien sind schwerer und ich halte mich nicht für einen schwächeren Kletterer als ihn“. Ivan Basso sieht das ähnlich: „Das 55 Kilometer lange Zeitfahren begünstigt ihn, selbst wenn es nicht unbedingt etwas für Spezialisten ist. Um ihn zu schlagen, müssen wir improvisieren und taktisch aggressiv sein.“ Renndirektor Michele Acquarone hat Wiggins – wenig überraschend – ermutigt, sich für den Giro zu entscheiden. „Ich freue mich sehr, dass Wiggins zum Giro kommen und um das Rosa Trikot kämpfen will“, sagt Acquarone. „Für einen Champion wie ihn ist es besser, eine Tour und einen Giro zu gewinnen als zwei Frankreich-Rundfahrten. Es würde ihm einen kompletteren und prestigeträchtigeren Palmarès geben.“

So oder so hat sich Wiggins die Zeit in diesem Winter verdient, um sein magisches Jahr auszukosten. Wenn es wieder so weit ist, dass die BBC den britischen Sportler des Jahres wählt, werden seine Errungenschaften an denen von Mo Farah und Jessica Ennis bei den Olympischen Spielen und denen von Andy Murray bei den Spielen und den US Open gemessen werden, aber auf den Radsport bezogen können wir schon sagen, dass sein „annus mirabilis“ keinen Vergleich zu scheuen braucht. Besser als Eddy Merckx’ Giro-Tour-WM-Triple 1974 oder Stephen Roches gleiche Ausbeute im Jahr 1987? Schwer zu sagen. Aber das ist die Gesellschaft, in der sich Wiggins und seine Siegesserie 2012 befinden, von Paris-Nizza zu Olympia via Romandie, Dauphiné und Tour. Selbst wenn er nie wieder siegt, so steht er als dreifacher Bahn-Olympiasieger und Gewinner des größten Straßenrennens alleine da. In Diskussionen über den größten Radsportler aller Zeiten, wo Vielseitigkeit eines der Kriterien ist, wird Wiggins’ Name erwähnt werden. Trotz alledem ist Wiggins aber entschlossen, „einfach ein normaler Typ“ zu bleiben, die Art von Typ, die beim Training im Nordwesten Englands von einem weißen Lieferwagen angefahren wird. Der kleine Zwischenfall im November war nicht unbedingt Teil des Plans, aber er passte irgendwie in die Erzählung. „Jungs aus Kilburn gewinnen keine Tour de France“, sagt Wiggins in Dowers Film, im coolen „Fred Perry“-Hemd neben seinem Gartenhäuschen sitzend. „Als ich als Junge die Zeitschriften las, musste man aus exotischen Ländern kommen, um die Tour zu gewinnen, Italien oder Nizza oder so was …“ Nun, Bradley, jetzt nicht mehr. Dank dir braucht man das nicht mehr. 



Cover Procycling Ausgabe 107

Den vollständingen Artikel finden Sie in Procycling Ausgabe 107.

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