Bradley Wiggins

Mit dem Support von Team Sky und einem Tour-de-France-Sieg ist der Giro ein logischer Schritt. Doch frühere Giros haben Wiggins gelehrt, vorsichtig zu sein.

 

Der Anstieg von Fiera de Primiero nach San Martino di Castrozza ist nach Dolomiten-Maßstäben nicht schwierig, war aber hart genug, um im Mai 2009 eine Erleuchtung herbeizuführen. Dies war nicht die erste oder die bedeutendste Entdeckung auf der Straße Richtung Norden unter den imposanten Spitzen der Pale di Martino: Im Jahr 1937 war der Giro erstmals durch die Dolomiten verlaufen und hatte damit eine neue Dimension gewonnen. Zweiundsiebzig Jahre später könnte man das Gleiche von Bradley Wiggins sagen. Die Ergebnislisten belegen, dass der Engländer die vierte Etappe des Giro 2009 auf einem achtbaren, aber unauffälligen 35. Platz, 17 Sekunden hinter Lance Armstrong, beendet hatte. Doch nicht das Klassement, sondern das, was in Wiggins Kopf und seinen Beinen passiert war, veränderte wirklich seine Einstellung. Am nächsten Tag lieferte er eine noch bessere Leistung auf dem harten Anstieg zur Alpe di Siusi ab und schlug Armstrong um über eine Minute.
Die Welt bemerkte das kaum, aber in Wiggins schrie eine Stimme „Heureka!“. „Es war das erste Mal, dass mir bewusst wurde, dass ich wirklich klettern kann. Niemand hätte das erwartet. Von da an hatte ich die Zuversicht dranzubleiben und wurde schließlich Vierter bei der Tour. Oder Dritter, wie sich herausstellte. Wer weiß, vielleicht hätte ich sogar der Gewinner dieser Tour sein können …“

Bei allen Späßen über Lance Armstrongs anschließende Missgeschicke war es ein weiter Weg von Wiggins’ drei vorherigen Starts beim Giro. Bei seinem Debüt im Jahr 2003 war er ein grüner, 23 Jahre alter Bahnfahrer und nur nebenbei bei La Française des Jeux auf der Straße. Er schaffte es durch eine eisige 18. Etappe in den Piemonteser Alpen, bei der er als einer von 34 Fahrern außerhalb des Zeitlimits einlief – mit weiteren fünf, die aufgaben.
Der Engländer sagt heute, dass es ein rauer Einstieg in die großen Rundfahrten war. „Ja, das war meine erste große Tour und das Schlechteste, was ich je gemacht habe“, erinnerte er sich früher in diesem Jahr. „Pantani ist gefahren, Cipollini war im Weltmeister-Trikot unterwegs. Solange Cipollini da war, war alles okay; immer, wenn das Rennen schnell wurde, kam er noch vorn und brachte alle anderen dazu, langsamer zu fahren, besonders bergauf. Dann aber stürzte er und musste nach Hause, und die Hölle brach los  …“

Die nächsten zwei Giro-Auftritte von Wiggins waren nicht viel ermutigender. Im Jahr 2005, jetzt für Crédit Agricole fahrend, kam er als 123. ins Ziel, drei Jahre später landete er als Teil von Mark Cavendishs Sprintzug bei Highroad auf einem noch bescheideneren 134. Rang. Dann kam das Jahr 2009 mit seiner Erweckung sowie der Prologsieg und ein Tag in Rosa im Jahr 2010. Und jetzt das … Siegerträume im Jahr 2013.
„Es ging um eine neue Herausforderung, ein neues Feuer“, sagt er. „Ich habe mich so lange auf die Tour fokussiert. Es ging immer darum, eine Tour de France zu gewinnen. Als mir das dann gelang, war die Frage: Was nun? Ich wollte nicht einfach weitermachen und wieder nur die Tour anpeilen, also dachte ich über die Herausforderung nach, erst den Giro zu fahren und dann die Tour. Das inspirierte mich. Aber ich musste intensiv nachdenken. Und ich musste zunächst auf die Präsentation des Kurses warten, um zu wissen, wie meine Chancen stehen würden. Ich weiß, dass es hart werden wird“, fährt er fort. „Es ist nichts, das ich für selbstverständlich halte. Es ist eine große, große Herausforderung, wahrscheinlich größer als die Tour de France. Die Anstiege sind härter als bei der Tour, und einige der Fahrer, die sich auf den Giro konzentrieren, wie Vincenzo Nibali, sind wahrscheinlich besser vorbereitet und motivierter, als sie es bei der Tour sind. Es wird also sehr, sehr schwer. Aber genau das bringt die Motivation, sich mit voller Kraft in die Arbeit zu stürzen.“
 
Es gibt wenig Zweifel, dass Wiggins die Knochenarbeit hineinstecken wird, die nötig ist, um zumindest mithalten zu können. Nach der Tour und der Ehrenrunde durch Preisverleihungen, Gala-Dinners und Paul-Weller-Konzerte gab es immer die Gefahr, dass er die Konzentration verlieren könnte. Aber Wiggins und Sky kamen dem zuvor und vermieden dies alles, indem sie fast den ganzen Winter auf Mallorca verbrachten. Ein großer Teil seines Frühjahrstrainings fand in der Höhe auf Teneriffa statt, genauso wie er es vor der letztjährigen Tour getan hat. Und wir wissen, was dort passierte.
Die Erkundung der Schlüsseletappen – die Zeitfahren, die alpinen Ungetüme auf dem Weg nach Bardonecchia, der Galibierpass und das Martelltal sowie der Dolomiten-Ritt zu den Drei Zinnen – war bereits vorgemerkt worden, wird aber davon abhängen, wie schnell der Schnee schmilzt. Ob sie es durchziehen oder nicht, Wiggins’ Coach, Tim Kerrison, wird genau das simulieren, was sein Schützling tun muss und wie seine Rivalen bei ihren Trainings-Sessions fahren werden. Sie werden wissen oder zumindest eine Vorstellung davon haben, ob das reichen wird – nicht am 26. Mai in Brescia, sondern drei Wochen vorher, wenn das Rennen in Napoli beginnt. Es wird dann zehn Jahre her sein, seit Wiggins zu seinem ersten Giro antrat, und vier seit dem erfolgreichen Wendepunkt seiner Karriere auf den Anstiegen nach San Martino di Castrozza und Alpe di Siusi. Es wird eine jahrzehntelange Reise gewesen sein, wenn er am letzten Tag des Giro die maglia rosa trägt.
  
Weitergehende Hintergrundberichte zu den anderen Giro-Favoriten finden Sie in der aktuellen Ausgabe von Procycling.



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