Der schnelle Vincenzo und seine Freunde

Der Giro 2013 war die Weihe eines Weltklasse-Rundfahrers. Vincenzo Nibali trotzte apokalyptischem Wetter, einem brutalen Kurs und dem besten Feld seit über 20 Jahren. Während die Konkurrenten enttäuschten, bot er die perfekteste Vorstellung seit einem Jahr-zehnt. Obwohl Nibalis Astana-Team von Kasachstan finanziert wird, ist sein Sieg auf italienischem Boden gewachsen. Mithilfe seiner besten Landsleute will er nächsten Juli Chris Froomes Sky-Team angreifen.

 

Kurz vor dem Ende von Tirreno – Adriatico 2013 schien sich ein vertrautes Muster zu wiederholen. Als es in die vorletzte Etappe ging, führte der designierte Tour de France-Sieger Chris Froome das Rennen an, ganz nach dem Plan des Team Sky. Mit seiner scheinbar unangreifbaren Armada schien er auf bestem Wege zu sein, die zweitgrößte italienische Rundfahrt in seinen wachsenden Palmarès einzutragen. Dann passierte auf der 6. Etappe bei strömendem Regen in der Region Marche das Undenkbare: Auf der fürchterlich steilen Muro di Sant’Elpidio wagte es der Emporkömmling Astana, die Verteidigung von Sky in die Mangel zu nehmen. Als sie ausgeschaltet und Froome isoliert war, schlug Vincenzo Nibali zu. Im Tal sicherte er sich die Hilfe von Peter Sagan und Joaquim Rodríguez – eine kleine, aber perfekt geformte Koalition der Willigen. Als sie in Richtung Ziel stürmten, ging der modus operandi von Sky, bisher bei Etappenrennen unangreifbar, nicht mehr auf. Froome hing am seidenen Faden – und Nibali versetzte ihm den Gnadenstoß. Als Froome über die Linie rollte, hatte er 50 Sekunden und damit das Blaue Trikot des Spitzenreiters verloren.

Nibalis Mut, gepaart mit seinem Scharfsinn und dem freibeuterischen Geist seiner Mitstreiter, ließ die makellose Frühjahrsoffensive von Sky nicht nur Schiffbruch erleiden, sondern bewies auch, dass die Engländer schlagbar sind. Die neuen Imperialisten des Radsports des 21. Jahrhundert waren – wenn auch nur vorübergehend – eliminiert worden vom alten Europa, das gutes altes Radsport-Know-how einsetzte. Vier Monate und einen fabelhaften Giro d’Italia später hat Procycling kurz vor der Tour de Pologne eine abendliche Verabredung mit einem gewissen Vincenzo Nibali, sich aber erlaubt, drei seiner treuesten gregari mit zum Interview zu bitten. Alessandro Vanotti, Valerio Agnoli und Paolo Tiralongo haben nicht unbedingt das Profil rivalisierender Super-Domestiken wie Richie Porte, aber wie wichtig sie für Nibali sind, kann man nicht überbetonen. Agnoli und Vanotti waren Teil des Pakets, das ihn nach einer Karriere im Schoß von Liquigas-Cannondale zu Astana führte, während Tiralongo seit mehr als zehn Jahren einer der Besten in der Branche ist. Für die vier sind Rundfahrten wie die Tour de Pologne Wegweiser, Sprungbretter zum größten aller Rennen. Nibali hat die Tour de France 2014 ins Visier genommen, weswegen Tirreno für sie alle so wichtig war.

Auf den ersten Blick mag es wie viel Lärm um nichts wirken. Alle wissen, dass Tirreno für sich genommen nur ein Baustein in der großen Pyramide des Radsports ist. Für die meisten ist es nur ein Vorbereitungsrennen (wenn auch ein wichtiges) für Mailand – San Remo, also hatte Froome seinen Blick auf ein viel höheres Ziel geheftet. Warum reden wir dann rund vier Monate später wieder darüber? Der Punkt ist, dass es selbstverständlich zur Sky-Methodologie gehört, dass jedes Etappenrennen gefahren wird, um es zu gewinnen. Sich geschlagen zu geben, kommt für sie nicht infrage, und seit zwei Jahren grenzt die Vorrangstellung des Teams an Alleinherrschaft. Indem Nibali & Co. Froome bei Tirreno – und anschließend Wiggins beim Giro d’Italia – ihre Grenzen aufzeigten, nahm Astana den Kampf auf und setzte sich durch. Damit bewiesen sie nicht nur sich selbst, dass es machbar ist, sondern noch mehr: Gerade Tirreno lieferte einen zwingenden Beweis, dass Gespür und Kreativität – gepaart mit außerordentlichem Talent – immer noch gegen sture „Performance“ ankommt; dass inmitten von Wissenschaft und Zahlenverarbeitung immer noch Platz für Improvisation ist. Und für ein bisschen Magie.

Valerio Agnoli stammt aus dem Latium, aus einem Ort südlich von Rom. Er war ein erfolgreicher Junior, aber von seinem Charakter und Temperament her ist er der typische Gregario. Von Natur aus altruistisch, möchte er gefallen und gemocht werden. Er ist der geborene Joker und sein grenzenloser Enthusiasmus ein wesentliches Element des Ganzen. Es ist selbstverständlich, dass dreiwöchige Rundfahrten dem Körper und mithin der Moral extrem viel abverlangen. Für große Stars wie Nibali ist der Erfolgsdruck groß, und in dieser Hinsicht ist Agnoli der ideale Gegenpart. Man kann es vielleicht nicht wissenschaftlich messen, aber seine lockere Art ist der perfekte Kontrapunkt zu Nibalis natürlicher Zurückhaltung. Über Agnolis Frau lernte Nibali Rachele kennen, die er vor Kurzem heiratete, und es ist klar, dass die beiden Teamkollegen beste Freunde sind. Im Wesentlichen ist Agnoli ein Domestike der alten Schule, der ganz in seiner Arbeit aufgeht und absolut loyal zu seinem Kapitän ist. Außerdem ist er klug genug zu wissen, dass sein Team als Gruppe steht oder fällt. Er ist überzeugt davon, dass ihr Erfolg nicht auf ihren SRM-Wattmessgeräten, sondern auf der Idee des Kollektivs beruht.„Die Attacke bei Tirreno war nicht geplant. Wir mussten uns etwas einfallen lassen und wussten instinktiv, dass es der richtige Moment war. Dazu brauchten wir keinen Funkverkehr und keine Anweisungen von unserem Sportlichen Leiter. Wir sind Freunde und Kollegen, also wissen wir, was der andere denkt und wie er sich fühlt. Wir sind Radprofis – unser Job ist, ein Radrennen interpretieren zu können. Für mich geht es im Radsport darum, in der Hitze des Gefechts Entscheidungen zu treffen. Wir sind keine Roboter.“Es war viel die Rede von Technologie im modernen Radsport, von VAM (mittleren Steigungsgeschwindigkeiten) und der heutigen Fixierung auf Wattzahlen. Nibali ist nicht so verblendet, gegen den Strom schwimmen zu wollen, doch er wehrt sich gegen die Idee, dass sich der Radsport auf einen mathematischen Algorithmus reduzieren lässt: „Es spielt eine Rolle und ist bestimmt eine gute Trainingshilfe. Aber letztlich ist es nur eine von mehreren Komponenten. SRM-Daten können nützlich sein, aber sie können einem Fahrer nicht sagen, wie er sich fühlt oder wie es sich auf seine Moral auswirkt, wenn er hinter der nächsten Kurve mit einer 15 Prozent steilen Mauer konfrontiert ist. Es bezieht die Variablen nicht ein und der Radsport ist voller Variablen. Wiggins’ Giro wäre ein Beispiel. Er war für alle der Favorit, aber er stellte fest, dass es extrem schwer ist, den Giro zu gewinnen. Allein in der ersten Woche hatte er mit Verletzungen, schrecklichem Wetter, brutalen Anstiegen, technisch schweren Abfahrten, mechanischen Problemen und Reifenschäden zu kämpfen. Wenn alles so schiefgeht, muss der Fahrer von sich aus reagieren. Wenn dein Körper oder dein Kopf dich im Stich lassen, kann noch so viel Wissenschaft das nicht kompensieren. Natürlich musst du deine Grenzen kennen, aber letztlich ist der Radsport, was er immer war. Es ist physisch und psychologisch hart. Du musst wissen, wie du das bewältigst.“Textfeld:

Intelligent und besonnen, stammt der 32 Jahre alte Alessandro Vanotti aus der Radsporthochburg Bergamo. Im italienischen Peloton hoch angesehen, ist er mit seinem Know-how und sicheren Instinkt auf der Straße der Traum eines jeden Sportlichen Leiters. Er beeilt sich darauf hinzuweisen, dass der Giro nicht auf Leistungsanalyse oder Sportpsychologie beruhte. Praktisch war er das Ergebnis von vier Monaten harter Maloche, aber Agnoli und Nibali fahren zusammen Rennen, seit sie denken können. Sie haben eine ähnliche Geschichte und kulturelle Bezüge, und das festigt ihre Beziehung. Der Giro, die Verwirklichung eines lange gehegten Traums, hat seine Ursprünge in Teenager-Rennen in Venetien, der Lombardei und der Toskana. Es begann in der wilden Junioren-Szene Italiens, der harten Schule des Lebens. Dass er und Agnoli rekrutiert wurden, als Alexander Winokurow sich meldete, war vollkommen natürlich und vollkommen organisch.

„Ich glaube, der Hauptunterschied zwischen uns und Sky ist, dass es bei ihnen mehr über Funkkommandos läuft“, sagt Vanotti. „In diesem Team reden wir miteinander, weil wir wissen, wie wir das Beste aus dem anderen herausholen. Wir sind alle schon seit Jahren Radprofis und die Vorstellung, dass wir ein Rennen nicht besser interpretieren können als jemand, der 200 Meter weiter hinten im Mannschaftswagen sitzt, ist lächerlich. Ich sage nicht, dass das Sky-Modell falsch ist – an zwei Toursiegen in Serie gibt es nichts zu rütteln –, aber ich würde sagen, dass wir weniger mechanisch an die Sache herangehen. Es funktioniert für sie, aber dass Froome bei der Tour einen Hungerast kriegt, ist doch komisch. Der Fahrer muss darauf achten, dass er genug Kohlenhydrate zu sich nimmt, weil das sein Treibstoff ist. Froome ist ein fantastisches Talent, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass das Vincenzo je passieren würde. Ein Radprofi muss fähig sein, auf seinen Körper zu hören. Man sollte ihm nicht sagen müssen, was und wann er essen soll.“

Nibali erinnert an einen Moment beim dies-jährigen Giro, um diesen Punkt zu unterstreichen: „Ich fühlte mich gut auf der Etappe zu den Tre Cime di Lavaredo und Valerio genauso. Ich dachte, ich hätte eine Chance, die Etappe zu gewinnen, und als ich ihm sagte, dass ich angreifen wolle, riet er mir zu warten. Ich brauchte die Zeit in jener Situation nicht und das Trikot war sicher. Also hatte er recht und ich gewann die Etappe, ohne Risiken einzugehen. Ich hörte auf ihn, weil ich sein Urteil respektiere und er besser weiß als jeder andere, wozu ich fähig bin. Der Punkt ist, dass es logisch ist, dass wir entschieden haben. Wir brauchten niemanden um Rat zu fragen, geschweige denn um Erlaubnis.“

 

Wie Nibali kommt Paolo Tiralongo aus der Radsportprovinz Siziliens, und obwohl beide als Teenager von zu Hause wegziehen mussten, um ihren Träumen nachzugehen, enden die Ähnlichkeiten auch schon da. Während Nibali immer zu Großem bestimmt zu sein schien, sollte Tiralongo Wasser für die Champions holen und tragen. Er stand in den Diensten von Contador, Ivan Basso und Damiano Cunego und wartete zwölf Jahre auf seinen ersten Profisieg. Der Erfolg auf einer epischen Alpenetappe beim Giro 2011 war ein verdienter Lohn für einen der großen Fußsoldaten des Radsports. Mit mittlerweile 36 Jahren ist er zufrieden, in dem langen Schatten zu fahren, den Nibali heute wirft. Außerdem kann niemand die hohe Kunst des Mannschaftsaufbaus und der damit verbundenen Feinheiten besser zum Ausdruck bringen.„Für mich ist das ein filigraner Mechanismus“, sagt Tiralongo. „Jeder hat seine Aufgabe zu erfüllen, aber wenn es irgendwo nicht funktioniert, ist es sehr schwer zu korrigieren. Die einfachste Analogie ist die Aufteilung des Arbeitspensums. Wenn mein Job ist, fünf Kilometer vorn zu fahren, und ich nur vier mache, muss der Nächste zusätzliche Arbeit leisten. Das setzt ihn unter Druck und führt zu Erschöpfung. Die akkumuliert sich im Laufe des Rennens, ebenso wie die Auswirkung auf seine Moral. Wenn einer aus der Mannschaft unzufrieden ist, hat das einen Domino-effekt auf den Rest der Gruppe. Es ist wichtig, dass jeder alles gibt, dass jeder positiv denkt und dass man sich zu 100 Prozent vertraut. Die Mischung von Leuten muss absolut richtig sein und man kann sich keine persönlichen Konflikte leisten.

Der Kapitän muss zuverlässig und wertschätzend sein und dich belohnen, indem er alles gibt. Wenn nur ein Teil des Mechanismus nicht funktioniert, führt das zu einer Kettenreaktion, und dann gerät alles aus den Fugen.“Textfeld:
Die Hoffnung ist, dass die Alle-für-einen-Philosophie, in über 100 Jahren Radsport bewährt, noch mehr Rundfahrtsiege für Nibali bringt. Während Wiggins und Contador offenbar nachlassen und Joaquim Rodríguez und Alejandro Valverde ihre Defizite gegen die Uhr nicht kompensieren können, liegt es nahe, dass er, Froome und Nairo Quintana die Sache in den nächsten Jahren unter sich ausmachen. Wie immer gibt sich Nibali ziemlich gelassen, was seine Aussichten angeht, wofür seine Vuelta-Vorbereitung das beste Beispiel ist. Mit dem Giro-Sieg in der Tasche war seine Saison 2013 ohnehin schon im Plus und der Erfolgsdruck geringer. Er reist nach Spanien ohne das Zusatzgepäck eines Mannes, der gewinnen muss.

Die Kehrseite ist, dass für einen Italiener ein Giro-Sieg, der so überwältigend war wie seiner, einen Haken hat. Nibali steht im Mittelpunkt des Medieninteresses, seit er die maglia rosa gewonnen hat, daher genießt er die Unantastbarkeit und (relative) Anonymität des Pelotons. „Ich bin entschlossen, meine Karriere zu genießen, egal, was kommt“, sagt er uns. „Der Giro war die Belohnung harter Arbeit für uns alle, aber wenn ich ehrlich bin, habe ich nie viel über die anderen Konsequenzen [eines Sieges] nachgedacht. Ich bin Italiener, trotzdem konnte ich mir das Ausmaß des Interesses nicht vorstellen. Als Radprofi war mein Leben sowieso schon ausgefüllt, ich hatte schon viel mit den Medien zu tun – Reisen, Sachen für die Sponsoren und so weiter. Es ist also ohnehin schwer, auch noch ein Privatleben zu führen, und dann nimmt das Interesse schlagartig noch mehr zu. Wenn jeder ein Stück von dir will, hast du manchmal das Gefühl, dass dir dein Leben gar nicht mehr gehört. Es kann schwer zu managen sein, und in dieser Hinsicht wird das Radfahren noch wichtiger, weil es dein Ventil ist. Wenn ich Rennen fahre, bin ich wie jeder andere. Das mag ich sehr.“

Für die besten Rundfahrer müssen jedoch alle We-ge schließlich nach Paris führen. Ungeachtet des moralischen Auftriebs ist es von Tirreno – Adriatico bis Paris ein weiter Weg – wörtlich und bildlich. Als Nibali das Rennen gewann, bereitete er sich auf den Mai vor, Froome auf den Juli. Außerdem war er bei der Tour 2012 – mit einigem Abstand – Dritter hinter Wiggins und Froome. Wie realistisch ist es, dass er diese Lücke bis 2014 schließt? „Ich glaube, dass ich den Giro auf demselben Niveau gefahren bin wie die Tour. Die Ausnahme ist mein Zeitfahren, das definitiv besser war. Ich hatte den ganzen Winter daran gearbeitet, und was meine Performance angeht, ist das dabei herausgekommen, was ich investiert habe. Davon abgesehen, geht es darum, ihre Schwächen zu finden und sie auszunutzen. Es ist nicht zu bestreiten, dass Froome bei der Tour exzellent war, aber er hatte auch ein paar schwierige Momente, was zeigt, dass er nicht immun ist. Und er ist immer noch ziemlich unerfahren, weil er spät in den Sport eingestiegen ist. Er trifft nicht immer die richtigen Entscheidungen, deswegen wird es mein Job sein, schwere Fragen zu stellen. Ich bin jetzt ziemlich beständig und – toi, toi, toi – tendiere nicht dazu, schlechte Tage zu haben. Ich sage nicht, dass ich die Tour gewinne, aber ich muss daran glauben, dass ich sie gewinnen kann. Sonst würde ich meinen Job nicht machen.“

Nibalis Verbesserungen gegen die Uhr – der springende Punkt, wenn er das gelobte Land erreichen will – sagt viel über seine Einstellung und Arbeitsmoral. Immer wieder sind im Laufe der Jahre gertenschlanke Kletterer im Juli im Zeitfahren zu Fall gebracht worden, nur um zu schwören, das Defizit im nächsten Jahr auszubügeln. Ausnahmslos sind sie gescheitert, normalerweise, weil sie die Zeit nicht investiert haben. Nibali war immer ein solider Zeitfahrer, aber er weiß sehr gut, dass man mit Solidität keine große Rundfahrt gewinnt. Sein Sieg beim zweiten Einzelzeitfahren des Giro – und vielleicht noch mehr sein vierter Platz beim ersten mit nur elf Sekunden Rückstand auf Wiggins – war Zeugnis seiner angeborenen Klasse, aber auch seiner Hingabe für den Job. „Ich habe Glück insofern, als ich Zeitfahren immer gemocht habe, schon als Junior“, sagt er. „Ich bin ziemlich methodisch und Zeitfahren lassen sich leicht messen. Auf der Bahn in Montichiari zu arbeiten, macht nicht besonders viel Spaß, aber um den Giro zu gewinnen, musste ich Wiggins schlagen. Es war notwendig, damit ich ein besserer Rennfahrer werde, also habe ich es einfach gemacht.“ Wenn er nächstes Jahr im Juli in Paris gewinnt, schließt er sich einem sehr exklusiven Kreis an. Nur Anquetil, Gimondi, Merckx, Hinault und Contador – fünf wahre Champions – haben alle drei großen Landesrundfahrten gewonnen. Doch Nibali ist von seinem Platz in der Radsportgeschichte gar nicht so besessen.

„Für mich ist die Herausforderung, den stärksten Fahrer im Rennen zu schlagen, nicht mehr und nicht weniger. Ob es Froome oder Contador ist, ist nicht so wichtig. Meine Ausgangsposition ist, dass ich einen Weg finden muss; alles andere ist einfach eine Konsequenz. Ich denke nicht an meinen Platz in der Geschichte und wenn ich meine Karriere beenden sollte, ohne die Tour gewonnen zu haben, habe ich deswegen nicht versagt. Ich will gewinnen, aber nicht, weil ich auf einer Liste mit Merckx und Contador stehen will. Ich liebe es einfach, Rennen zu fahren, und wenn ich das tue, will ich meine Rivalen schlagen. Das ist instinktiv, nicht analytisch.“ Nibali ist überzeugt, dass für die italienischen Fans der Giro immer über der Tour stehen wird. Denn die Tour spielt sich jenseits der Alpen ab, während der Giro vor ihrer Haustür stattfindet und in den Herzen und Köpfen der Italiener verwurzelt ist. Trotzdem braucht das Land dringend einen Toursieger. Es sind 15 Jahre vergangen seit Marco Pantanis EPO-befeuerter Ruhmestat und der italienische Radsport hat durch die Geißel des Dopings immensen Schaden genommen. Alle vier Astana-Fahrer, mit denen wir gesprochen haben, wissen um die Bedeutung eines Toursieges für den Radsport auf der Halbinsel, aber ohne sich davon verrückt machen zu lassen.

„Es ist ganz einfach“, sagt Agnoli. „Wir haben kein Problem damit, uns drei Wochen lang völlig zu verausgaben, aber um den Job gut zu machen, musst du zufrieden sein. Wir sind Freunde und Kollegen, in diesem Sinne sind wir alle gleich. Jeder muss seinen Job machen und zu diesem Job gehört es, sich umeinander zu kümmern. Spaß zu haben, herumzualbern und Zeit miteinander zu verbringen, mag sich banal anhören, aber es ist ein wichtiges Element. Dadurch werden wir zu einem Team.“ Dass sie sich füreinander einsetzen, wird im Gespräch mit ihnen sonnenklar. Ungeachtet dessen, dass sie den Kern eines der besten Radsportteams der Welt bilden, hat man nie das Gefühl der Schönfärberei. Diese Fahrer existieren als Teil einer mehrere Millionen Euro teuren Struktur, aber es ist nichts Gezwungenes oder Geschäftliches an ihrem Verhalten, wenn sie zusammen sind. Ihre Freundschaft ist echt und spürbar. In dieser Hinsicht spiegeln sie irgendeine Gruppe von Radfahrern irgendwo auf der Welt wider.
 
Astana setzt Technologie ein, und die Fahrer werden von einigen der klügsten Leute in der Branche unterstützt; niemand behauptet, sie seien das komplette Gegenteil von Sky. Letztlich aber sind es die Fahrer, die damit beauftragt sind, Ergebnisse abzuliefern. Es gibt nichts speziell Neues oder Aufschlussreiches an ihrer Methodologie und auch nicht an ihrer Mentalität. Ihr Erfolg wurde in der großen Tradition geschmiedet, einer, in der es eine strenge Korrelation zwischen Leistung und gemeinsamen Zielen gibt. Und ohne das ist der Rest einfach Augenwischerei. 



Cover Procycling Ausgabe 116

Den vollständingen Artikel finden Sie in Procycling Ausgabe 116.

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