Pole Position

Bei der diesjährigen Tour de France hat der OPQS-Fahrer Michał Kwiatkowski die Begeisterung der Polen für das größte Radrennen der Welt im Alleingang neu geweckt. Dabei ist er mit so viel Talent gesegnet, dass seine künftige Ausrichtung alles andere als klar ist.

 

Als ein blonder, weitgehend unbekannter 31-Jähriger namens Zenon Jaskuła 1993 als erster Pole auf dem Podest der Tour de France stand, wurde das als Durchbruch gefeiert. Gerade hatte Dschamolidin Abduschaparow, der „Terror aus Taschkent“, den Sprint auf den Champs-Élysées gewonnen und damit den ultimativen Beweis geliefert, dass eine neue und sehr ambitionierte Generation von Sprintern in die Stadt gerollt war. Jaskula gehörte nicht zu dieser Spezies, machte aber ebenso viel Eindruck, war er doch der erste Klassementfahrer aus einem ehemaligen Satellitenstaat der Sowjetunion, der es auf das Podium der Tour schaffte. Und als der Russe Jewgeni Berzin beim Giro 1994 Miguel Indurain bezwang und der Lette Piotr Ugrumow im Juli in den Alpen glänzte, schien der Weg geebnet zu sein für weitere Osteuropäer bei der Tour.

Mittlerweile sind 20 Jahre vergangen, seit Jaskula fast genauso schnell wieder von der Bildfläche verschwand, wie er gekommen war. Doch nach seiner beeindruckenden Beständigkeit im Juli zu urteilen, scheint nun Michał Kwiatkowski vom Team Omega Pharma – Quick-Step bereit zu sein, die seit Langem erloschene Fackel wieder zu entzünden. Obwohl der Tour-Zweite Nairo Quintana für mehr Furore sorgte – logisch, wie Chris Froome sagte –, war Kwiatkowskis Leistung im Sommer fast ebenso beeindruckend. „Da sind Jungs, die nicht da oben stehen und deren Ergebnisse in diesem Jahr nicht so ins Auge fallen“, sagte Froome, als das Rennen auf Paris zuging. „Wie Kwiatkowski, der eine gute Einstellung und Arbeitsmoral hat. Andrew Talansky und Kwiatkowski sind Jungs, die sich abheben und in die richtige Richtung gehen.“ „Er kann groß rauskommen, er hat das Potenzial“, sagte Altstar Zenon Jaskula der polnischen Presse, nachdem Kwiatkowski bei seinem Tour-Debüt im Sommer Elfter geworden war und einige Tage im Weißen Trikot verbracht hatte. Jaskula bezweifelte jedoch, ob es klug von Kwiatkowski sei, bei dem belgischen Team zu bleiben, das bei der Tour in erster Linie auf Mark Cavendish setzt. Zudem kommt 2014 mit Rigoberto Uran ein Klassementfahrer ins Team, der Sky sicher nicht verlassen wird, um bei einem anderen Rennstall wieder den Helfer zu spielen.

Doch Jaskulas Bemerkung ist irrelevant insofern, als Kwiatkowskis Vertrag bei OPQS bis 2015 läuft. Abgesehen davon wäre sein Standpunkt nur logisch, wenn Kwiatkowski ausschließlich bei der Tour de France und anderen Rundfahrten gut unterwegs wäre. So, wie es aussieht, scheint er alles andere ebenfalls zu können, vom Zeitfahren über Klassiker bis hin zu Sprints aus kleinen Gruppen und die Flucht nach vorn. In diesen Situationen werden Cavendish oder andere Klassementfahrer in seinem Team kein Hindernis sein. Kwiatkowski selbst sagt, dass er noch nicht weiß, ob er sich auf einen Bereich spezialisieren oder bleiben soll, wie er ist – einer der eindrucksvollsten Allrounder, die in den letzten Jahren aus irgendeinem Land hervorgegangen sind. „Ich weiß, was ich kann, aber keiner weiß, bei welchen Rennen ich gut bin, nicht einmal ich selbst“, sagt Kwiatkowski zu Procycling. „Wir müssen weiter sehen, was ich erreichen kann.“
Kwiatkowski hat, wie sich herausstellt, nie in Schubladen gedacht, wenn es um den Radsport geht. Schließlich ist er jemand, der nicht einen polnischen Fahrer oder einen Tour-de-France-Star, sondern Tom Boonen als Vorbild hatte, als er mit 15 Jahren davon träumte, Profi zu werden. „Ich war schon mit elf oder zwölf sehr motiviert, eines Tages Profi zu werden. Aber polnische Profis? Ich habe niemanden besonders in Erinnerung, obwohl die Polen-Rundfahrt das erste Rennen war, das ich im Fernsehen gesehen habe. Nein, als Boonen 2005 die Weltmeisterschaft in Madrid gewann, da war ich wirklich beeindruckt. Wenn ich irgendwelche Helden in meiner Nähe hatte, dann meine Trainer, die mir beigebracht haben, mich auf mein Team zu konzentrieren und was ich erreichen kann. Und jetzt mit Tom in einer Mannschaft zu sein, ist fantastisch für mich!“
 
Vor Boonen war Kwiatkowskis älterer Bruder seine erste Quelle der Radsport-Inspiration. „Er hat vor drei Jahren mit dem Sport aufgehört, weil er keinen Vertrag bekam, aber wir trainieren noch immer zusammen.“ In seinem ersten Jahr als Amateur bei seinem örtlichen Verein im nordpolnischen Torun und dann in ihrem Farmteam lief alles wie am Schnürchen: Kwiatkowski gewann als Junior 18 Rennen in einem Jahr. „Ich hatte alles, was ich brauchte. Mit den richtigen Trainern und dem richtigen Trainingsprogramm war es wie in einer Sportschule, und das hat mir sehr viel Selbstvertrauen gegeben“, erinnert er sich. Gestärkt wurde dieses Selbstvertrauen noch durch zwei Europameistertitel und einen Junioren-Weltmeistertitel im Zeitfahren 2008 in Kapstadt, wo er mit Taylor Phinney einen zukünftigen Star schlug. „Nur um ein paar Sekunden, aber ich habe ihn geschlagen“, erinnert er sich. „Es war ein schwerer Kurs, sehr hügelig. Ich, Taylor und Peter Sagan, unsere Wege haben sich in den folgenden Jahren immer wieder gekreuzt.“

Aber während Sagan und Phinney senkrecht in die Profi-Ränge starteten, gibt Kwiatkowski offen zu, dass er die Dinge in den folgenden zwei Jahren schleifen ließ – obwohl er die Friedensfahrt der Junioren gewann und 2009 polnischer Meister im U23-Straßenrennen wurde. „Aus meinem Selbstvertrauen wurde Vermessenheit“, sagte er. „Es war mir alles zu leicht gefallen und ich dachte nicht an meine Zukunft. Ich wartete und wartete, bis ich Profi wurde, und auch die Resultate stellten sich nicht ein. Es war nicht so schlecht in meinem ersten U23-Jahr, als ich noch für ein polnisches Team mit einem italienischen Sponsor fuhr, was eine tolle Art war, aus Polen herauszukommen, wo du kaum internationale Aufmerksamkeit bekommst. Aber auch da bin ich ein bisschen untergegangen.“ Als er 2010 nach Pamplona zog und bei dem kleinen spanischen Rennstall Caja Rural, seinem ersten Profiteam, unterschrieb, wurde es noch schlimmer. „Sie hatten gerade erst eine Continental-Lizenz gelöst, und wir wussten vorher nie, welche Rennen wir fahren würden. Es war, als ob ich in eine Richtung gehen würde und sie in eine andere“, erinnert er sich. „Es hing alles in der Luft. Erst als Radio-Shack mich 2011 unter Vertrag nahm, ging es mit meiner Karriere wieder voran.“

Kwiatkowski feierte keine Siege mit RadioShack, aber seine dritten Plätze bei einigen schweren belgischen und französischen Etappenrennen – Drei Tage von West-Flandern, Drei Tage von De Panne-Koksijde und die Tour du Poitou-Charentes – zeugten von seinen Fortschritten. In seiner zweiten Profi-Saison bot RadioShack ihm nur einen Ein-Jahres-Vertrag an, während das Team Quick-Step, das von seinen Fahrern den Tipp bekommen hatte, es gäbe da einen jungen Fahrer, der sich auf den Kopfsteinpflasterrampen von De Panne gut gemacht hatte, Kwiatkowski einen Kontrakt für zwei Jahre anbot. Da sein Freund und früherer Vereinskollege Micheł Gołaš ebenfalls bei dem belgischen Team anheuerte, nachdem er Vacansoleil verlassen hatte, brauchte Kwiatkowski nicht lange darüber nachzudenken: „Sie haben mich sogar getestet, als ich Junior war, mich aber nicht genommen, weil ich zu jung war, erst 17“, erinnert sich Kwiatkowski. „Dann hat mich Omega Pharma wieder angesprochen, als sie gesehen haben, dass ich bei RadioShack war. Als ich an meinem ersten Rennen der Saison teilnahm, haben sie mir gleich ein Angebot gemacht.“

Kwiatkowski mauserte sich auch auf einem anderen Terrain. Gegen die Uhr gewann er 2012 den Prolog von West-Flandern, sein erster Profisieg, und holte Silber bei den polnischen Meisterschaften im Zeitfahren. Bei Rundfahrten war der zweite Gesamtrang bei der Tour de Pologne sein bestes Ergebnis im letzten Jahr. Außerdem holte er einen Top-Ten-Platz bei der Eneco Tour und fuhr den Giro zu Ende, seine erste große Landesrundfahrt. In dieser Saison ist es noch besser gelaufen. Kwiatkowski erwischte einen guten Start und trug einige Tage das Trikot des Spitzenreiters bei der Tour de San Luis, ließ einen zweiten Platz bei der Volta ao Algarve folgen und setzte ein dickes Ausrufezeichen, als er bei Tirreno – Adriatico nach der schwersten Bergetappe des Rennens – nach Prati di Tivo – die Führung übernahm. Alberto Contador, Vincenzo Nibali und Chris Froome waren die hochgehandelten Namen an diesem Tag, nicht ein fast unbekannter polnischer Profi, dessen einzige Erinnerung an italienische Berge die war, dass er beim Giro 2012 dort gelitten und mit den Tränen gekämpft hätte. „Der Giro hat mir wirklich die Augen geöffnet. Ich versuchte, aus dem Gruppetto heraus zu attackieren, um sicherzugehen, dass ich in den Abfahrten nicht abgehängt werde. Ich habe auf dem Rad nicht vor Schmerzen geweint, aber manchmal hätte ich das am liebsten getan.“

 

Am Prati di Tivo änderte sich dann die Geschichte. Kwiatkowski war seit dem Sieg seiner Truppe im Mannschaftszeitfahren zum Auftakt im Gesamtklassement weit vorne gewesen; der wahre Durchbruch jedoch kam, als er dauerhaft mit den Besten mithalten konnte. Auch wenn er das Trikot einen Tag später wieder verlor, beendete er Tirreno auf dem vierten Gesamtrang. Das war ein weiterer großer Schritt nach vorn. „Ich war den Anstieg noch nie hochgefahren“, sagt Kwiatkowski. „Ich hatte keine Vorstellung davon, aber mein Team hatte gesehen, dass ich klettern kann; sie haben meine Leistungen in Argentinien und an der Algarve gesehen. Tirreno war mein wichtigstes Ziel für das Frühjahr. Dass ich Co-Kapitän des Teams neben Tony Martin war, hat mich noch mehr motiviert. Ich wusste, dass ich ein ‚Guthaben‘ hatte durch die Zeit, die wir im Mannschaftszeitfahren herausgefahren hatten, und das Rennen auch mit einem Verlust von 20 oder 30 Sekunden noch anführen würde, und genau so kam es. Froome gewann die Etappe und Sky fuhr bumm, bumm, bumm den Berg hoch, aber ich bin auf dieser Art von Anstiegen viel besser. Es sind die steileren, die schwerer für mich sind.“ Schwerer? Nur bis zu einem gewissen Punkt. Bei der Flandern-Rundfahrt in diesem Jahr preschte Kwiatkowski auf dem Molenberg vor und war 100 Kilometer später immer noch vorn. Er heftete sich sogar kurz an die Hinterräder von Fabian Cancellara und Peter Sagan, als sie an ihm vorbeiflogen, bevor er auf dem 40. Platz landete. Weitere Fortschritte machte er bei den Ardennen-Klassikern. Kwiatkowski hatte im letzten Jahr alle drei aufgegeben, aber dieses Mal sicherte er sich einen vierten Platz beim Amstel Gold Race und einen fünften beim Flèche Wallonne, der – auch wenn er sagt, dass steile Anstiege ihm nicht liegen – zufälligerweise mit einem Hügel endet, der so steil ist wie die Seitenwand eines Hauses.

In gewisser Hinsicht, sagt Kwiatkowski, sei es keine große Überraschung, dass er bei Eintagesrennen im April glänzte, „weil ich als Amateur in allem gut war, bei Weltcuprennen, Rundfahrten und im Zeitfahren“. Einen Pragmatismus offenbarend, der ihm in Zukunft zugutekommen kann, betont er: „Ich war in allem gut, aber trainiert habe ich am meisten fürs Zeitfahren und habe dort so gut abgeschnitten, weil es bei diesen Rennen am einfachsten ist, ein Ergebnis einzufahren. Du trainierst dafür, bestreitest sie und du weißt, was du erreichen kannst.“ Richtig ins Rampenlicht fuhr Kwiatkowski bei der Tour. Er startete in Korsika mit dem Trikot des Polnischen Meisters auf den Schultern – sein erster Sieg im Jahr 2013 –, tauschte es jedoch bereits auf der 2. Etappe gegen das des besten Jungprofis. Wie bei einem schwereren Fahrer zu erwarten, fiel der Pole an fast allen großen Alpen-Anstiegen in der Gesamtwertung zurück, allerdings nur bis auf Rang elf. Mit einer Reihe von Top-Fünf-Plätzen, darunter beim Zeitfahren zum Mont-Saint-Michel, betrieb er bei seinem Tour-Debüt eine beeindruckende Schadensbegrenzung.

Worauf will sich Kwiatkowski in Zukunft konzentrieren, wenn ihm fast alles, was er anpackt, so gut gelingt? Die Frage scheint ihn nicht allzu sehr zu beschäftigen, wenn er sagt: „Im Moment habe ich verschiedene Optionen auf dem Tisch, viele verschiedene Rennen, bei denen ich ‚gut abschneiden kann. Es ist wie Mailand – San Remo: Dort zu starten, war nicht geplant; ich habe es nach Argentinien und der Algarve vorgeschlagen und das Team sagte: Vielleicht ist es eine gute Idee; versuch’ es einfach! Es geht darum, so viel Erfahrung wie möglich zu sammeln und sich dann später zu entscheiden.“ Kwiatkowski entscheidet also klug, nichts zu überstürzen. Er scheint auch nicht Gefahr zu laufen, in dieselbe Falle zu tappen wie viele osteuropäische Fahrer früherer Generationen, die sich zu lange auf ihren Lorbeeren ausruhten oder ihr Gehalt für schnelle Autos und große Häuser rauswarfen – oder wie Jaskula ein Jahr glänzten und dann von der Bühne verschwanden. Obwohl er seinen Vertrag mit OPQS bis 2015 verlängert hat, hat sich Kwiatkowski immer noch kein neues Auto gekauft; er fährt einen zwölf Jahre alten Wagen mit über 400.000 Kilometern auf dem Tacho. Er hat auch keine teuren Hobbys: „Ich habe keine, außer meinen Koffer immer anders zu packen. Ich reise so oft, dass es mir sonst langweilig würde“, sagt er mit einem lakonischen Lächeln.

Die Tour war ein großer Durchbruch, daran besteht kein Zweifel. Aber Kwiatkowskis Leistungen bei Tirreno – Adriatico, Flandern und Flèche waren es auf ihre Art auch. Und das war nur das Jahr 2013. Es dürfte der nächste Schritt nach vorn sein, der seine Karriere prägen und vielleicht bestätigen wird, dass 20 Jahre nach Jaskula ein neuer polnischer Star die internationale Bühne betreten hat und bleibt.



Cover Procycling Ausgabe 117

Den vollständingen Artikel finden Sie in Procycling Ausgabe 117.

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