„Das habe ich geschafft!”

Bevor er als ältester Sieger einer großen Rundfahrt in die Geschichtsbücher einging, fühlte sich Chris Horner vom Radsport abgeschrieben. Und auch ein Team für 2014 hat der Vuelta-Gewinner noch nicht gefunden. Trotzdem blickt er positiv in die Zukunft.

 

Als er im Sommer mit einem verletzten Knie pausierte, hatte Chris Horner den Eindruck, dass die Radsportwelt ihn nicht nur unterschätzte, sondern ihm komplett den Rücken gekehrt hatte. „Ich war erledigt. Niemand rief mich an, niemand bot mir einen Vertrag an. Alle hatten mich komplett aufgegeben.“ Aus dieser Phase heraus entstand eine Form und Entschlossenheit, die zum größten Sieg seiner Karriere führte. Aber selbst mit dem Vuelta-Titel in der Tasche steht Horner immer noch ohne Vertrag für die nächste Saison da. Eine Situation, die er nur allzu gut kennt. Chris Horner sieht einen starken Zusammenhang zwischen seinem Alter und Lance Armstrongs Doping-Geständnissen auf der einen Seite und der Tatsache, dass er für 2014 noch keinen Vertrag hat, auf der anderen. Aber es ist nicht ganz der Zusammenhang, den man vermuten könnte. Horner war immer ein so pragmatischer und analytischer Fahrer, dass ihm schon oft angeboten wurde, als Fernsehkommentator zu arbeiten, sollte er seine Karriere beenden. Was, wie er sich zu betonten beeilt, so bald nicht der Fall sein wird.

Der Zusammenhang, den Horner sieht, ist ein rein mathematischer. „In jedem anderen Jahr würde ich schon allein wegen meiner UCI-Punkte engagiert“, sagt er. „Ich hätte schon vor dem Ende der Vuelta einen Job gehabt. Wenn 25 Teams sich um 18 ProTeam-Plätze bewerben würden, mit denen sie zur Tour de France kommen, wäre ich dabei. Aber jetzt sind es nur 16 Teams und 18 Plätze.“ Und was hat das mit Armstrong zu tun? „Es gibt jetzt weniger Teams. Als Lance aktiv war, gab es mehr Teams und mehr Geld. Was ich spüre, ist ein wirtschaftliches Ding, das in der Zeit nach Lance entstanden ist.“
 
Nach vier Jahren bei dem Rennstall hat Horner vor Kurzem erklärt, RadioShack-Trek verlassen zu wollen, weil er das Gefühl habe, dass man nicht an ihn als Fahrer glauben würde. Die Sache spitzte sich zu, als er wegen einer Knieverletzung pausieren musste, statt an der 100. Tour de France teilzunehmen, und damit wich Horners Vorstellung von seiner Zukunft von der seines Teams ab. „Ich habe mich hier nicht wohlgefühlt, seit ich die Knieverletzung hatte. Ich weiß die vier Jahre, die ich bei ihnen war, zu schätzen, und muss mich bei RadioShack und Nissan für vier Jahre fantastischer Unterstützung bedanken. Doch als ich dann das Knieproblem hatte, hat das Team nicht daran geglaubt, dass ich zurückkommen kann. Das Angebot, das mir gemacht wurde, entspricht nicht im Entferntesten dem, was ein Fahrer von meiner Qualität verdient. Bei fehlendem Vertrauen und fehlendem Geld gibt es keinen Grund, hierzubleiben.“

So ist der amtierende Vuelta-Champion seit Ende Oktober, als Procycling zu ihm nach Oregon fliegt, arbeitslos. „Ich bin zuversichtlich, dass ich für nächstes Jahr etwas finde“, sagt er. „In einem Jahr habe ich am 10. Dezember unterschrieben. Vielleicht muss ich nur abwarten, aber früher oder später wird es passieren. Natürlich werden sie mir nicht bezahlen, was ich wert bin, was ein Rundfahrt-Sieger verdient. Aber irgendjemand wird mich einstellen.“ Ohne Vertrag dazustehen, ist nichts Neues für Horner, der in Fahrradgeschäften gejobbt, auf Sofas übernachtet, bei Rennen im Wohnwagen geschlafen und sich überhaupt mit Mut und Entschlossenheit seinen Weg in den Sport gebahnt hat. „Die Leute haben während meiner ganzen Karriere an mir gezweifelt und mich unterschätzt. Es gab nur wenige Menschen, die mich wirklich 100-prozentig unterstützt und mein Potenzial erkannt haben. Ich glaube, die meisten wissen nicht, was für ein guter Fahrer ich bin“, sagt er. „Was soll ich denn noch machen? Ich weiß nicht, ob es an meiner Größe liegt – ich habe eine ziemlich schmale Statur, weil ich ein Kletterer bin – oder vielleicht daran, dass ich nicht wütend werde und viel lache. Vielleicht empfinden sie mich als zu unbekümmert?“ 



In den letzten zwei Jahrzehnten gab es häufig einen Unterschied dazwischen, wie die Teams Horner sahen und wie sich der Fahrer selbst sah. In seinem ersten Profijahr war er eigentlich nur auf dem Papier Berufsradfahrer. Er wollte zu einem Profiteam, aber niemand wollte ihn einstellen. Also löste er, was damals möglich war, einfach selbst eine Lizenz. Überzeugt, dass er es schaffen kann, selbst wenn niemand ihm eine Chance gab, versuchte er es auf eigene Faust. „Als ich 1995 Profi wurde, wollte ich als Berufsradfahrer so gut wie möglich werden“, erinnert er sich. „Ich dachte nicht an die Tour, ich wollte nur dafür bezahlt werden, dass ich Rennen fahre. Ich machte immer noch einen Schritt nach dem anderen. Dein erstes Ziel ist, Profi zu werden, dein zweites, ein guter Profi zu werden. Dein Ziel ist, damit Geld zu verdienen, damit du deine Kinder und deine Familie und dein Haus finanzieren kannst … Als ich Profi wurde, habe ich anfangs überhaupt kein Geld bekommen. 1995 habe ich also kein Geld bekommen. 1996 habe ich eigentlich auch kein Geld bekommen, nur 3.000 Dollar oder so. Offiziell bist du Profi, aber in Wirklichkeit träumst du noch davon, es zu deinem Beruf zu machen. 1996 war ich dann überzeugt, dass ich es als Profi schaffen kann, weil ich jede Menge Rennen in den USA gewann.“ Horner feierte Erfolge bei der Tour DuPont, Lancaster Classic, den Olympic Trials und dem Redlands Bicycle Classic, bevor er den ersten von mehreren Gesamtsiegen beim von USA Cycling gesponserten National Racing Calendar perfekt machte.

Bei der Superweek-Rennserie im Mittleren Westen bekam Horner einen Job vom französischen Exprofi Alain Gallopin angeboten, der gerade La Française des Jeux aufbaute. „Meine erste Frage war: Was ist das für ein Team?“, sagt Horner lachend. „Du darfst nicht vergessen, dass du das 1996 nicht im Internet nachlesen konntest. Es war nicht wie jetzt, wo es schon fast komisch ist, wie viele Informationen du hast. Damals gab es nur VeloNews, das einmal im Monat erschien, und die Geschichten, die dir andere bei Rennen oder beim Training erzählten. Ich kannte weder Gallopin noch [den früheren Paris – Roubaix-Sieger und heutigen Manager] Marc Madiot noch sonst jemanden.“ 

Nach einem Monat wurde ein Vertrag gefaxt – auf Französisch. Horner verstand kein Wort, unterschrieb ihn aber trotzdem und schickte ihn zurück. „Was hätte ich denn tun sollen?“, sagt er achselzuckend. „Hätte ich das ablehnen sollen? Ich hatte Angebote von [dem US-Team] Saturn, die mir zwei- oder dreimal so viel Geld für die Kapitänsrolle zahlen wollten. Aber ich wollte nach Europa, also akzeptierte ich den Mindestlohn und ging zu FDJ.“ Obwohl Horner auch bei einer Übersetzung des Vertrags nicht geahnt hätte, was für ein Leben ihn erwartete, erkannte er nicht, dass es seinen Glauben an sich selbst erschüttern sollte. In Europa Rennen zu fahren heißt auch, sich auf das Leben dort einzulassen. Nachdem er jahrelang Rennen bestritten und trainiert hatte, war Horner auf die sportliche Seite vorbereitet, aber überhaupt nicht auf das Leben in Frankreich.

Als er das sonnige San Diego in Südkalifornien gegen Paris im Winter eintauschte, änderte sich seine Stimmung mit dem Wetter. „Als ich 1997 dorthin ging, gab es keine einfache und preiswerte Möglichkeit, mit deinen Leuten zu Hause zu kommunizieren. Es ist heute eine ganz andere Welt, niemand kann sich vorstellen, wie es damals war. All die jungen Leute heute, sie gehen nach Europa und denken, dass es so leicht ist. Sie sagen: ‚Warum war es so hart, Chris?‘ Weil sie Internet und Skype und Mobiltelefone und Filme auf ihrem Laptop haben.“ Aber Horner, der kein Französisch sprach (und spricht), fühlte sich isoliert. „In den 90ern gab es Wochen, wo ich nicht mal wusste, bei welchem Rennen ich startete, bis ich das Fax bekam. Es war alles ein kulturelles Ding. Ich fand nicht mal die Milch im Laden. ‚Wo ist die Milch?‘ Ich suche einen Kühlschrank, aber sie steht im Regal. Ich wusste nicht, dass ich das Obst abwiegen musste, bevor ich zur Kasse gehe. Alles, womit du zu tun hast, scheint enorm kompliziert zu sein, und mentale Energie für solche Sachen zu verschwenden, hat mich fertiggemacht. Als ich dort war, machten die Geschäfte mitten am Tag zu und schlossen abends früh. Dann lag ich unglücklich im Bett rum.“ Procycling fragt ihn, ob er in dieser Zeit eine Zähigkeit entwickelt hat, die ihm später in seiner Karriere zugutekam, oder ob eine vorhandene Zähigkeit ihm half, das durchzuhalten. Er lacht nur. „Weder noch. Es hat mich fertiggemacht. Es hat mich jeden Tag fertiggemacht. Es war abends um halb sieben, und ich dachte: ‚Ich muss zum Supermarkt gehen, weil er um sieben schließt.‘ Dort angekommen, kaufte ich fünf Schokoriegel auf Vorrat, falls ich am nächsten Tag nicht zum Einkaufen komme. Die habe ich dann abends alle aufgegessen. Deswegen war ich immer zu dick. In meinen ersten vier Monaten dort hatte ich nicht mal Gespräche, die länger als ein paar Minuten dauerten.“

Einige dieser kurzen Unterhaltungen waren mit seinem Sportdirektor, dem er sagte, dass er aufhören wolle. Gallopin – der später CSC, Astana und auch RadioShack leitete – redete es ihm aus. 

Nach den vier ersten schweren Monaten in Frankreich ging Horner, wie mit seinem Team abgesprochen, in die USA zurück, um Urlaub zu machen. Ohne ihr Wissen packte er alle seine Habseligkeiten ein, um mit dem Radsport in Europa aufzuhören und in den USA zu bleiben. „Dort wohnte ich in einem kleinen Haus im Süden von San Diego, wo ich ein Motorrad hatte, eine Yamaha FZR600. Nachdem bei FDJ meine Wasserflaschen beim Training eingefroren waren, fuhr ich jetzt mit 90 Meilen über den Freeway und trug ein T-Shirt. Ich dachte, ich gehe auf keinen Fall zurück. Ich steige auf keinen Fall wieder in dieses Flugzeug. Ich fahre den ganzen Tag Motorrad. Und morgen auch den ganzen Tag.“ Aber nachdem er ein paar Wochen allein trainiert hatte, konnte Horner sich schließlich mit dem Gedanken anfreunden und ging im Sommer nach Frankreich zurück. „Ich fuhr dieses Rennen in der Bretagne. Ich war am ersten Tag gut unterwegs, und das ganze Team arbeitete für mich. Ich war in Form. Nach einer Woche gab es Krach mit einem meiner Teamkollegen. Am nächsten Tag erklärte ich meinem Teamchef, ich werde aussteigen, weil mein erstes Kind, Erica, bald zur Welt käme [Erica ist heute 16]. Das letzte Rennen, das ich bestritt, bevor ich wieder nach San Diego flog, war der Grand Prix de Plouay. Ich hatte noch nie etwas von Plouay gehört. Morgens vor dem Rennen sagte mir mein Sportdirektor, wie episch es werden würde. Ich trat dort an, und es gab Massen von Zuschauern. Ich wurde Dritter, und da dachte ich mir: Okay, ich fahre nicht nach Hause.“

Wie sich herausstellte, war seine Rückkehr nur aufgeschoben. Nach drei glanzlosen Jahren bei Française Des Jeux ging Horner in die USA zurück und feierte dort bei Etappenrennen einen Sieg nach dem anderen. Von 2002 bis 2004 gewann er die Gesamtwertung des National Racing Calendar, was seine Dominanz während der gesamten Saison unterstrich; allerdings fuhr er jedes Jahr für ein anderes Team. 2002 feierte er im Trikot von Prime Alliance Gesamtsiege beim Fitchburg-Longsjo Classic, Sea Otter Classic, Redlands Bicycle Classic und Solano Bicycle Classic. 2003 gewann er – in den Farben von Saturn – wieder viele dieser Rennen sowie die Tour de Georgia und das prestigeträchtige Eintrages-Rennen San Francisco Grand Prix. 

Einige Tage nach seinem Sieg in San Francisco vor zahllosen Zuschauern wurde den Saturn-Fahrern mitgeteilt, ihr Team werde dichtmachen, und Horner hatte mal wieder keinen Job. Dabei stand er an der Schwelle zu seinem „spaßigsten Jahr im Radsport überhaupt“, wie er heute sagt. Im Dezember 2003 arbeitete Horner bei der US-Cross-Meisterschaft als Mechaniker für die Frau, die er später heiraten sollte. „Megans Cross-Meisterschaft war in Portland, und sie hat mich gefragt, ob ich dort für sie schrauben kann“, sagt Horner. „Sie war damals einfach meine Teamkollegin. Ich dachte: ‚Ja, das wäre cool, ich war noch nie bei einem Cross-Rennen.‘ Aber ich hatte jahrelang als Fahrradmechaniker gearbeitet. Ich hatte mein Werkzeug und eine Thermoskanne für Tee. Ich hatte immer noch keinen Job, also warum nicht?“ Als er dort war, bekam Horner einen Anruf von Ted Huang, der ihm einen von zwei bezahlten Plätzen im Webcor Cycling Team anbot, das ansonsten aus College-Studenten bestand. „Als ich unterschrieb, sagte ich: ‚Hey Ted, hör mal zu. Nur ich und Charles Dionne werden hier bezahlt. Ja, ich glaube, dass ich einer der besten Fahrer in den USA bin. Ich kann ein paar Etappen bei einer Rundfahrt gewinnen. Aber ich kann nicht das ganze Rennen gewinnen, weil wir nicht die Unterstützung haben, die wir brauchen.‘ Ted sagte mir: ‚Kein Problem. Sag mir einfach, welche Rennen du fahren willst, und dann kannst du loslegen. Manchmal werden wir dich ohne Sportlichen Leiter oder Mechaniker hinschicken. Aber wir werden eine tolle Zeit haben.“ Natürlich hatte Horner einen Wahnsinnsspaß. „Wir haben alles gewonnen und es gab keinen Stress. Überhaupt keinen.“ Horner erinnert sich, wie er seine Teamkollegen zum ersten Mal morgens vor einem Etappenrennen zu Saisonbeginn in Kalifornien traf, wo er mit seinem Wohnwagen und seinem Hund campiert hatte. Einer seiner Rennfahrerkollegen war Huang, der Teamchef. Wie Huang ihn gewarnt hatte, war der Support bei Webcor ziemlich bescheiden … „Als das Rennen losgeht, springe ich auf mein Rad und stelle fest, dass niemand meine Reifen aufgepumpt hat“, erzählt Horner. „Da dämmerte es mir, dass die Person, die das hätte tun sollen, ich war.“ Trotzdem gewannen Horner und Dionne in jenem Jahr zig Rennen in den USA. 

Das Sahnehäubchen auf der Saison 2004 war ein achter Platz bei der Weltmeisterschaft. Auch wenn es kein großes Resultat war, reichte es, um die europäischen Teams von seinen Fähigkeiten zu überzeugen.

Horner überquerte 2005 erneut den Atlantik, um für Saunier Duval zu fahren, und so langsam stellten sich die Ergebnisse ein. Er gewann eine Etappe der Tour de Suisse 2005, bei der er Gesamt-Fünfter wurde, und entschied im folgenden Jahr in den Farben von Silence-Lotto eine Etappe der Tour de Romandie für sich. Nachdem das Team 2007 zu Predictor-Lotto geworden war, wurde Horner Fünfter der Tour de Romandie und 15. der Tour de France. Danach ging er für zwei Jahre zu Astana und dann schließlich zu Radio-Shack, wo er wirklich aufblühte. Bei der Tour 2010, wo er als Helfer für Lance Armstrong unterwegs war, erreichte Horner als bester Fahrer des Teams auch seine beste Platzierung bei einer großen Rundfahrt – den neunten Rang (nach Alberto Contadors Disqualifizierung). In diesem Jahr holte er zudem Top-Ten-Plätze bei Flèche Wallonne, Lüttich – Bastogne – Lüttich und beim Amstel Gold Race sowie den vierten Platz bei der Kalifornien-Rundfahrt – ein Rennen, das er im folgenden Jahr gewinnen sollte.

Horner ist überzeugt, dass er schon früher viel größere Resultate erzielt hätte, wenn er in Europa geboren worden wäre. „Natürlich wäre ich besser gewesen, hätte ich vorher schon in Europa gelebt. Wenn nur alle verstehen würden, wie schwer es war, die USA zu verlassen, um nach Europa zu gehen! Aber nur Gallopin hatte Geduld mit mir. Er wusste, wann ich Heimaturlaub brauchte. Andere Leute haben nicht verstanden, warum ich nicht glücklich war.“

Horner weiß sehr wohl, dass einige Leute sich fragen, ob es mit rechten Dingen zugehen kann, wenn ein 41-Jähriger eine große Rundfahrt gewinnt. Er weiß auch sehr gut, dass es mit dem bloßen Bestreiten von Doping heutzutage nicht getan ist. „Auf die Frage ‚Hast du je in deiner Karriere gedopt?‘ wirst du immer dieselbe Antwort bekommen“, sagt Horner. „Jeder Fahrer, der es nicht getan hat, wird ‚nein‘ sagen, und jeder Fahrer, der es getan hat, wird ‚nein‘ sagen. Du bekommst also immer dieselbe Antwort. Stattdessen musst du schauen, wie seine Ergebnisse mit den immer besser werdenden Dopingkontrollen korrespondieren.“ Horner verweist darauf, dass er in der frühen EPO-Hochzeit in Europa einfach nicht konkurrenzfähig war. „Es ist schwer zu sagen, ob das Dopingproblem der einzige Grund war. Ich hatte zehn Pfund Übergewicht, auch das spielte eine Rolle. 2002 wurde der EPO-Test eingeführt, dann haben sie ihn perfektioniert, dann haben sie dich zu Hause außerhalb des Wettbewerbs kontrolliert, dann kam der biologische Pass. All das hat meiner Karriere geholfen. Als die Tests besser wurden, sind meine Resultate besser geworden.“ 

Von 1997 bis 2004 „war ich bei den großen Rennen chancenlos“, sagt er. „Erst Ende 2004 habe ich Ergebnisse eingefahren. Ich war Achter bei der Weltmeisterschaft, nachdem ich am letzten Hügel zurückgefallen war und dann mit Erik Zabel wieder rankam. Ich blieb bei Zabel, weil er Sprinter ist und zwei oder drei deutsche Teamkollegen bei sich hatte, und ich wusste, dass sie Tempo machen würden, um die Lücke zu schließen. Seine Jungs haben die ganze Arbeit gemacht, und ich fuhr die ganze Zeit in ihrem Windschatten. Beim Sprint brachte ich mich in eine gute Position und wurde Achter. Das war mein erstes richtiges Ergebnis. Jetzt ist es eine tolle Zeit, um Rennfahrer in Europa zu sein. Du siehst, dass die Geschwindigkeiten geringer sind, und das spüre ich auch auf dem Rad. Du siehst, dass Fahrer in den Anstiegen abgehängt werden. Du siehst, dass ein Fahrer, wenn er 50 Kilometer Tempo gemacht hat und dann ein steiler Anstieg kommt, kein Tempo mehr machen kann. Die Fans zu Hause sollten in der Lage sein, den Unterschied zu erkennen. Es ist da, es ist eine Tatsache. Du kannst es sehen.“ Die Frage, ob er dopen solle oder nicht, war für ihn ebenso eine logistische wie eine ethische, wie Horner erklärt. „Du weiß nicht, was du machen sollst, okay? Wo kaufst du es? Wie bekommst du es? Niemand hat es mir angeboten. Die Teams, für die ich fuhr, kamen nicht zu mir und sagten: ‚Hier, das musst du nehmen.‘ Gibt es einen Teil in mir, der manchmal dachte, ich muss das machen? Ja. Aber wo? Wie? Ich saß da und war ein 25 Jahre alter Junge – ich wusste nicht mal, wie man im Supermarkt Milch kauft.“

 

Obwohl er seit Jahren davon geträumt hatte, eine große Rundfahrt zu gewinnen, glaubte Horner erst auf der 10. Etappe der Vuelta 2013, er könne es schaffen. „Seit 1995 habe ich immer gedacht, dass ich eine Grand Tour gewinnen kann, wenn die Situation richtig ist. Aber gewusst habe ich es erst auf der 10. Etappe. Da habe ich meine Frau angerufen und ihr gesagt: ‚Wir fahren nicht um einen Podiumsplatz. Wir fahren auf Sieg‘.“ Dass Horner in diese Position kam, hatte er ausgerechnet seiner Knieverletzung zu verdanken, die er im Juli auskurieren musste. „Die Auszeit hat mir geholfen, das Rennen zu gewinnen, aber nicht aus dem Grund, den die Leute vielleicht annehmen. Die Auszeit hat mein Rennprogramm grundlegend verändert. Und diese Veränderung in meinem Rennprogramm hat mir den Sieg bei der Vuelta eingebracht. Ich wäre die Tour de France gefahren, wenn ich gesund gewesen wäre. Ich weiß nicht, ob ich die Spanien-Rundfahrt dann überhaupt bestritten hätte. Wahrscheinlich wäre ich stattdessen in Colorado gewesen. Um es klar zu sagen: Was ich bei der Vuelta getan habe, gab es noch nie zuvor. Es ist mir egal, wer in diesem Jahr was gewonnen hat – das ist das beste Resultat im Radsport seit langer, langer Zeit. Ich habe etwas erreicht, was in 100 Jahren keiner geschafft hat. Und vielleicht schafft es in den nächsten 100 Jahren keiner mehr außer mir, wenn es so weit kommt. Das Alter alleine macht es episch. Was ich gemacht habe, ist legendär. Ich glaube, die Leute haben das gesehen, nach den Twitter-Mitteilungen und SMS zu urteilen. Aber es gibt immer Leute, die sagen: ,Er muss mehr gewinnen, bevor ich ihn für eine Legende halte.‘“ 



Während die Radsport-Fans sich fragen mögen, was Horners nächster Schritt nach seiner aktiven Karriere sein wird, tut Horner das nicht. Er konzentriert sich ganz darauf, seine Profilaufbahn fortzusetzen. Horner twitterte Anfang Oktober die Geschichte seiner Karriere – in 140-Zeichen-Kapiteln. Sein #ididthat!-Monolog verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Die Serie von zwei Dutzend Mitteilungen habe er aus einer Laune heraus abgesetzt, erklärt Horner. „Ich holte meine beiden ältesten Töchter vom Wasserball-Training ab. Ich dachte: ‚Mann, ich habe es satt, gefragt zu werden, ob ich einen Job habe.‘ Davor hatte ich mir ein paar von den Vuelta-Etappen angeschaut, und sie sprachen darüber, dass ich nächstes Jahr das große Geld mache. Also dachte ich mir, dass die Leute verstehen müssen, wie es ist, Radprofi zu sein. Und es ist wirklich ähnlich wie bei Leuten, die einen Acht-Stunden-Tag haben. Es ist, wie wenn du 60 Stunden in der Woche arbeitest, um befördert zu werden, und dann wird ein Typ befördert, der nur 40 Stunden arbeitet. Als ich nach Hause fuhr, dachte ich, dass es viele Leute interessiert, was ich getan habe, um an diesen Punkt zu kommen. Diese unglaubliche Errungenschaft, dieses unglaubliche Comeback  und all diese Leute, die mich einfach abgeschrieben haben – wieder mal. Aber es war nicht nur Frust. Ich habe gehofft, dass die Leute sehen, was ich durchgemacht habe und was ich erreicht habe, und ihr Leben mit meinem vergleichen. Ein Typ schrieb zurück und sagte: ‚Ach, hör auf zu jammern, wir haben es alle manchmal schwer im Leben.‘ Es ging nicht ums Jammern, es ging darum, zu zeigen, dass ich immer noch kämpfe, um in dem Sport zu bleiben.“



Cover Procycling Ausgabe 118

Den vollständingen Artikel finden Sie in Procycling Ausgabe 118.

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