Die Bürde des Siegers

Portugal reagierte im September euphorisch auf Rui Costas Weltmeistertitel. Doch reicht ein Regenbogentrikot, um der angeschlagenen Radsportszene des Landes wieder auf die Beine zu helfen?

 

Rui Costa kann nicht sagen, dass er so etwas noch nie erlebt hätte, weil das eine Lüge wäre. Nur drei Monate zuvor hatte er auf dem Flughafen „Francisco de Sá Carneiro“ in Porto seinen Koffer vom Gepäckband gehievt, war durch die Zollabfertigung und die automatischen Schiebetüren geschritten und in einem summenden Bienenstock voller Fans gelandet. Es waren vielleicht mehrere Hundert, die gekommen waren, um den portugiesischen Sportler des Jahres 2012, der eine Woche zuvor seine zweite Tour de Suisse in Folge gewonnen hatte, in Empfang zu nehmen. Allerdings gab es einen bedeutenden Unterschied zum 19. Oktober, als Costa nach der Peking-Rundfahrt schließlich in seine Heimat zurückkehrte: die Größe der Menschenmenge. Dieses Mal drängten sie sich wie Sardinen in der Dose – die sardinhas, die die Wirtschaft in Costas Geburtsort Póvoa de Varzim seit Jahrhunderten über Wasser halten. Die Presse sollte am nächsten Tag berichten, dass es 2.000 Menschen waren. Costa schaute hoch und sah, dass selbst die Balkons gegenüber der Ankunftshalle voller jubelnder Fans waren. Irgendwann trat eine kleine Frau mittleren Alters mit kurzem grau-schwarzem Haar aus dem Pulk hervor, um ihn zu begrüßen. Es war die Marathon-Olympiasiegerin von 1988, Rosa Mota, die noch kurz zuvor die prominenteste Figur unter den portugiesischen Ausdauersportlern gewesen war.

Solche Zahlen, eine solche Zeremonie und eine solche Begeisterung schienen nicht zu passen zu einem Land, dessen Radsportszene man im Ausland weitgehend abgeschrieben hat. „Die Zukunft des Radsports liegt nicht in Portugal“, sagte ein französischer Profi mit portugiesischen Wurzeln, Carlos Da Cruz, vor ein paar Jahren zu Procycling. Diese pessimistische Prognose wurde seitdem durch eine Serie von Negativmeldungen bestätigt: Dopingskandale, bankrotte Teams, ein schrumpfender nationaler Kalender und eben dieser Ruf im Ausland, ein hoffnungsloser Fall zu sein. Solchen Schnappschüssen fehlen aber immer die Schattierungen. José Azevedo, der beste portugiesische Fahrer der letzten 20 Jahre vor Costa, ist überzeugt, dass „Radsport immer noch die zweitwichtigste Sportart in Portugal ist, nach dem Fußball“. Die Reaktion der Medien auf Costas Sieg – von der Titelseite der Sportzeitung A Bola, die seiner „portugiesischen Brillanz“ gewidmet war, bis hin zur großen Tageszeitung Diário de Notícias, die einen „historischen Tag“ feierte – schienen Azevedos Bild von einer Nation mit einem reichen und tiefen Radsport-Erbe zu bestätigen. Doch es wäre genauso gefährlich, eine Sportart im Dunstschleier eines berauschenden Nachmittags zu betrachten. Azevedo sagt: „Wenn ich jetzt zu einem Junioren-Rennen in Portugal gehen würde, wäre das Feld halb so groß wie zu meiner Kinderzeit.“ Was die Berichterstattung angeht, so glaubt die portugiesische Radsportjournalistin Helena Dias nicht, dass die Titelgeschichten für einen Trend sprechen – jedenfalls noch nicht. „Rui Costa hatte zwei wichtige Etappen der Tour de France gewonnen, auch die Tour de Suisse, aber erst nach dieser Weltmeisterschaft hat er es auf die erste Seite der drei großen Sportzeitungen geschafft. Ob das auch so gewesen wäre, wenn am Tag zuvor ein wichtiges Fußballspiel gewesen wäre, ist die Frage …“

Egal, was die Zukunft bringt, egal, wie sich Costas Weltmeistertitel langfristig auswirkt – die Radsportfans und Experten in Portugal sind sich zumindest darin einig, dass der Sport in dem Land eine glorreiche Vergangenheit hat. Joaquim Agostinhos dritte Plätze 1978 und 1979 sind die besten portugiesischen Ergebnisse bei der Tour de France, und Rui Costa ist ihr erster Weltmeister, doch der Radsport hat am Rande der iberischen Halbinsel tiefere Wurzeln. Die Landesrundfahrt, die Volta a Portugal, wurde 1927 (acht Jahre vor der Vuelta a España) ins Leben gerufen und ging bis in die 1980er hinein über drei Wochen. Das Rennen ist noch immer ein Publikumsmagnet, sowohl am Straßenrand als auch in den portugiesischen Haushalten – bei der Live-Übertragung schaltet immer noch fast die Hälfte der Fernsehzuschauer ein. Wie Tomas Metcalfe-Swift, ein in Portugal geborener und aufgewachsener Profi britischer und irischer Abstimmung, feststellt, „ist es im Grunde wie die Tour de France. So viele Zuschauer wie bei der Tour de France, so viel Fernsehberichterstattung wie bei der Tour de France“.

Aber ähnlich wie die Tour für die Franzosen ist die Volta für die Portugiesen Fluch und Segen zugleich geworden. „Aus Sicht der Sponsoren dominiert die Volta alles“, sagt Azevedo. „Die erste Frage, die ein Sponsor stellt, der ein Team unterstützen will, ist: Sind wir bei der Volta? Es ist das einzige Rennen, das live im frei empfangbaren Fernsehen in Portugal gezeigt wird. Ob Ruis Weltmeistertitel das ändern wird, bezweifle ich. Wir haben noch ein größeres Rennen, die Volta ao Algarve, an der internationale Teams teilnehmen, aber darüber wird nicht berichtet. Die Algarve ist eine der größten Touristenregionen der Welt und hat eine der schönsten Küsten. Ich verstehe nicht, warum die nationale und regionale Tourismusbehörde sich nicht dafür einsetzen, dass das Rennen auf Eurosport gezeigt wird.“

Ein Problem, so Azevedo, sei, dass die Volta a Portugal schon immer für viele Firmen und Teams attraktiv war, die sich dort für wenig Geld einmal groß in Szene setzen wollen und kein Budget oder Interesse haben, ihren Horizont über dieses eine Rennen hinaus zu erweitern. „Unsere Pyramide ist auf den Kopf gestellt“, bemerkt Azevedo. „Wir haben ein halbes Dutzend Profiteams auf Continental-Niveau, da die Firmen ihren Namen bei der Volta im Fernsehen sehen wollen. Aber weiter unten, im U23-Bereich und bei den Junioren, investiert niemand. Es gibt nichts, was im Entferntesten so wäre wie Sky, die auf vielen Ebenen in den Sport investieren wollen. Theoretisch könnte Ruis Erfolg viele Kinder inspirieren, aber so, wie es aussieht, frage ich mich, ob wir in ein paar Jahren überhaupt noch Fahrer haben. Es gibt viele Leute in Portugal, die Rad fahren, aber die sind alle über 35. Es ist ein Sport der alten Männer.“ Azevedo und andere wären optimistischer, wenn Portugals zugegebenermaßen inselartiges, mit bescheidenen Mitteln ausgestattetes Mikrosystem von Mannschaften und Rennen so funktionieren würde wie bisher, aber das ist leider nicht der Fall.

Vor acht Jahren gab es zehn Profiteams in Portugal, 2014 werden es wahrscheinlich nur noch sechs sein. Ähnlich ist es bei den Rennen: 2006 standen 39 Rennen der UCI-Kategorie 2.1 oder höher im portugiesischen Kalender. Sieben Jahre später, 2013, waren es noch magere 18. An den Stammtischen mag man naserümpfend einwenden, dass man erntet, was man sät, und Portugal jahrelang ein Doping- und Doper-Eldorado war, dessen Tarnung schließlich mit Verspätung durch eine Serie von schlagzeilenträchtigen Skandalen aufflog. Es sei kein Wunder, dass die Sponsoren Reißaus nahmen und die Rennen verschwanden, werden sie sagen, wenn vor zehn Jahren die Volta für Doping stand wie das Oktoberfest für Bier. Aber das ist die uninformierte Sichtweise von Außenstehenden. Die Wahrheit, glaubt Tomas Metcalfe-Swift, ist, dass „90 Prozent der Verschlechterung in der portugiesischen Szene auf die Wirtschaftskrise zurückzuführen ist, nicht auf Doping“. Und der Rückgang ist dramatisch, sagt Metcalfe-Swift. „Bis vor zwei Jahren war der Kalender gut und du konntest hier Karriere machen. Jetzt fährst du ein Rennen und wartest drei oder vier Wochen auf den nächsten Wettbewerb. Der Verband hat ein Mindestgehalt durchgesetzt, aber das beträgt 700 Euro im Monat, und davon leben die meisten …“

 

Das Geld fehlt an allen Ecken und Enden. Nicht nur im Radsport, sondern in Portugal generell. Vor mehr als zwei Jahren haben die Europäische Union und der Internationale Währungsfond Portugal Notkredite über 78 Milliarden Euro gewährt, doch die Sparmaßnahmen, mit denen die Staatsverschuldung abgebaut werden soll, sind hart. Daher verlassen die Portugiesen scharenweise das Land; mehr als zwei Prozent der Bevölkerung sind allein in den letzten Jahren ausgewandert. Als die Regierung im Oktober den neuen Haushalt vorlegte, kündigte sie an, die Einkommen im öffentlichen Dienst um ein ganzes Monatsgehalt zu kürzen. Regionalregierungen und Kommunen, die traditionell eine Säule des Radsport-Sponsorings in Portugal waren, müssen jetzt auf vermeintlich überflüssige Ausgaben verzichten. Wenn man eine ganze Mannschaft mit dem finanzieren kann, was Sky für einen Berg-Domestiken ausgibt, sind die zehn Tage Sendezeit bei der Volta immer noch attraktiv – aber es ist kein Prestige-Produkt, wenn der einzige Fahrer, von dem man schon mal etwas gehört hat, Rui Costa ist, und er in Portugal nur die Algarve–Rundfahrt bestreitet.

Man könnte natürlich einwenden, dass Costa den Weg weist, indem er tut, was Agostinho in den 1960ern und 70ern tat und ins Ausland geht, aber selbst Costa musste in einem portugiesischen Team – Benfica – anfangen. „Wenn wir im internationalen Profipeloton stärker vertreten sein wollen, müssen wir den Kalender ausbauen“, sagt Helena Dias. „Wir fangen jede Saison mit einem ansehnlichen Programm an, aber dann wird ein Rennen nach dem anderen abgesagt, weil kein Geld da ist, und wir verlieren Tage. Die Fahrer sind diejenigen, die darunter leiden, weil sie sich nicht in Szene setzen und das Interesse von ausländischen Teams wecken können.“ Die Frage ist also, ob Rui Costas Sieg helfen kann, den Trend umzukehren – und wenn nicht, was kann es dann? Glücklicherweise scheint es nicht die Selbstgefälligkeit zu geben, aus der heraus Italien seinen Radsport hat verkümmern lassen und Spanien sich weigerte, etwas gegen sein Doping-Problem zu unternehmen. Der Präsident des portugiesischen Radsportverbands (FPC), Delmino Pereira, ist für die Saison 2014 „vorsichtig optimistisch“. Pereira sind durch ein knappes Budget die Hände gebunden, aber unter seiner Regie hat der Verband in den letzten zwei Jahren schon einige Initiativen gestartet. Die Aussichten für Profis in dem Land wären noch schlechter, glaubt Metcalfe-Swift, wenn der Verband den Continental-Teams nicht auferlegt hätte, ihren Fahrern Vollzeit-Verträge zu geben, statt sie als Freiberufler zu beschäftigen, die Steuern und Sozialabgaben selbst tragen müssen, wie es gängige Praxis geworden war.

Vor allem aber setzt sich der portugiesische Verband seit ein paar Jahren gegen Doping ein – mit einem Nachdruck, der gängige Vorurteile ad absurdum führt. Zu verdanken ist dies vor allem Luis Horta, dem Präsidenten der portugiesischen Anti-Doping-Agentur (ADoP), die auf sein Betreiben hin 2009 gegründet wurde. Als wir im November mit ihm sprechen, erklärt Horta großzügig, dass nichts, was seine Agentur unternimmt, ohne die Unterstützung des Verbandes möglich wäre. Klar ist, dass der FPC und die ADoP keine halben Sachen machen. Die Statistik ist beeindruckend – vom biologischen Pass, den sie 2010 aus eigener Kraft eingeführt haben und der jetzt 132 Fahrer umfasst (die fast alle vom UCI-Blutpass ausgeschlossen sind, da sie Continental-Teams angehören), bis hin zu der Tatsache, dass 2012 ganze 164 Blutproben auf CERA und 181 auf menschliche Wachstumshormone untersucht wurden. In diesem Jahr gab es in zwei Fällen Unregelmäßigkeiten in den Profilen, aber generell gibt es klare Zeichen, dass im portugiesischen Radsport aufgeräumt wurde. „Die Mentalität der Fahrer hat sich in den letzten Jahren geändert. Dies liegt vor allem an der Arbeit in den U23-Teams, die auf die langfristigen Folgen dieser Substanzen aufmerksam machen“, sagt Helena Dias. Trotzdem warnt sie: „Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass alle, die für den verursachten Schaden verantwortlich sind, aus dem Radsport verjagt wurden.“

Ein aufpoliertes Image und genug Zeit in Verbindung mit einem wirtschaftlichen Aufschwung könnten schließlich die Wende bringen, aber vielleicht ist auch mehr erforderlich. Bei der diesjährigen Volta kursierten Gerüchte, wonach drei große portugiesische Fußballclubs – Benfica, Sporting Lissabon und Boavista – damit lieb-äugeln würden, wieder in den Radsport einzusteigen. Das wäre eine ermutigende Entwicklung, ebenso wie die Gründung einer „ibe-rischen Liga“ mit portugiesischen und spanischen Teams und Rennen, die durch die Reformen des UCI-Kalenders nun gettoisiert sind. Fast alle im portugiesischen Radsport scheinen die Idee zu begrüßen, und erste Schritte, um dies auf Landesebene zu verwirklichen, sind bereits im Gange.

Aber sollte all das erfolglos bleiben, ruht die ganze Last auf Rui Costas Schultern. Sein Erfolg bei der Weltmeisterschaft mag kleinere Wellen geschlagen haben, aber ein Sieg bei der Tour de France würde eine Woge der Begeisterung auslösen, die so stark wäre wie die Brandung vor der Küste von Póvoa de Varzim. Kann er dafür sorgen? Ein Wechsel zu Lampre-Merida ist vielleicht nicht der beste Start, aber dass er dort einen Vertrag für eine Saison unterschrieben hat, statt den von den Italienern angebotenen Drei-Jahres-Deal anzunehmen, weist darauf hin, dass Costa sich an die Kapitänsrolle für eine große Rundfahrt herantasten will. Norberto Santos von der portugiesischen Sportzeitung Record glaubt: „In ein oder zwei Jahren kann Rui Costa bei der Tour de France zu den Favoriten zählen“, doch José Azevedo kennt Costa viel besser und ist vorsichtiger. „Er muss einen Schritt nach dem anderen machen“, sagt er. „Erst sollte er die Top Ten, dann vielleicht die Top Fünf und dann den Sieg anstreben. Bisher hat er Bergetappen gewonnen, aber nicht von vorn, wenn ihn alle beobachtet haben. Bei der Tour von Anfang bis Ende zur Stelle zu sein, ist etwas ganz anderes.“

An einem Punkt besteht kein Zweifel: Sollte Rui Costa irgendwann im Gelben Trikot durch die automatischen Schiebetüren kommen, nachdem er aus einem Flugzeug aus Paris ausgestiegen ist, wird es in der belebten Ankunftshalle des Flughafens kein Halten mehr geben.



Cover Procycling Ausgabe 119

Den vollständingen Artikel finden Sie in Procycling Ausgabe 119.

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