Der ForlÌ-Express

1956 stach ein 23 Jahre alter Amateur Fausto Coppi und Jacques Anquetil aus und brach den Stundenweltrekord. Angesichts der Tatsache, dass Fabian Cancellara und Tony Martin mit einem Angriff auf den Rekord liebäugeln, sprach Procycling mit dem ältesten Eroberer der „Stunde“.

 
 

Ein sengend heißer Samstagnachmittag im Hochsommer in Mittelitalien. Die Autostrada A23, ein Zubringer zu den Seen und der Sommerfrische im Norden, hat sich in einen Heißluftofen verwandelt. Mürrische Deutsche, schimpfende Holländer, unbeholfene Briten und missmutige Franzosen schieben sich Stoßstange an Stoßstange vorwärts, ihre Fortschritte, sofern vorhanden, ein Spiegelbild der Zeiten in Europa. Alle haben sich vom italienischen Charme verführen lassen, aber alle werden dafür zur Kasse gebeten. Die Maut kostet ein Vermögen und die Spritpreise explodieren dank der Steuer. Die Tankstellen sind chaotisch und teuer, die Mitarbeiter gereizt. Während italienische Ökonomen spekulieren, ob ihr Land unter den Rettungsschirm muss, verdeutlichen die Massen aus dem Ausland genau das. Ohne ihre Kaufkraft würde alles zusammenbrechen. Glücklicherweise fahren wir östlich von Bologna ab, um das perfekte Gegenmittel zu diesem Chaos zu finden. Procycling befindet sich in Gesellschaft eines wahren Großen. Ercole Baldini, seinerzeit auch „Forlì-Express“ genannt, ist nicht nur einer der liebenswürdigsten Exprofis des Landes, sondern wohl auch einer seiner größten. Er brach 1956 den Stundenweltrekord und war drei Jahre lang unbestritten der beste Radsportler auf dem Planeten. 1958 bezwang er beim Giro den großen Kletterer Charly Gaul und ließ der Konkurrenz beim WM-Straßenrennen keine Chance. Hätte er auch an der Tour teilgenommen, ist es kaum vorstellbar, dass er das Triple nicht komplettiert hätte. Damals gab es einfach niemanden, der ihm gefährlich werden konnte.

1933 als vierter von sechs Brüdern geboren, war Ercole ein sehr aufgeweckter Junge. Mit 17 besuchte er eine polytechnische Lehranstalt, bevor das Schicksal ins Spiel kam. „Mein Vater versprach mir ein Bianchi-Rennrad, wenn ich die Prüfungen bestehe“, erinnert er sich. „Ich bin durchgesegelt und das war’s. Ich bat meine Eltern, sich hinzusetzen, und erklärte ihnen, dass ich im folgenden Jahr nicht mehr zur Schule gehen würde. Ich wollte Vollzeit-Rennfahrer werden, und egal, was sie taten oder sagten, sie würden mich nicht davon abhalten. Mein Vater sagte: ,Du hast nicht die leiseste Ahnung, was es heißt, Radprofi zu sein. Wenn du es wüsstest, würdest du dich anstrengen und weiter zur Schule gehen.‘ Aber ich strengte mich an und fuhr. Mein Vater wurde mein größter Fan und wichtigster Kritiker.“

Fahren und Gewinnen wurde ein und dasselbe – auf der Bahn und im flachen Gefilde der Emilia-Romagna war Baldini praktisch nicht zu stoppen. Als Verfolger war er unerreicht, auf der Straße fuhr er einfach allen davon. Er gewann und gewann, zuerst zu Hause und dann jenseits der Grenze in der Schweiz. 1954 organisierte der italienische Radsport-Verband die „Rekordwoche“ im Vigorelli, dem großen Mailänder Velodrom. Obwohl es kaum mehr als eine (sehr lukrative) Unterhaltung fürs Publikum war, überredete Ercoles Trainer ihn, den Stundenweltrekord für Amateure in Angriff zu nehmen. „Es war spät in der Saison, ich war erschöpft und überhaupt nicht vorbereitet. 48 Stunden später sollte ich zum Militärdienst antreten, aber ich sagte, dass ich es trotzdem versuchen wollte. Doch die Bahn war nass und ich hatte zweimal einen Platten, also gab ich auf und beschloss, am nächsten Tag mit dem ersten Zug nach Hause zu fahren.“ Aber stattdessen wachte Ercole auf, frühstückte und ging schnurstracks zurück zum Vigorelli. Mit 44,87 km pulverisierte er den Amateurrekord, wovon die italienische Presse allerdings nicht sehr beeindruckt war. Es sei ein anständiger Versuch gewesen, schrieben sie, aber er sei einen Kilometer hinter Coppis absolutem Rekord zurückgeblieben, den dieser schon 1942 aufgestellt hatte. Der Vergleich war ebenso schmeichelhaft wie ungerecht. Baldini war offensichtlich talentiert, aber er war gar nicht angetreten, den Campionissimo zu überbieten. „Nicht einen Moment lang habe ich geglaubt, in seiner Klasse zu sein, schon gar nicht sein designierter Erbe“, sagt er heute. „Aus irgendeinem Grund bestanden sie weiter darauf, dass ich der Auserwählte sei, und das taten sie jahrelang. Es war grob unfair, aber ich glaube gleichzeitig auch ein Ansporn.“

„Neuer Coppi“ hin oder her, es war klar, dass der junge Mann unglaublich talentiert war. Als Jacques Anquetil nach zwei gescheiterten Versuchen im Juni 1956 schließlich Coppis „unschlagbare“ Stunde verbesserte, nahm Giovanni Proietti, der italienische Auswahltrainer, Baldini unter seine Fittiche. Mit längeren Kurbelarmen und einer neuen Position wurde er zur Verfolgungs-Weltmeisterschaft nach Dänemark geschickt. Obwohl er sich eine Grippe zuzog, schlug er im Finale einen anderen Italiener, Leandro Faggin. Anquetil ließ sich zu dem Kommentar hinreißen: „Es würde mich nicht wundern, wenn er eines Tages den Stundenweltrekord bricht.“ Am Abend des 19. September 1956 schickte sich Baldini vor 15.000 begeisterten Fans an, genau das zu tun. Auf einem 6,45 Kilogramm leichten Rad mit einer 53 x 15-Übersetzung verbesserte er Anquetils Marke um 235 Meter. Die Gazzetta dello Sport pries das „Wunder vom Vigorelli“ und schwärmte vom „elegantesten Fahrer in der Geschichte des Radsports“. Aber Ercole glaubte, noch mehr auf Lager zu haben. „Da sind zwei Dinge, an die man denken muss. Erstens blies mir auf der Gegengeraden der Wind ganz schön ins Gesicht, und ich war erst 19. Wir hätten es verschieben sollen, aber das Velodrom war voll, also mussten wir es durchziehen. Zweitens war der Sinn der Übung, den Rekord zu brechen, nicht mehr und nicht weniger. Ehrlich gesagt haben sie mich zurückgehalten, weil sie Angst hatten, dass der Wind, die Belastung und die Erschöpfung mir zu sehr zusetzen würden.“

Baldini erreichte im Winter in Australien olympisches Gold und wurde dann 1957 Profi. Zwei Jahre lang gewann er so gut wie jedes Rennen, das er ernsthaft anging, und in diesem Sinne war er der neue Fausto Coppi, ob es ihm gefiel oder nicht. Obwohl er nie behauptet hatte, ein Kletterer zu sein, schien ihm, als er Gaul beim Giro 1958 bezwang, die Welt zu Füßen zu liegen. Sein Triumph bei der Weltmeisterschaft in Reims nach 240 Kilometern an der Spitze einer vierköpfigen Ausreißergruppe bleibt eine der legendärsten Leistungen in der Geschichte der Titelkämpfe. Es war sowohl ein Höhepunkt als auch der Anfang vom Ende. Als sich Baldini im Frühjahr 1959 in Herne Hill eine Grippe zuzog, wurde daraus eine Lungenentzündung. Dann hatte er kurz vor dem Giro eine Blinddarmoperation, fuhr die Rundfahrt aber trotzdem. „Ich hätte das nicht tun sollen, aber sie haben mir viel Geld bezahlt und ich hatte das Gefühl, es den Sponsoren schuldig zu sein. Ich hakte die Saison ab und war nie wieder derselbe.“

Unterdessen knackte Roger Rivière, Anquetils Erzrivale, zweimal seinen Stundenweltrekord: 1957 und 1959. „Ich hatte nie die Motivation, es noch einmal zu versuchen, und ich war Straßenfahrer geworden. Obwohl ich den Rekord wahrscheinlich 1958 hätte brechen können, hatte ich genug von der Bahn.“ Rivières zweite „Stunde“ war eine beeindruckende Vorstellung, obwohl sie allem Anschein nach von Amphetamin in extremer Dosierung beflügelt wurde. Danach schlummerte „die Stunde“ acht Jahre, bevor Ferdi Bracke in den späten 60ern eine Reihe von Versuchen startete. Als Eddy Merckx 1972 vom Rad stieg, nachdem er auf 2.300 Metern über dem Meeresspiegel die Bestmarke überboten hatte (49,431 km), sagte er, der Stundenweltrekord sei das Schrecklichste gewesen, was er je auf einem Rad gemacht habe. Baldini kann Merckx gut verstehen, hat aber selbst eine ganz andere Erfahrung gemacht. „Der Punkt ist, dass Eddy kein Spezialist war“, sagt er. „Er hat es geschafft, weil er ein begnadeter Rennfahrer war, aber auch, weil er nach Mexico City ging. Eddy war der größte Rennfahrer, keine Frage, aber er war kein geborener Zeitfahrer. Die Natur dieser Disziplin, dieses metronomische Leiden, fiel ihm nicht in den Schoß. Leuten wie mir, Anquetil und Rivière fiel es leicht, auch Leuten wie Chris Boardman. Wir hatten ganz andere Motoren als Leute wie Merckx.“

 

Es sollte nach Merckx zwölf Jahre dauern, bis Francesco Moser den Faden wieder aufnahm. Auch er war ein Naturtalent, aber bei seiner modernen Herangehensweise ging es vor allem um sein Aero-Rad und die Zahl seiner roten Blutkörperchen. Dann blieb der Rekord fast ein Jahrzehnt unangetastet, bis sich Boardman und Graham Obree Mitte der 90er-Jahre einen Wettlauf lieferten. Ihre Rivalität war persönlicher und technischer Natur, und die Fortschritte in Bauweise und Aerodynamik ließen sie auf 53 Kilometer kommen. Gleichzeitig trugen Toni Rominger und Miguel Indurain einen Parallelwettbewerb aus, bei dem wahrscheinlich medizinisch nachgeholfen wurde und bei dem Rominger Boardmans Marke um zwei Kilometer verbesserte.

Als Reaktion auf all dies legte die UCI neue technische Standards fest, womit sie praktisch alle Versuche seit dem von Merckx 1972 entwertete. Diese hießen nun „Weltbestleistungen“, während die Version mit dem Material von 1972 – Stahlrahmen, Rennlenker, traditionell eingespeichte Laufräder – nun wieder das einzig Wahre war. Boardman benutzte bei seinem Versuch im Jahr 2000 im Wesentlichen dasselbe Rad wie Merckx, nur dass er es auf Höhe des Meeresspiegels in Manchester machte. Seitdem hat nur Ondrej Sosenka den neuen Rekord verbessert. Er tat dies im Jahr 2005, doch seine mangelnden Star-Qualitäten schadeten letztlich nur einer Disziplin, die, wie Baldini findet, ein hohes Prestige genießen sollte. „Die UCI hat eine Verantwortung, sich um den Stundenweltrekord zu kümmern, weil er Radsport in seiner reinsten Form ist und einen großen Champion verdient. Ich hoffe wirklich, dass Cancellara es macht und dass Leute wie Bradley Wiggins und Tony Martin sehen, welchen Stellenwert es hat. Wenn Wiggins den Straßenradsport abhakt, sollte er in der Lage sein, eine sensationelle Stunde abzuliefern.“

Die Gründe, warum die heutige Generation den Rekord nicht auf dem Schirm hat, sind vielfältig, vor allem aber hat es mit dem neuen Gesicht des Sports zu tun. Für Coppi, Baldini und Anquetil waren lange Zeitfahren ihr tägliches Brot. Das Publikum gierte danach, und bei den beiden großen Landesrundfahrten stand deshalb regelmäßig ein 60 bis 80 Kilometer langer Test auf dem Programm. 1957, als Rivière sich anschickte, den Rekord im Vigorelli zu brechen, fuhr Baldini vom 8. September bis 4. November ganze sechs Zeitfahren. Anquetil schlug ihn beim Swiss GP Martini und wiederholte die Vorstellung beim Grand Prix de Nations. In der folgenden Woche gewann Baldini den Giro del Lazio über 116 Kilometer, bevor er jenseits der Schweizer Grenze beim GP Campari erneut triumphierte. Schließlich gewannen er und Coppi die Trofeo Baracchi, ein 108 Kilometer langes Paarzeitfahren von Brescia nach Bergamo.

Auch wenn Baldinis Behauptung, er habe sich nicht speziell auf den Stundenweltrekord vorbereitet, verwundern mag: Fakt ist, dass er und seine Kollegen darauf konditioniert waren, große Distanzen gegen die Uhr zu fahren.
„Durch die neue Mentalität und die Entwicklung des Kalenders hat es an Bedeutung verloren. Wir fuhren früher im Winter auf der Bahn, aber als die Straßensaison länger wurde, verschwand das nach und nach. Als die beiden Disziplinen sich voneinander lösten, blieben die langen Zeitfahren auf der Strecke. Infolgedessen gab es weniger Spezialisten und die Zeitfahren wurden gekürzt. Als Nächstes führten sie die Zeitfahr-Weltmeisterschaft ein, bei der der Sieger das Regenbogentrikot ein Jahr lang behielt. Also wurde der Stundenweltrekord vernachlässigt, wo er doch für alle großen Champions unverzichtbar sein sollte. Wenn ich mir zum Beispiel Hinaults Palmarès anschaue, empfinde ich ihn als unvollständig. Er hat nie die Stunde in Angriff genommen, und das hätte er tun sollen.“

In gewisser Hinsicht ist die Tatsache, dass Leute wie Cancellara damit liebäugeln, ein Beweis für die fortdauernde Anziehungskraft des Rekords. Es ist 14 Jahre her seit Boardmans „Stunde“, aber das Event hat immer noch seinen Reiz. Das Problem ist, dass die heutigen Stars denken, sie könnten es nur mit intensiver Vorbereitung schaffen und und würden dadurch einen Teil der Straßensaison verpassen. Baldini ist dennoch überzeugt, dass es immer wieder jemanden geben wird, der den Rekord in Angriff nimmt. „Wer immer es macht, wird ein Champion sein. Der Radsport ist heute so wissenschaftlich, dass sie sich nur dann auf den Rekordversuch festlegen werden, wenn sie sicher sind, dass die Zahlen stimmen, und die bloße Tatsache, dass es so lange gedauert hat, unterstreicht das. Seine Seltenheit macht ihn noch wertvoller. Es braucht einen übermenschlichen Athleten und eine übermenschliche Leistung, und so sollte es sein.“

Der 80 Jahre alte Ercole Baldini war ein phänomenaler Athlet. Er ist der älteste lebende Giro-Sieger und der älteste Stundenweltrekordler. Pierre Chany, der Altmeister unter den französischen Radsport-Journalisten, schrieb einmal: „Er bereicherte die Legende unseres Sports, weil er zwischen Bahn und Straße wechseln konnte, wie es nur die Großen können.“ Es ist zu hoffen, dass einer aus der heutigen Generation die Courage und die Entschlossenheit aufbringt, den gleichen Schritt in die entgegengesetzte Richtung zu machen. Die „Stunde“, die reinste aller großen Radsport-Disziplinen, hätte es verdient.



Cover Procycling Ausgabe 120

Den vollständingen Artikel finden Sie in Procycling Ausgabe 120.

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