Wer zuletzt lacht

Erfolg bei Paris – Roubaix war schon immer etwas Subjektives. Procycling untersucht die bizarre Logik der Hölle des Nordens.

 

Entgegen der landläufigen Meinung war es ein Geistlicher namens Ethelbert Talbot, der auf die Idee kam. Als Pierre de Coubertin, Gründer der Olympischen Spiele der Neuzeit, das Motto „Dabeisein ist alles“ prägte, klaute er einfach einen Satz des Bischofs von Wyoming. Wenn man ehrlich ist, ist es sowieso gut gemeinter Kokolores, und die Geschichte des Radsports liefert einen schlüssigen Beweis. Es ist im Prinzip alles gut und schön, aber seit wann ging es bei Radrennen um Prinzipien? Da Radrennen erfunden wurden, um Fahrräder und Zeitungen zu verkaufen, waren die meisten Teilnehmer nichts weiter als wandelnde Werbetafeln. Sie waren Kanonenfutter, und es hatte nicht im Entferntesten etwas Moralisches an sich, sie unmenschliche Distanzen auf Feldwegen fahren zu lassen.

Nehmen Sie zum Beispiel Paris – Roubaix. Man konnte Geld damit machen, die Sportler durch Schutthalden und Bombenkrater fahren zu lassen, aber wir sollten uns nicht vormachen, dass es etwas mit Tapferkeit zu tun hatte. Objektiv betrachtet, hatte es nichts Verträumtes oder Romantisches, am Ostersonntag durch die Bergarbeiterdörfer von Nordfrankreich zu fahren. Höchstwahrscheinlich war es kalt und windig und regnete in Strömen, und wenn man Glück hatte, bekam man stattdessen Staub ins Gesicht. So oder so fuhr man über übelstes Kopfsteinpflaster, und daran war nichts Ehrenhaftes. Außer natürlich, wenn man denkt, junge Männer hinauszuschicken, damit sie Leib und Leben – und Spott – riskieren, sei lobenswert. Moral hatte also nichts mit Paris – Roubaix zu tun, ebenso wenig wie herkömmliche Logik. Ein Jahrhundert später sollte ein britischer Radrennfahrer sagen, es sei ein Zirkus und die Fahrer seien Clowns. Und er hatte recht – es war eine Freakshow. Als das Rennen ins Leben gerufen wurde, war der Bahnradsport viel beliebter als Straßenradsport und auch wirtschaftlich viel lukrativer. Die Eigentümer der Radrennbahnen kassierten nicht nur für Reklamewände, sondern konnten dem Publikum in der Halle auch Essen und Trinken verkaufen. Man konnte sich einen Abend lang amüsieren wie Bolle, Wetten abschließen, Mädchen kennenlernen und sich sogar sinnlos betrinken, wenn man wollte. Das war der Grund, warum die Radrennbahnen voll waren, es jede Menge Veranstaltungen gab und die Fahrer ganz gut verdienten.

Der Straßenradsport hingegen war vollkommen sinnlos. Man wartete an der Straße, bis ein Haufen Rennfahrer durch den Ort gerast kam, und las vielleicht am nächsten Tag etwas darüber in der Zeitung, und das war’s dann. Die beste Art, das Publikum für den Straßenradsport zu begeistern, dachten die Verfechter dieser Variante daher, wäre, die Rennen so grauenhaft wie möglich zu machen. Wenn die Distanzen nur brutal genug waren, überlegten sie, musste das Publikum sich dafür interessieren und die Zeitungen kaufen. Also gab es (eine Art) Logik, aber sie war makaber und grausam. Es war unaufrichtig und hatte überhaupt nichts mit dem bloßen „Dabeisein“ zu tun. Berufsradfahrer wurden bezahlt – wenn auch meistens nicht sehr gut – um „teilzunehmen“, und aus diesem Grund taten rund 150 das jedes Jahr. Aber auch hier sollten wir uns nicht täuschen. Rennen wie Paris – Roubaix waren nie eine Metapher für eine Art höherer Berufung. Die meisten nahmen wegen des Geldes daran teil, und daran ist nichts besonders Nobles.

Grob gesagt gab es zwei verschiedene Typen: die Unabhängigen und die Profis. Erstere waren meist ein Haufen von Taugenichtsen, die mit dem Radfahren ein bisschen Geld zusammenkratzen wollten. Die Profis hingegen starteten, weil sie vertraglich dazu verpflichtet waren und, wenn sie sich weigerten, entweder arbeitslos waren oder ihre Kohle buchstäblich unter Tage machen mussten. In den Anfangszeiten waren alle Straßen von Paris – Roubaix entweder Schotter oder Pavé – Kopfsteinpflaster. Als sie asphaltiert wurden, war das Los der Radfahrer wesentlich leichter, während die Pflastersteine eine größere Herausforderung darstellten. Die Rennfahrer verweichlichten, weil das ganze Leben komfortabler wurde, mithin wurde Paris – Roubaix immer anachronistischer und exponentiell härter. Schließlich wurde es so hart – zumindest vergleichsweise –, dass die meisten nichts lieber wollten, als so schnell wie möglich vom Rad zu steigen. Das war ausnahmslos dann, wenn der erste Pavé in Sicht kam, wo die Hölle richtig losging. Was man ihnen eigentlich nicht verdenken kann. Würden Sie am Ostersonntag gerne mit dem Rad die Treppe rauf- und runterfahren? Niemand, der noch bei Sinn und Verstand war, wäre so bekloppt, dass er versuchen würde, das Velodrom in Roubaix zu erreichen – aus Gründen, die zu zahlreich sind, um sie hier aufzuzählen. Aber sie lassen sich auf eine unumstößliche Wahrheit reduzieren – Radsport soll Spaß machen, aber Rou-baix war für alle, bis auf eine kleine Minderheit, ein Nachmittag der Tortur, die man allenfalls ertragen konnte. Daher sei hier zunächst daran erinnert, dass die moralischen Sieger nicht die waren, für die Dabeisein alles war, weil die meistens nichts dringender wollten, als verdammt noch mal dort rauszukommen. Aus der Hölle rauskommen, zum Teufel …

Dann hatte man natürlich die Protagonisten selbst, die Champions. Einer von ihnen würde gewinnen, und natürlich war er dann ein fabelhafter Rennfahrer. Das ist die Radrenn-Logik, aber wie wir bereits festgestellt haben, steht sie im Widerspruch zur Logik von Paris – Roubaix. Daher ist unsere These, dass der Kampf an der Spitze weder die Substanz noch der Geist des Rennens war. Für Roubaix-Legenden wie Gaston Rebry, Roger De Vlaeminck und Francesco Moser war es nur ein Rennen unter vielen, wenn auch ein sehr wichtiges. Sie waren diejenigen, die das Rennen gewinnen konnten, weil es für sie relativ leicht war. Sie waren natürlich außerordentlich talentiert, aber sie tickten auch nicht ganz richtig. Sie genossen es, weil sie Masochisten waren, Perverse.

Es gab im Prinzip drei Arten, über die Pflastersteine zu fahren. Das gemeine Volk versuchte so schnell und so lange wie möglich über sie hinwegzurumpeln. Das war ihr großer Fehler, denn früher oder später drehten ihre Reifen durch und sie kamen auf dem Kopfsteinpflaster zum Stehen. Dann gab es die Ballettkünstler, die einfach über die kantigen Steine hinwegschwebten. De Vlaeminck war das beste Beispiel dafür, weswegen er nie einen Defekt hatte und immer wieder gewann. Es war, als ob ein unsichtbares Luftkissen zwischen seinem Rad und den Pflastersteinen ihn über sie gleiten ließ, als wäre es glatter Asphalt. Obwohl es zunächst schön war, sah es nach einer Weile unnatürlich aus. Es wurde abstoßend, und es ist fraglich, ob es irgendwas mit dem Rennen zu tun hatte, das wir hier besprechen wollen. Die dritte Fraktion hatte auch nichts mit Paris – Roubaix zu tun. Rebry, Moser & Co. beschlossen, sich nicht um das Kopfsteinpflaster zu kümmern, weil das Kopfsteinpflaster sich nicht weiter um sie kümmerte. Natürlich konnte es manchmal ein Ärgernis sein, wenn sie einen Plattfuß hatten oder in einem Krater landeten. Größtenteils fuhr diese Fraktion aber einfach durch das Pavé durch. Sie machten es platt, und auch das ist eine ganz andere Herangehensweise. Jedenfalls erwartete man von Moser und De Vlaeminck, dass sie vorne mitmischten, denn das war ihr Job. Den Ergebnislisten entnehmen wir, dass sie als Erste ins Velodrom einfuhren, und zweifellos besitzen sie immer noch die Siegertrophäe, den Pflasterstein, um es zu beweisen. Aber sie waren nicht die wahren Sieger von Paris – Roubaix. Oh nein …

Nehmen wir zum Beispiel die Auflage von 1977, wo De Vlaeminck mit seinem vierten Sieg den Rekord aufstellte. Er kam, wie zu erwarten war, ohne Probleme durch, und natürlich war es für ihn wie Erbsen schälen. Die Presse verbrachte die nächsten Wochen und Monate damit, seine Legende zu zementieren, erfand Geschichten über seine Genialität und seine „grüblerische Introvertiertheit“. Natürlich war er ein sehr guter Rennfahrer. Aber ein Genie? Grüblerische Introvertiertheit? Roger De Vlaeminck hätte grüblerische Introvertiertheit nicht erkannt, wenn sie sich in seinem großen Kettenblatt verheddert hätte. Die Journalisten schwärmten, aber wir behaupten, dass sie auf dem falschen Dampfer waren. Sie wären besser beraten gewesen, wenn sie die drei Briten interviewt hätten, die 41., 42. und 44. und damit Letzte wurden. Keith Lambert, Geoff Wiles und Phil Corley hatten in ihrer Karriere ansonsten Kriterien in den englischen Grafschaften bestritten, aber irgendwie kamen sie mit vereinten Kräften über die Runden und innerhalb der Karenzzeit ins Ziel. Sie waren vielleicht nicht „geheimnisvoll, ernst und launenhaft“ (um mit Het Volk zu sprechen) wie De Vlaeminck, aber sie waren zusammen, fest entschlossen und absolut unerschrocken. Alles andere als Siegertypen, waren sie monumental in ihrer Niederlage.

 

Ein anderes unvergessliches Jahr war 1955, als Fausto Coppi mit Louison Bobet Krach hatte. Ein anderer Italiener, der Sizilianer Guido Messina, kam so weit nach ihnen ins Ziel, dass die Duschen im Velodrom bereits abgestellt worden waren. Messina nahm als Bahn-Verfolger an Olympia und Weltmeisterschaften teil und war ein Mann, der Coppi, Koblet und Anquetil über 5.000 Meter schlug. Wenn Sie ihn nach seiner Radsportkarriere fragen, wird er Ihnen erzählen, dass Roubaix zu erreichen mit das Beste war, was er auf dem Rad geleistet hat. Messina fuhr durch die Hölle, aber er erfüllte seine Pflicht gegenüber der Radsportgeschichte.

1980 bretterte Moser wie üblich über das Pavé, zerlegte es mit seiner schieren Kraft und hängte sämtliche Verfolger ab. In seinem Oberstübchen war mehr los als bei De Vlaeminck – aber so viel mehr auch nicht. Um Roubaix zu gewinnen, informierte er uns, musste man „stark sein, an der Spitze fahren und Glück haben“. Wie scharfsinnig das war – eine absolute Offenbarung! Er gewann, weil er vorne fahren konnte und weil er ein Radsportkoloss war. Er war Samson auf einem Rennrad, aber sein Kopf war sicher nicht direkt mit dem Rest des Körpers verbunden. Sonst hätte er die Hölle des Nordens nicht mit 41 km/h fahren können. Er war so ein umwerfender Typ, dass er frisch geduscht und umgezogen war, bevor die anderen überhaupt das Ziel erreichten. Aber dass er der Held des Rennens oder die beste Story war, kann man nicht behaupten. Die lag woanders, vor allem bei den 30 anderen, die das Rennen überlebten. Die wenigsten von Ihnen werden je etwas von Willy Scheers oder Christian Levavasseur gehört haben, und genau das ist der Punkt. Sie mögen 50 Minuten nach Moser angekommen sein, aber es waren sie, nicht er, die diese Auflage definierten. Sie waren gestartet, ohne sich Chancen auf den Sieg oder auch nur einen Platz in den Top Ten auszurechnen. Anders als bei der Tour de France gab es bei Roubaix für den Letzten kein Geld, keine Herzen und definitiv keine Blumen. Es gab auch keine öffentliche Anerkennung, niemand außer ihnen selbst und vielleicht ihren Verwandten würde sich je an ihre Leistung erinnern. Aber mit ihren bescheidenen Mitteln fuhren sie Paris – Roubaix zu Ende, und deswegen waren sie in gewisser Hinsicht viel größere Rennfahrer als Moser. Ohne sie wäre er nichts gewesen, und er täte gut daran, sich daran zu erinnern. Er hat jetzt ein großes Weingut in Südtirol, wofür er sich bei Leuten wie Scheers und Levavasseur bedanken kann.

Aber hin und wieder kamen auch die kleinen Leute zum Zuge. Charlie Meunier zum Beispiel. Er hatte als junger Mann in einem Bergwerk in Wallonien gearbeitet, also wusste er, was Kohlenstaub war. Er wollte lieber Radrennen fahren, als an einer Staublunge zu sterben, und war gut genug, um eine Profi-Lizenz zu lösen. Als er die Auflage von 1927 auf dem 75. Platz beendete, gab La Française ihm einen Vertrag, der aus einem Rad, einem Trikot und sehr geringen Chancen auf einen Sieg bestand. La Française war damals in Frankreich das beste und reichste Team, und sie hatten alle großen Stars. Einer von ihnen war George Ronsse, der Weltmeister, dann gab es noch jemanden namens Aimé Déolet, der als Zukunft des französischen Radsports gehandelt wurde, und so sollte Meunier Helferdienste für beide leisten. Er brauchte nur bei ihnen zu bleiben und sie aus dem Wind heraushalten, so lange er konnte. Das war viel verlangt, aber er tat es trotzdem.Als Ronsse attackierte, blieb Charlie weisungsgemäß an seiner Seite. Ronsse war nicht allzu erfreut darüber, aber was erwartete er? Charlie hielt die Klappe, und als die drei Richtung Ziel schossen, kam er mit Hängen und Würgen mit. Das Rennen endete in dem Jahr nicht in Roubaix, sondern fünf Kilometer weiter im Stadion in Wattrelos. Die Bahn dort war in einem miserablen Zustand, und dort passierte das Wunder: Als Ronsse stürzte und Déolet unter sich begrub, gewann Charlie Meunier sein erstes und letztes Profirennen. Kurz darauf gab eines seiner Knie den Geist auf, und so verschwand er wieder in der Versenkung. Buchstäblich – er fuhr wieder in den Kohleschacht ein.

Ähnlich war es 1971, noch so ein apokalyptischer Roubaix-Nachmittag, an dem der Wind die Fahrer demoralisierte und das Feld zerlegte. So kam es, dass ein junger Mann namens Roger Rosiers sich in der Spitzengruppe wiederfand, wo alles vertreten war, was im Radsport Rang und Namen hatte. Sie waren zu neunt, und Rosiers war mit einigem Abstand der neunttalentierteste von ihnen. Ein solider Profi, aber kein Überflieger, hatte er die Order bekommen, für seinen Kapitän zu arbeiten, den großen Jan Janssen. Rosiers hatte nichts zu verlieren, und als De Vlaeminck attackierte, fuhr er hinterher und griff seinerseits an. In der Gruppe waren vier frühere Sieger, darunter Eddy Merckx. Jeder dachte, dass Rosiers nicht weit kommen oder sich jemand für die Verfolgung zuständig fühlen würde. Beides sollte nicht der Fall sein, und so verloren alle acht Paris – Roubaix. Nicht zu vergessen ein Pariser namens Daniel Belier. Er war nur ein Jahr lang Radprofi, weil er, um ehrlich zu sein, nicht besonders gut war. Während Roger De Vlaeminck 1974 als Solist zu einem grüblerisch-introvertierten Sieg fuhr, erreichte Belier etwas, was niemand für möglich gehalten hätte. Er hatte drei Reifenschäden, stürzte zweimal und schaffte es trotzdem ins Velodrom. Mit großem Rückstand vielleicht, aber er schaffte es. Das hätte De Vlaeminck nie zuwege gebracht. Dabei hatten er und Belier tatsächlich etwas gemeinsam. De Vlaeminck würde es wohl nicht gerne hören, aber Fakt ist, dass sie am 7. April 1974 beide auf ihre eigene Art die Hölle des Nordens eroberten.



Cover Procycling Ausgabe 121

Den vollständingen Artikel finden Sie in Procycling Ausgabe 121.

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