Der Mann, der aus der Kälte kam

Sein dramatischer Sieg bei Mailand –San Remo 2013 war der größte Erfolg in Gerald Cioleks Karriere. Procycling hat den verlorenen Sohn des deutschen Radsports getroffen.

 

Der größte Reiz des Radsports ist, dass er weitgehend unvorhersehbar ist. Wer hätte gedacht, dass Bradley Wiggins beim Giro 2013 sang- und klanglos untergeht oder dass Rui Costa an jenem regengepeitschten Nachmittag bei der Weltmeisterschaft Gold gewinnt? Wer hätte darauf gewettet, dass der 41 Jahre alte Chris Horner die Vuelta für sich entscheidet oder dass Daniel Martin, verfolgt von einem riesigen Panda, bei Lüttich – Bastogne – Lüttich triumphiert? Das sind die Gesetze dieses Sports. Die Variablen – Taktik, Glück, Moral, Teamarbeit, Entscheidungen in Sekundenbruchteilen – sorgen dafür, dass die Favoriten oft leer ausgehen. Gleichzeitig sind die physischen Anforderungen so hoch, dass alle, die nicht 100-prozentig fit sind, keine Chance haben.

Die WorldTour besteht aus rund 150 Renntagen pro Jahr. Manche Rennen sind atemberaubend, einige nur sehr gut und einige, ob es uns gefällt oder nicht, stinklangweilig. Doch von Zeit zu Zeit beschert uns der Kalender auch wahrhaft epische Tage. Sie sind das Lebenselixier dieses Sports, ohne sie wäre er belanglos. Bei allen Wechselfällen des Sports bleibt der Radprofi eine heroische Figur. Was ihn vor allem von anderen Athleten unterscheidet, ist seine Zähigkeit. Für ihn ist apokalyptisches Wetter einfach ein Berufsrisiko. Es war Schnee, der Bernard Hinaults Sieg in Lüttich unvergesslich und den Kalvarienberg, den der Gavia 1988 darstellte, unsterblich machte. Solche Tage sind der Stoff für Radsport-Sagen.
Worauf wir damit hinauswollen? Darauf, dass Mailand – San Remo 2013 ein solcher Tag war und dass dieser Tag gerade erst anfängt, zur Legende zu werden. Der Punkt ist, dass er im Laufe der Zeit seinen Platz im Pantheon einnehmen wird. Als der 26 Jahre alte Gerald Ciolek sich am 17. März in einem Hotelzimmer in Mailand die Nummer 161 anheftete, rechnete außer seinem MTN-Qhubeka-Team fast niemand mit ihm. Alle erwarteten, dass Peter Sagan endlich sein erstes Monument gewinnen würde. Die Wettbüros boten ihn mit 1:3,5 an, mit dem üblichen Vorbehalt, dass Fabian Cancellara das ganze Rennen sprengt. Sagen würde sich mit starken Fahrern wie Sylvain Chavanel und Philippe Gilbert (1:9) auseinandersetzen müssen, aber so oder so dürften die reinen Sprinter vorher abgehängt werden. Mark Cavendish und Matthew Goss, beide frühere Sieger des Rennens, ließen sich nicht in die Karten blicken, während John Degenkolb mit 1:17 gehandelt wurde. Etwas weiter unten in der Liste war Gerald Ciolek. Für den vergessenen Mann des Radsports gab es das 101-fache des Einsatzes. „Sie nennen es die Primavera, aber auf der Cipressa war es so kalt, dass man nur darüber lachen konnte“, sagt der Kölner gegenüber Procycling. „Manchmal wird es so schlimm, dass du es nicht mehr spürst, und das war so ein Tag. Da war ich also, ein deutscher Fahrer eines afrikanischen Teams in einem italienischen Schneesturm. Es war unser erstes richtig großes Rennen, und trotzdem war es fast sadistisch.“

Die im Entstehen begriffene Legende ist schon einige Male nacherzählt worden, verträgt aber noch eine Wiederholung. Die Bedingungen waren so abartig, dass das Rennen zwischenzeitlich gestoppt werden musste. Der Turchino und Le Manie wurden gestrichen, aber trotzdem waren Cavendish, Degenkolb und Co. aus dem Rennen. Als sechs der Besten dem Trümmerhaufen entstiegen, um den Sprint auszutragen, sah Sagan wie der sichere Sieger aus. Außer, dass er und Cancellara weniger daran interessiert waren zu siegen als daran, nicht geschlagen zu werden, während Gerald Ciolek den perfekten Zeitpunkt abpasste. „Ich hätte nie gedacht, dass ich gewinnen kann, als ich losfuhr, aber ich wusste von Tirreno, dass ich in guter Form war. Ich wollte einfach so gut wie möglich abschneiden, vielleicht unter den ersten fünf oder zehn. Ich war es nicht mehr gewöhnt, große Rennen zu gewinnen, aber ich war nicht überrascht, in dieser Gruppe zu sein …“ Während alle anderen den Kopf verloren (Sagan verschoss sein Pulver zu früh), lieferte Ciolek den vollendeten Sprint ab. Als einziger Nicht-WorldTour-Fahrer an der Spitze erinnerte uns Ciolek an das fahrerische Know-how, das taktische Geschick und die angeborene Klasse, die er für alle Welt verloren zu haben schien. Und obwohl er viel zu phlegmatisch ist, um es zuzugeben: Fakt ist, dass seine Sternstunde eines der bemerkenswerten Comebacks des Sports ist. Wörtlich und bildlich ist Gerald Ciolek der Mann, der aus der Kälte kam.

Acht lange Jahre zuvor hatte sich der 18 Jahre alte Ciolek eine andere Nummer angeheftet – beim Straßenrennen der deutschen Meisterschaften in Mannheim. Noch in Vollzeit als Elektrikerlehrling bei Ford beschäftigt, kam er zum ersten Mal in Kontakt mit dem großen Erik Zabel, dem vierfachen Sieger von San Remo. Außerdem begegnete er Jens Voigt, Rolf Aldag und Andreas Klöden, der Crème des deutschen Pelotons, und einem vielversprechenden jungen Sprinter namens André Greipel. Der Kurs sollte perfekt auf diesen zugeschnitten sein, vor allem aber auf Zabel und Robert Förster. Soweit die Theorie … „Dass ich Zabel an dem Tag schlug, ging als Nachricht um die ganze Welt, aber für mich war es eine Art, mir einen Profivertrag zu sichern“, erinnert sich Ciolek. „Davor hatte ich ein paar Rennen gewonnen, jedoch keine großen. Durch den Sieg habe ich eine Chance bekommen, ohne mich zu ändern. Doch er änderte die Wahrnehmung der Leute, und plötzlich sollte ich der ‚neue Zabel‘ sein. Ich habe es nicht geglaubt und versucht, die Erwartungen zu dämpfen, aber es war eben so. Es war eine verrückte Zeit und das war nur der Anfang.“

Natürlich war es das. Teenager gewinnen keine Landesmeisterschaft, schon gar nicht gegen eine so starke Konkurrenz wie in Deutschland. Im folgenden Jahr, als T-Mobile Ciolek mit einem lukrativen Vertrag umwerben wollte, wiederholte er die Nummer bei der D-Tour. Als er Zabel und Greipel in Schweinfurt schlug, zeigte er nicht nur, dass bei der bevorstehenden Weltmeisterschaft mit ihm zu rechnen war, sondern auch, dass Mannheim kein Glückstreffer gewesen war. Sechs Wochen später (und vier Tage nach seinem 20. Geburtstag) lieferte der Kölner weitere zwingende Beweise ab. In Salzburg schoss er aus einer sechsköpfigen Gruppe heraus und ins U23-Regenbogentrikot. Mark Cavendish, Edvald Boasson Hagen und Co. gingen leer aus, doch ihm schien die Welt zu Füßen zu liegen. Als Deutscher Meister und nun auch Weltmeister verließ er Österreich mit einem Zwei-Jahres-Vertrag bei einem Superteam. T-Mobile hatte schon Cavendish und nun auch noch Ciolek. Ersterer war schnell, aber dieser Junge? Dieser Junge war etwas ganz anderes … „In dieser Phase deiner Karriere wirst du für dein Talent bezahlt, nicht für deine Siege. Sie investieren in dich. Die Leute sagten, dass ich das Grüne Trikot vier oder fünfmal gewinnen würde, und die ganze Sache wurde immer größer. Ich habe versucht, den ganzen Hype zu ignorieren, aber ich habe gespürt, dass der Druck zunahm.“ Obwohl T-Mobile Ciolek zu Recht aus dem Mahlstrom der großen Rundfahrten heraushielt, war 2007 eine sehr gute Saison. Indem er drei Etappen der D-Tour, zwei der Österreich-Rundfahrt und die Rheinland-Pfalz-Rundfahrt gewann, gab er dem Rummel neue Nahrung.

In der Saison 2008, in der Ciolek sein Tour-Debüt gab, war im deutschen Radsport die große Ernüchterung eingekehrt. Die Dopingkultur der Ullrich/Zabel-Jahre war nun öffentlich bekannt, der Sport im Telekom-Land nahe an der Selbstzerstörung. Er brauchte nicht nur neue Helden, er brauchte glaubwürdige Helden. Niemand zweifelte an Cioleks Integrität, doch nun musste er sich auf der großen Bühne beweisen. Während er betonte, mit Hoffnungen in die Tour zu gehen, kurbelte der Medienzirkus die Erwartungen an. Und das sind, wie er sehr schnell feststellen sollte, zwei ganz verschiedene Dinge. „Die Leute dachten, dass die Kurve einfach weiter ansteigt, aber so ist es nicht im Radsport“, sagt er zu Procycling. „Es ist eine Sache, eine U23-Meisterschaft zu gewinnen oder einen 35 Jahre alten Zabel zu schlagen – Etappen bei der Tour zu gewinnen, ist etwas ganz anderes. Da sind die besten Sprinter der Welt und sie sind alle in Topform. Ich hatte immer erklärt, dass ich kein reiner Sprinter bin, aber natürlich hören die Leute nur, was sie hören wollen. Ich war im selben Team wie Cavendish und es war kein Geheimnis, dass er der Schnellste war. Ich hätte fast drei Etappen gewonnen, doch aus dem einen oder anderen Grund habe ich das nicht. Ich stand dreimal auf dem Podium und wir haben vier Etappen kollektiv gewonnen, daher hatte ich nicht das Gefühl, versagt zu haben. Ich habe die Erwartungen einiger Leute vielleicht nicht erfüllt, aber so, wie ich das gesehen habe, habe ich gute Arbeit für das Team geleistet.“

So oder so wurden die Siege seltener, und auch 2009 war ein mageres Jahr. Mittlerweile war Ciolek zu Milram gewechselt, doch wenn es hart auf hart kam, war er nicht mehr schnell genug. Er schien zu einem guten Sprinter heranzureifen, aber „gut“ ist in der Weltspitze nicht annähernd genug. Er war auch nicht stark genug für Solo-Aktionen, sodass er bei der Tour kaum in Erscheinung trat. Ein Etappensieg bei der Vuelta war ein schwacher Trost, bevor ein Schlüsselbeinbruch ihn im folgenden Frühjahr zurückwarf. Als Ciolek 2011 zu Quick-Step ging, war aus der Nachwuchshoffnung ein Domestike geworden, wenn auch ein sehr guter. Da Tom Boonen und Gert Steegmans in diesem Team die Hauptrollen spielten, wurden er und Francesco Chicchi in den Giro d’Italia geschickt, um die Krümel aufzulesen, die Cavendish übrig gelassen hatte.

 

Ciolek war froh gewesen, zu Patrick Lefeveres mythischem Team zu gehen, aber es hielt keine Offenbarungen für ihn bereit. Ganz im Gegenteil sogar: „Sie waren von der alten Schule. Als Bob Stapleton T-Mobile übernommen hatte und es zu Columbia wurde, machten sie bahnbrechende Sachen. Quick-Step war ein großes, legendäres belgisches Team und ich erwartete, dass sie ebenfalls progressiv sind, aber in Wirklichkeit waren sie das nicht. Sie hatten einfach nur Boonen, und er war ein großartiger Rennfahrer. Ich hatte kein Problem mit der Rolle, überhaupt nicht, aber ich kann nicht sagen, dass ich dort etwas gelernt hätte. Später wurde es besser, als es Omega Pharma – Quick-Step wurde und Leute wie Aldag dazukamen. Die Räder änderten sich und es wurde professioneller, aber da wusste ich schon, dass sie meinen Vertrag nicht verlängern würden.“ Mitte 2012 (ein einziger Etappensieg bei der Algarve-Rundfahrt, 142. bei Mailand – San Remo, keine großen Rundfahrten) war Ciolek auf der Suche nach einem neuen Arbeitgeber. An die Stelle der Erwartungen war, zumindest von Seiten der Medien, nun Gleichgültigkeit getreten. Seine Karriere schien so gut wie beendet zu sein, und nun musste er, ein 26 Jahre alter Radsportler, der keine großen Rennen mehr gewann, eine Entscheidung treffen. „Es gab Interesse, aber man muss realistisch sein“, sagt er. „Ich hätte in der WorldTour bleiben und mich weiter unten einordnen können, aber damit hätte ich akzeptiert, dass ich nicht mehr gewinnen kann. Das wollte ich nicht, und als ich von MTN hörte, fand ich das spannend. Alle sagten, dass sie extrem professionell sind, aber auch realistische Vorstellungen haben, was sie erreichen können und wie sie sich entwickeln wollen. Sie haben gesagt, dass sie mich als Kapitän wollen. Ich hatte nicht das Gefühl, in der WorldTour sein zu müs-sen, viel wichtiger war, von enthusiastischen Leuten umgeben zu sein, die an mich glaubten und mich schätzten. Es hört sich vielleicht wie ein Klischee an, aber das ganze Projekt hat mich gereizt. Ich hatte das Gefühl, dass es … das Richtige war.“

Mit der neuen Verantwortung kam ein guter Winter, neuer Optimismus und ein rigoroseres Training. Und von dort führten alle Wege nach Mailand und zu dem Tag, an dem Ciolek seinen Namen in die Legende von Mailand – San Remo einstanzte.
Es soll (sofern er befahrbar ist) in diesem Jahr einen gemeinen neuen Anstieg im Finale von San Remo geben: die Pompeiana [das Rennen 2014 fand nach Redaktionsschluss statt]. Eingeplant wurde er klar in der Hoffnung, die Sprinter zu eliminieren, so wie die Cipressa 1982 und der Poggio 1960. Der Rückschluss ist, dass Leute wie Cavendish, Oscar Freire und Gerald Ciolek dieses Rennens nicht würdig sind, doch das ist Unfug. Die Sieger von 1958 und ’59, Rik Van Looy und Miguel Poblet, waren große Champions, und das umso mehr, weil sie San Remo gewinnen konnten. Ihre Siege mehren das Prestige des Rennens, ebenso wie die von Cavendish, Freire und Zabel.
Ciolek ist vielleicht kein so großer Name, dass er in diese Reihe passt, doch er hat ein großes San Remo gewonnen, was viel wichtiger ist. Außerdem ließ er die weltbesten Klassiker-Spezialisten hinter sich in einem Rennen, das sie alle gewinnen wollen. Das zeugt, ungeachtet der verlorenen Jahre, von seinem Talent und seinem Charakter.

„Wenn ich an das Frühjahr 2011 zurückdenke – da war ich gerade mit großen Hoffnungen zu Quick-Step gegangen, aber ich hatte wirklich einen schlechten Winter. In Australien konnte ich schon nicht mithalten, und von da an wurde alles nur noch schlimmer. Schließlich fragte ich mich, was ich da eigentlich mache. Von daher habe ich Glück gehabt, jetzt hier zu sitzen und darüber zu reden.“ Da irrt er. Gerald Ciolek mag ein bescheidener Mensch sein, aber er hat definitiv kein Glück gehabt. Niemand gewinnt San Remo mit Glück. Nicht umsonst heißt sie „Classicissima“ – Ciolek hat sich die Mitgliedschaft in diesem erlesenen Club ehrlich verdient.



Cover Procycling Ausgabe 122

Den vollständingen Artikel finden Sie in Procycling Ausgabe 122.

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