Nie mehr Bauernhof

Mit der Gabe, immer wieder über sich hinauszuwachsen, hat sich der amtierende Weltmeister Rui Costa das Gesamtklassement der Tour de France zum Ziel gesetzt. Wie weit kann der Portugiese bei einer großen Rundfahrt kommen?

 

Dass Rui Costa bei dreiwöchigen Etappenrennen Erfolge feiern kann, hat er mit zwei superben Tagessiegen bei der letzten Auflage der Grand Boucle bereits unter Beweis gestellt. Und wie er seine Rivalen bei der Weltmeisterschaft im letzten September ausgeschaltet hat, zeigt, dass seine taktischen Fähigkeiten rasiermesserscharf geschliffen sind. Bei der Tour muss Costa die Obergrenze seiner Fähigkeiten erst noch entdecken. Wie er sich ausdrückt: „Jedes Mal, wenn ich mir etwas vorgenommen habe, habe ich es erreicht.“ Was kommt als Nächstes?
 
Als Rui Costa im letzten Jahr bei der Weltmeisterschaft in Florenz über die Ziellinie fuhr, war die Überraschung im Presseraum groß, dass ein Außenseiter die Favoriten abserviert hatte. In einem Punkt war man sich jedoch einig: Costa hatte bei dem Rennen gezeigt, dass er in seiner eigenen Liga fährt. In der Spitzengruppe mit den Spaniern Joaquim Rodríguez und Alejandro Valverde sowie dem italienischen Kapitän Vincenzo Nibali schien Costa allenfalls Aussichten aufs Podium zu haben. Doch er vermied Nibalis Fehler, sich mit dem Parieren der Soloattacken, die Rodríguez gegen Ende immer wieder startete, völlig zu verausgaben. Costa ließ Valverde mit einem einzigen Antritt zwei Kilometer vor dem Ziel stehen und schloss dann in Sichtweite der Ziellinie zu einem ausgepowerten Rodríguez auf. Dann weigerte er sich, die Führungsarbeit zu übernehmen, als Purito ihn theatralisch dazu aufforderte, und ersparte sich so einen möglichen Konter in letzter Minute. Schließlich hatte er die größten Kraftreserven und schnappte dem spanischen Veteranen die Goldmedaille vor der Nase weg. Wenn man bedenkt, dass Portugal in der Nationenwertung so niedrig steht, dass es bei der Weltmeisterschaft 2013 nur ein Drei-Mann-Team ins Rennen schicken durfte, fühlte sich Costas Sieg an, als wären er und sein Land enorm über sich hinausgewachsen. Freilich hatten es Außenseiter in Florenz etwas leichter, weil starke Teams wie Großbritannien bei schlechtem Wetter auf der Strecke blieben. Aber welcher Außenseiter sollte es sein?
 
Bei Movistar, dem WorldTour-Team, wo man Costa am besten kennt, war man alles andere als überrascht, dass der Portugiese mit einem Minimum an Team-Unterstützung so gut fuhr. „Rui ist in Sachen Strategie das Gegenteil von Valverde, er ist sehr clever“, sagt der altgediente Movistar-Teamarzt Jesus Hoyos. „Er weiß genau, welche Stärken er hat, er ist ein brillanter Stratege. Wenn es zu einem Finale mit einer kleinen Gruppe kommt, ist er ein Genie.“ Bei Movistar hatte Hoyos schon immer große Stücke auf Costa gehalten. „Ich kannte ihn bereits als Junior, weil ich in Portugal bei vielen Amateurrennen war. Er fuhr bei der U23-Weltmeisterschaft in einem Jahr sehr gut“ – 2008 wurde er Fünfter –, „und da konnte man schon sehen, wie clever er sich als Fahrer verhält.“ Obwohl Costa 2007 beim heute nicht mehr existierenden portugiesischen Team Benfica Profi wurde, hat Movistar ihn immer im Blick behalten, sagt Hoyos, „und es war ein natürlicher Schritt für ihn, zu unserem Team zu kommen“. Das tat Costa im Jahr 2009. „Er ist wie Óscar Freire – er kann vielleicht nicht erklären, warum er Rennen so gut lesen kann, aber er tut es einfach“, bescheinigt ihm Joxean Fernández Matxin, ein Sportlicher Leiter bei Lampre, der früher bei Mapei mit Freire gearbeitet hat und heute oft am Steuer des Lampre-Teamwagens sitzt, wenn Costa ein Rennen fährt. „Er ist sehr selbstständig. Das musste er auch, um in Portugal zu bestehen“, sagt er unter Verweis auf eine Kultur, wo Profiteams die jungen Fahrer gerne ins kalte Wasser werfen und schauen, wer sich durchsetzt. „Dazu hat Rui die Gabe, Situationen optimal zu nutzen und zur richtigen Zeit an der richtigen Stelle zu sein.“
 
Costas Palmarès ist ein Beweis für drei Dinge: seine Vielseitigkeit, seine Fähigkeit, mit einem Minimum an Unterstützung zu fahren, und seine Angewohnheit, die Erwartungen zu übertreffen. In seinem ersten Jahr bei Caisse d’Épargne gewann er sowohl eine Etappe in den ausgedörrten Sierras der Tour of Chihuahua in Mexiko als auch die Gesamtwertung der Vier Tage von Dünkirchen auf einem ganz anderen Terrain. Dann zeigten zwei Gesamtsiege in Folge bei der Tour de Suisse, eine Weltmeisterschaft und drei Etappensiege bei der Tour de France – zwei davon in den Alpen –, dass Costa weder im Hochgebirge noch bei Eintagesrennen überfordert ist. Abgesehen von den Kopfsteinpflaster-Klassikern ist die Gesamtwertung einer großen Rundfahrt Costas letztes größeres Ziel, und dass er es auf die höheren Gefilde der Tour-Gesamtwertung abgesehen hat, erklärt, warum Costa uns in einer Hotellobby während der Ardennen-Klassiker in einem knalligen, pink-blauen Lampre-Merida-Trainingsanzug statt der dezenteren blaugrünen Teamkluft von Movistar entgegenkommt. „Es war logisch, dass er uns bei Movistar verlassen hat, und keine Seite hat der anderen etwas übel genommen“, versichert Hoyos. „Es ist alles ganz korrekt abgelaufen. Er wollte das Gesamtklassement von dreiwöchigen Rundfahrten in Angriff nehmen, und da wir Alejandro Valverde und Nairo Quintana im Team haben, waren seine Optionen begrenzt.“
 
Von dem Moment an, wo der schlaksige Costa sich auf einen Stuhl im Restaurant plumpsen lässt und fröhlich grinst, wirkt der Fahrer aus einem landwirtschaftlich geprägten Küstenort im Norden Portugals unwiderstehlich gut gelaunt und optimistisch. Er hat zwar in dieser Saison noch kein Rennen gewonnen, ist aber beständiger gefahren denn je – und außerdem ist die Tour sein großes Ziel. Und das, obwohl Lampre seit Jahren bei der Tour keine Bäume ausgerissen hat? Das ändert sich hoffentlich, sagt er. Und der Fluch des Regenbogentrikots? Nur ein Mythos, den die Weltmeister erfunden haben, die eine schlechte Saison hatten. Tatsächlich wirkt er während des ganzen Interviews nur einmal ein bisschen nervös – als wir ihn nach der möglichen Tour-Teilnahme seines Teamkollegen Chris Horner fragen, nachdem der Amerikaner einen Trainingsunfall hatte und den Giro sausen lassen musste. „Ich hoffe, dass er sich schnell erholt, aber ich habe keine Ahnung, was seine Pläne für die Tour angeht“, antwortet er vorsichtig. Man hat den Eindruck, dass er – nachdem er Movistar verlassen hat, weil er nicht der einzige Kapitän bei der Tour sein konnte – nicht allzu erfreut wäre, wenn in seinem neuen Team wieder die Frage nach der Hierarchie gestellt würde.
 
Aber insgesamt strahlt Costa Enthusiasmus aus und erklärt die Vielfalt seiner Erfolge nach Benfica damit, dass „ich bisher am besten bei einwöchigen Rundfahrten und Eintagesrennen war. Die Gesamtwertung der großen Landesrundfahrten und vor allem die Tour sind meine große Herausforderung. Ich weiß sehr gut, dass du nicht über Nacht zum Rundfahrt-Spezialisten wirst, daher muss ich es Schritt für Schritt machen. Der große Unterschied ist, dass in diesem Jahr zum ersten Mal ein Team für das Gesamtklassement der Tour de France auf mich setzt.“ Sein erster Angriff auf die Gesamtwertung wird, das weiß er, eine Feuertaufe werden, zumal die erste Woche der Tour sehr schwer ist. „Diese Etappen in England haben es in sich, und auch das Kopfsteinpflaster von Roubaix“, bemerkt er. „Ich bin Paris – Roubaix zweimal gefahren und einmal im Ziel angekommen. Aber das wird ganz anders und viel schwerer – eine viel härtere und nervösere erste Woche als bei der Tour 2013, vor allem, wenn das Wetter in England schlecht ist.“ In Portugal, wo es wenige internationale Stars gibt und sich der Radsport im Wesentlichen um die eigene Landesrundfahrt dreht, war die Tour de France das ausländische Rennen, das sich Costa als Kind mit seiner Familie im Fernsehen anschaute.
 
„Meine Eltern standen auf Radsport. Mein Vater war ein sehr guter Amateur und dank ihm habe ich als Junge mit der Leichtathletik aufgehört und bin in einen Verein in unserem Ort eingetreten. Bei meinem ersten Rennen bin ich in die Top Ten gekommen und war sofort Feuer und Flamme. Dabei waren die einzigen Radrennen, die wir im Fernsehen sehen konnten, die Portugal-Rundfahrt und die Tour de France. Erst als ich von Benfica zu Caisse d’Épargne wechselte, realisierte ich, was es sonst noch für Rennen gab und wie wichtig sie sind.“ Sein erster Sieg als Profi bei den Vier Tagen von Dünkirchen 2009 war ein typisches Beispiel. „Ich wusste erst sehr viel später, was ich da eigentlich gewonnen hatte. Erst als ich mir die Namen der früheren Sieger angeschaut habe, fiel der Groschen, dass ich etwas Bedeutendes geschafft hatte.“ Als Teenager kam Costas erste Begegnung mit dem Profiradsport nicht daher, dass er sich ein Radrennen anschaute, sondern dass er einen einzigen Fahrer sah. Der ehemalige Profi José Azevedo (heute Sportlicher Leiter bei Katjuscha) ist zehn Kilometer vom Hof von Costas Eltern in der Nähe von Porto zu Hause. Als er Azevedo auf seinen regelmäßigen Trainingsfahrten vorbeirauschen sah, war der Samen gesät, der Costa dazu brachte, selbst eine Karriere im Radsport anzustreben. „Er ist immer an unserem Haus vorbeigefahren. Er war auf dem Weg in die Berge und ich versuchte, ihm auf meinem Rad zu folgen.“ Zunächst erfolglos, fuhr er mit der Zeit an der Seite von Azevedo Rennen für Benfica, und jetzt hat Costa – zumindest was seine Siege angeht – seinen einstigen Mentor überrundet.

 

Da er ein schwacher Schüler war, gab der Radsport Costa die Möglichkeit, etwas anderes zu machen, als sich in der Landwirtschaft zu betätigen. Obwohl wir nicht das Gefühl haben, dass er damit unzufrieden gewesen wäre – er sagt, er könne genauso gut Traktor fahren wie Rennrad. „Ich habe meinen Eltern schon als Kind auf dem Hof geholfen“, erzählt er. „Er ist nicht so groß wie in England oder Frankreich, nur drei oder vier Felder, und es war gut für meine Karriere, weil ich keine Angst vor harter Arbeit habe. Meine Eltern haben sich gefreut, dass ich Profi wurde. Mein Vater wollte eigentlich selbst Radprofi werden, aber er musste auf dem Hof bleiben und der Mutter helfen, weil sie sechs Geschwister waren und mein Großvater krank war. Seitdem ich Profi bin, strenge ich mich an, um zu sehen, wie weit ich kommen kann. Auf den Hof zurückzukehren kam nicht infrage.“ Bei Movistar hatte er jedenfalls zu viel Spaß, sagt er, weil das WorldTour-Team im Vergleich zu Benfica eine viel größere Bandbreite an Rennen bestritt. „Ich bin zu ganz verschiedenen Rennen überall in der Welt gekommen, denn als Neuprofi hat mich das Team überall hingeschickt, wo sie in letzter Minute einen Ersatzmann brauchten. Daher waren die ersten ein oder zwei Jahre ein permanentes Abenteuer.“
 
2009 fuhr Costa alle Frühjahrs-Klassiker von Mailand – San Remo bis zum Amstel Gold Race. Doch das Rennen seiner Träume blieb die Tour, in die er 2009 zum ersten Mal hineinschnupperte. „Ich bin ganz gut gefahren“, erinnert er sich, „musste aber nach einem Sturz in der zweiten Woche aufgeben. Ich habe mir die Schulter verletzt, und obwohl ich am nächsten Tag starten wollte, ging es nicht. Doch allein mit der Teilnahme ist ein Kindheitstraum für mich in Erfüllung gegangen. Dieser Tourstart in Monaco war etwas ganze Besonderes.“ Dann erzählt Costa uns von einem anderen Sturz, den er auf der Tour-Etappe nach Barcelona in dem Jahr hatte, und erinnert sich, wie er bei Regen auf einer weißen Linie wegrutschte, mit fast so viel Freude, als wenn er gewonnen hätte. „Es war trotz alledem eine sehr schöne Etappe, und sie endete in einem schönen Viertel der Stadt. Ich war einfach froh, bei der Tour dabei zu sein.“ Zwei Jahre später – 2011 – holte er in Super Besse seinen ersten Tour-Etappensieg aus einer neunköpfigen Spitzengruppe heraus, die den ganzen Tag unterwegs gewesen war. Costa war der einzige Fahrer, der genug Reserven hatte, um erst einen späten Angriff des Franzosen Christophe Riblon zu vereiteln und sich dann die Verfolger um einen ultra-aggressiven Alexander Winokurow vom Leib zu halten. „Das Schwerste daran war, in die Ausreißergruppe zu kommen“, sagt Costa. „Danach war es relativ einfach.“ Natürlich weiß er selbst, dass er – während er 2011 und sogar noch 2013 den Vorteil hatte, relativ unbekannt zu sein – 2014 als erster Weltmeister seit Cadel Evans 2010 bei der Tour aufs Gesamtklassement fahren wird. Daher kann er unmöglich unter dem Radarschirm fliegen.
 
„Mit diesem Trikot weiß jeder, wer ich bin. Das Jahr als Weltmeister muss man genießen, doch die Leute werden mich im Auge behalten und das Regenbogentrikot ist aus einiger Entfernung zu erkennen. Wenn ich normale Teamsachen tragen würde, wäre es leichter, in eine Ausreißergruppe zu kommen. Was zählt, ist, dass ich das Trikot habe, und ich freue mich, Weltmeister zu sein. Wenn man zum Beispiel hier in Holland und Belgien fährt, wo es so viele Radsport-Fans gibt, merkst du wirklich, welchen Wert es hat.“ Doch wie ein anderer Weltmeister – Óscar Freire – glaubt Costa nicht, Rennen besonders gut lesen zu können – vielmehr käme das automatisch mit der guten Form, sagt er. „Wenn ich mich gut fühle, ist es normal, dass ich mein Bestes geben will. Du legst es darauf an, weil dein Instinkt dir das sagt.“ Ebenfalls wie Freire – und vielleicht dank seines portugiesischen Hintergrunds – ist Costa „ein Fahrer, der gut ohne Helfer auskommt. Normalerweise hast du als Kapitän einen Teamkollegen, der dich durch das Peloton eskortiert und dich aus dem Wind heraushält. Ich schätze die Arbeit dieser Person, aber ich komme notfalls auch allein zurecht.“
 
Also mit oder ohne Unterstützung seines Teams – wie schätzt er die kommende Tour und seine Chancen ein? „Ich werde nicht sagen: Ich verliere hier eine Minute und fahre dort zwei raus – was soll das? Ich mache keine Vorhersagen. Ich weiß einfach nicht, was ich dort machen kann. Wenn es nach einer Woche schlecht läuft, überlege ich es mir vielleicht anders. Aber nur dann.“ Jedenfalls glaubt Costa, dass er mit seinem Wechsel zu Lampre leichter herausfinden kann, wo seine Grenzen sind. Und mit 27 hat er diese noch nicht ausgereizt. „Ich wollte 2011 eine Etappe der Tour gewinnen und habe sie bekommen. Die beiden Tour-Etappen, die ich letztes Jahr in der dritten Woche gewonnen habe, waren mein Ziel, und ich habe es erreicht. Und das treibt mich an: Jedes Mal, wenn ich mir ein Ziel gesetzt habe, habe ich es erreicht. Die Leute haben vielleicht gedacht, dass ein Sieg bei der Tour de Suisse eine Art Glückstreffer für mich war, aber zwei Siege beweisen, dass es das nicht war und ich durch harte Arbeit und gutes Training bekomme, was ich will. Deswegen glaube ich, dass ich auch bei der Tour etwas erreichen kann.“ Was genau es ist, was der amtierende Weltmeister dort zeigen wird, werden wir bald sehen.



Cover Procycling Ausgabe 124

Den vollständingen Artikel finden Sie in Procycling Ausgabe 124.

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