Marcel Kittel – Mission Gelb

Wichtige Etappen vorher abzufahren, ist für die Klassementfahrer der Tour mittlerweile Standard. Aber warum begibt sich ein Sprinter-Team auf die Reise, um Strecken zu inspizieren? Procycling hat Giant-Shimano nach Yorkshire begleitet, um das herauszufinden.

 

„Ja, ich glaube schon. Das sind sie!“, ruft ein Fan in einer Kurve auf halber Höhe des Holme Pass, aber dann wird der Nebel dichter und die Sicht wieder schlechter. Vorsichtig an eine Bruchsteinmauer gelehnt, wie sie charakteristisch für diese Region ist, bemüht er sich, die kleine Gruppe ausgewählter Giant-Shimano-Fahrer zu sehen, doch die niedrig hängenden Wolken haben sie nun komplett verschluckt. Auch wenn  die Tour de France das glamouröseste aller Radrennen ist – die heutige Streckenerkundung scheint weit davon entfernt … Dass die Favoriten für die Gesamtwertung der Tour de France die wichtigen Etappen in den Monaten vor dem Rennen inspizieren, hört man immer wieder. Die Erkundung wichtiger Bergetappen oder Zeitfahrkurse durch Chris Froome, Alberto Contador & Co. ist gängige Praxis, gerade in einem Zeitalter, in dem sämtliche Details und Kleinigkeiten bedacht werden. Klassementfahrer können es sich nicht erlauben, eine einzige Sekunde zu riskieren. Daher waren wir bei Procycling überrascht, als Giant-Shimano – ein Team, das sich ganz auf Sprints konzentriert – uns einlud, sie auf ihrer Aufklärungsmission in Yorkshire zu begleiten. Das konnten wir uns nicht entgehen lassen.

Sportdirektor Rudi Kemna erklärt die Motivation hinter diesem kostspieligen und zeitraubenden Trip: „Nach dem Erfolg beim letztjährigen Rennen, als Marcel die erste Etappe und das Gelbe Trikot gewann, haben wir beschlossen, diese Reise nach Yorkshire zu machen, um uns die ersten beiden Etappen anzusehen, denn da es keinen Prolog gibt, könnte es sein, dass uns das wieder gelingt. Da Marcel der schnellste reine Sprinter ist, werden die anderen Teams erwarten, dass wir die Arbeit machen, um die Ausreißer einzuholen. Daher war es sicher sinnvoll, hierher zu kommen, weil wir so sehen können, wo es möglich ist, die Verfolgung zu organisieren und unseren Erfolg zu maximieren.“

Anders als in der einsamen Disziplin des Zeitfahrens – und in gewissem Maße bei einer Bergankunft – erfordert die Jagd nach den Ausreißern ein ganzes Team. Statt also mit einem Mini-Kommando aus einem Klassementfahrer und einem Sportlichen Leiter anzureisen, ist Giant-Shimano en masse hier, um zu sehen, wo und wie sie ihre Truppen am besten einsetzen können, um den Sprint für Kittel in die Wege zu leiten. Da Yorkshire alles andere als flach ist, müssen sie wissen, wo Marcel sich über schwere Anstiege wird hieven müssen. Vor Ort sehen sie auch, ob es möglich ist, dass die ersten beiden Etappen auf einen Sprint hinauslaufen. „Wir sind die erste Etappe gestern abgefahren“, erklärt Kemna, „und wir glauben, dass es zum Sprint kommen könnte, aber es gibt ein paar Hügel zu Beginn der Etappe, die Marcel nicht entgegenkommen. Heute wollen wir sehen, ob wir das [Gelbe] Trikot beschützen können. Wir haben schon einige interessante Dinge über diese Etappe gehört.“

Ein paar Stunden später beginnt die Fahrt im malerischen Städtchen Hebden Bridge mit seinen urigen Cafés und kleinen Läden. Die sechs Fahrer von Giant-Shimano sind Kittels wichtigste Männer für die Tour: Albert Timmer, Bert De Backer, Koen de Kort, Tom Veelers und John Degenkolb. Das schlechte Wetter hat alle bis auf die entschlossensten Autogrammjäger abgeschreckt, aber immerhin sind einige Pressevertreter erschienen. Das Organisationskomitee des Grand Départ in Yorkshire hat eine ausgewählte Gruppe von Medienvertretern eingeladen, weil Giant sich als erstes Team diese zweite Etappe anschaut. Das Wetter indes können die Organisatoren nicht kontrollieren. „Das ist etwas anderes als gestern, als die Sonne schien“, sagt De Backer, als er sich vor dem Wohnmobil des Teams seine Regenjacke überzieht. Der Wetterwechsel spiegelt später die Meinung des Teams zur zweiten Etappe wider.

Für die britischen Radsport-Fans, die dank der Erfolge in jüngster Zeit viel zahlreicher sind, ist der Grand Départ in Yorkshire eine seltene Chance, das größte Rennen der Welt auf heimischem Boden zu erleben. Während die meisten Sportlichen Leiter der Tour-Teams Ex-Profis sind und die Straßen in Frankreich wie ihre Westentasche kennen, ist der Grand Départ in Yorkshire für alle eine Reise ins Unbekannte. Diese Straßen vorher abzufahren, ist daher keine reine Vorsichtsmaßnahme; es gibt einem Team wie Giant-Shimano, das es auf diese Etappen abgesehen hat, einen echten Vorteil gegenüber ihren Rivalen, was die taktische Planung angeht. „Wir kennen die Straßen hier nicht, ähnlich wie in Korsika“, erklärt Kittel, „und wir dachten, es wäre ein Vorteil, wenn wir herkommen und sie uns anschauen. Ein Etappenprofil und eine Landkarte sagen dir nicht alles.“

 

Zurück zum Holme Pass: Als ein einsamer Fahrer sich schließlich aus dem Nebel löst und in die Pedale tritt, während seine Teamkollegen folgen, scheint diese nebelverhangene Straße in Yorkshire weit weg vom Drama der Tour zu sein. Er zeigt den angestrengten Gesichtsausdruck, den wir sonst nur sehen, wenn in einer wichtigen Phase eines Rennens das Tempo verschärft wird. Die schweren Straßen gehen in die Beine. Ein einheimischer Radfahrer, der den Pass runterkommt, nickt flüchtig – es wäre nicht sehr britisch und schon gar nicht Yorkshire-like, beim Anblick der Stars auszuflippen. Mit einer Abfolge von giftigen Anstiegen sind die Straßen im Peak District eher etwas für Ardennenklassiker-Spezialisten als für die muskelbepackten Männer des Pelotons, was sich einige Augenblicke später bestätigt, als der Rest der Giant-Shimano-Gruppe im gelben Schein des nachfolgenden Mannschaftswagens und der Fernseh-Motorräder auftaucht. Kittel fährt an der Spitze der Gruppe, den Blick auf die Straße geheftet, als er sich mühsam den Anstieg hochkämpft. Berge sind der Feind der Sprinter. Ob sie eine Etappe gewinnen können, hängt davon ab, ob sie es schaffen, in der Spitzengruppe ins Ziel zu kommen. Wenn ein Anstieg zu schwer ist, fallen sie zurück. Wenn sie das vorher wissen, brauchen sie ihre Energie nicht zu verschwenden. Die schwersten Tage sind die, an denen sie gerade so eben mithalten können.

Die verzerrten Gesichter sind später erneut zu sehen, als Kittel und sein Team mit den letzten 25 Kilometern konfrontiert sind. Aber jetzt schneiden sie die Grimassen nicht vor Schmerz, sondern auch, weil sie erkennen, was dies für ein Parcours ist. „Die Etappe ist super schwer“, sagt Degenkolb später. „Sie hat so viele Höhenmeter wie eine Bergetappe und wird Ardennen-erprobten Fahrern liegen. Der letzte Anstieg mit 300 Metern und 30 Prozent Steigung ist zu viel für die Sprinter, und auf den 25 Kilometern davor geht es nur hoch und runter: Das ist eine Etappe für die Klassementfahrer. Das Endergebnis in Paris wird auf diesen Straßen nicht entschieden, aber es könnte einige Verlierer geben, weil sie sehr gefährlich sind.“
Also ist es eine Etappe für die harten Männer, doch die Favoriten wollen das Gelbe Trikot so früh vielleicht noch nicht holen und dann verteidigen müssen. Wenn es auf der 1. Etappe zum Massensprint kommt, könnten die geringen Zeitabstände dafür sorgen, dass sich eine Ausreißergruppe mit einem akzeptablen Mix aus ungefährlichen Fahrern auf der 2. Etappe früh absetzt und durchkommt.

Die steile Jenkin Road durch eine nichtssagende Wohngegend in Sheffield ist ein entscheidender Moment der Etappe. Nachdem sie sie unter die Räder genommen haben, herrscht bei den Profis das Gefühl, dort nicht mitmischen zu können. „Ehrlich gesagt, glaube ich nicht, dass diese Etappe im Massensprint endet“, konstatiert Kittel. „Am Schlussanstieg muss ich am Limit fahren, bloß um hochzukommen. Wenn es Attacken gibt, und die wird es geben, habe ich keine Chance. Wobei nicht gesagt ist, dass wir überhaupt als großes Feld ankommen.“

Das ist nicht unbedingt, was man sich von dieser kraftraubende Aufklärungsmission erhofft hat – doch immerhin wissen Kittel & Co. nun, dass sie sich ihr Pulver für einen anderen Tag aufheben können.



Cover Procycling Ausgabe 125

Den vollständingen Artikel finden Sie in Procycling Ausgabe 125.

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