Wachablösung

Zu Beginn des Jahres 2014 fragten sich die Experten noch, wer im Sprint das Sagen habe. Nun, wo die Saison zu Ende geht, hat Marcel Kittel eine klare Antwort geliefert und sich anscheinend unangreifbar an die Spitze einer neuen Hierarchie gesetzt.

 

An den Zahlen gibt es nichts zu rütteln: Marcel Kittel hat nur drei der 17 Sprints verloren, die er 2014 bis zu unserem Redaktionsschluss bestritten hat (eine Erfolgsquote von 82 Prozent). Und dort – auf der 2. Etappe der Drei Tage von De Panne, bei den Hamburg Cyclassics und auf der 2. Etappe des Arctic Race of Norway – hat er nie wirklich den Turbo gezündet, wie der gebürtige Arnstädter sagen würde. Unter den Anwärtern auf seinen nunmehr unangefochtenen Sprinter-Thron ist kein anderer Fahrer, der ihm nahekommt. Der Nächstbeste, André Greipel, kam auf 15 Siege bei neun Niederlagen (63 Prozent, wenn man nur Sprints um den ersten Platz mitzählt), Mark Cavendish auf elf zu sieben (61 Prozent), Alexander Kristoff auf 13 zu elf (54,1 Prozent) und Nacer Bouhanni auf zwölf zu 15 (44 Prozent). Natürlich sind nicht alle Sprints gleich, doch Kittels Bilanz im direkten Vergleich mit seinen Rivalen hat seine Überlegenheit noch einmal unterstrichen. Beim Giro d’Italia ließ er Bouhanni keine Chance. Bei der Tour ließ er keinen Zweifel daran, dass er schneller als Greipel und Kristoff ist. Und bei der Tour of Britain lieferte sich Kittel endlich seine ersten Duelle mit Cavendish seit der letzten Etappe der Tour 2013 und machte auf zwei Etappen zwei Siege klar. Cavendish hat den Deutschen noch nie in einem Sprint um den ersten Platz geschlagen.

Das Fazit scheint so klar zu sein wie diese Statistik: Marcel Kittel ist der schnellste Sprinter der Welt, vielleicht der schnellste aller Zeiten. Vor nur zwei oder drei Jahren schien es unvorstellbar, dass Cavendishs Vorherrschaft nicht nur gefährdet, sondern beendet sein könnte, vielleicht ein für alle Mal. Der Sturz des Briten auf der 1. Etappe der Tour beendete eine Frankreich-Rundfahrt, die – wie er immer noch glaubt – für ihn die beste seit Jahren hätte werden können. Stattdessen war nach seinem frühen Tour-Aus schnell die Rede von einem „Annus horribilis“, was jedoch auch etwas Gutes hatte: Nachdem er inoffiziell gesagt hatte, er wolle noch zwei, vielleicht drei Jahren fahren, stellte Cavendish fest, dass ihm das Aussitzen der Tour neue Perspektiven eröffnete. Er lernte seine bisherigen Leistungen besser zu schätzen und erkannte die Möglichkeiten, die ihm noch offenstehen. Das imaginäre Datum für sein Karriereende rutschte plötzlich ans Ende des Jahrzehnts. In diesem Winter will er zahlreiche Bahnrennen bestreiten, um etwas von dem Schwung wiederzuerlangen, der ihn von 2008 bis 2012 unschlagbar gemacht hatte; wenn das noch nicht reicht, um an Kittel vorbeizukommen, will er sich auf schwerere, hügeligere Rennen konzentrieren, wo das Gewicht des muskulösen Deutschen ein unüberwindliches Hindernis darstellt.

Was auch immer als Nächstes passiert: 2014 hat eine neue Weltordnung des Sprints Gestalt angenommen. Nachfolgend analysieren wir das Wer, Wie und Warum.
 
Der Sprint
Wenn Sie mit Marcel Kittel über seinen Sprint sprechen, werden Sie fast sicher die Wörter „Fortschritt“ und „Verbesserung“ hören. „Ich versuche immer, die Situationen zu verbessern. So fühlst du dich nie hilflos“, sagte er im August beim Arctic Race of Norway gegenüber Procycling. Kittels unermüdliches Streben, effizienter, weniger fehleranfällig und letztlich schneller zu werden, wird schon deutlich, bevor er sich auf seine Giant-Rennmaschine setzt. Kittel schaut sich seine Sprints im Nachhinein „nicht allzu oft an, nur wenn ich verliere“, doch die Video-ana-lysen seiner Berater, vor allem seines holländischen Trainers Adriaan Helmantel, sind zu einem Eckpfeiler seines Erfolgs geworden. Vor seinem Duell mit Cavendish auf den Champs-Élysées bei der Tour 2013 hatte Helmantel Aufnahmen von Cavendishs vier Siegen auf dieser Zielgeraden gesammelt und seziert, um Taktik und Timing zu identifizieren und auszunutzen. Nach perfekter Vorarbeit seines Teams trat Kittel zehn, vielleicht 20 Meter vor Cavendishs üblichem Angriffspunkt an und fuhr einen uneinholbaren Vorsprung heraus. Giant-Shimano ist bestimmt nicht das einzige Team, das mit Videos arbeitet, aber es ist fraglich, ob irgendjemand seine Haus-aufgaben gewissenhafter macht als Helmantel und der Daten-Analytiker Teun Van Erp.

Von der Strategie einmal abgesehen, stellt sich die grundsätzlichere Frage, wie es jemand mit Kittels Geschwindigkeit aufnehmen will. Er und seine Trainer behalten es für sich, wie viel Watt er im Sprint produziert – aber aus gut informierten Kreisen hört man, dass er bei Massen-sprints gelegentlich die 2.100-Watt-Gren-ze knackte. Um das ins Verhältnis zu setzen: André Greipel tritt angeblich maximal rund 1.800 Watt, der viel kleinere, aber aerodynamischere Cavendish weniger als 1.600 Watt. Doch laut Helmantel zeichnet Kittel noch etwas anderes aus: „Alle Sprinter, mit denen ich bisher gearbeitet habe, konnten diese Maximalleistung zwölf bis 15 Sekunden aufrechterhalten. Bei Marcel sind es 18 bis 20 Sekunden.“
Einer von Nacer Bouhannis Trainern bei FDJ.fr, Fred Grappe, braucht Kittels SRM-Dateien nicht zu sehen, um festzustellen, dass die Schnelligkeitsausdauer des Deutschen eine seiner formidabelsten Waffen ist. „Er ist der einzige Topsprinter, der noch beschleunigen kann, wenn er die Ziellinie überquert. Sie dürfen nicht vergessen, dass er vor allem als Zeitfahrer galt, als er Profi wurde“, bemerkt Grappe.

Auf die Frage, wie seine Rivalen reagieren könnten, gibt es keine einfachen Antworten, so Grappe: „Im Moment kann man nicht viel machen, wenn Kittel von seinen Anfahrern auf 60 km/h gebracht wird. Es ist einfache Physik: Kittel ist schwerer als seine Rivalen; wenn er mit 65 km/h unterwegs ist und sie auch, hat er mehr Schwung und rollt weiter. Mit anderen Worten: Sie müssen deutlich schneller sein, um an ihm vorbeizukommen. Jungs wie Cavendish und Bouhanni haben im Prinzip nur zwei Möglichkeiten: Sie können hoffen, dass Kittel etwas falsch macht, oder auf Sprints setzen, die nicht so schnell sind und wo die Beschleunigungszeit wichtiger ist; sie werden schneller beschleunigen als er und können vielleicht auch mehrmals beschleunigen.“ Grappe nannte eine dritten Methode, die Bouhanni in diesem Jahr ausprobiert hat: Kittel in den Anstiegen abzuhängen. Cavendish sieht es ähnlich: „Man kann eigentlich nichts machen, um den Sprintzug zu bremsen oder durcheinanderzubringen und Kittel in Verlegenheit zu bringen. Du kannst eigentlich nur versuchen, was Cannondale seit ein paar Jahren für Sagan macht: versuchen, das Rennen so schwer wie möglich zu machen und so viele Leute wie möglich vor dem Sprint loszuwerden.“

Der Hauptprofiteur dieser Methode war 2014 Alexander Kristoff, vor allem bei längeren Rennen. Kittel hat ausgiebig in der Höhenluft (in der spanischen Sierra Nevada) an seiner Ausdauer gearbeitet und sogar mit Sprinttraining in der Höhe experimentiert (laut Helmantel mit guten Ergebnissen), aber der norwegische „Turbodiesel“ von Katusha ist gegenwärtig der Sprinter, der am ehesten gegen Erschöpfung immun zu sein scheint. Nur zwei WorldTour-Rennen über eine Distanz von mehr als 240 Kilometern endeten 2014 im Massensprint, und Kristoff hat beide gewonnen.
 
Die Mannschaft
Man hatte gedacht und gehofft, Omega Pharma – Quick-Step habe durch die Wiedervereinigung von Mark Cavendish und Mark Renshaw zu Beginn der Saison 2014 die fehlende magische Zutat in die Sprint-Abteilung gegeben, die 2013 zaghaft und manchmal naiv gewirkt hatte. Einige Monate, einige Zahnprobleme und zahlreiche Erkrankungen und Verletzungen bei Cavendish später ist das belgische Team noch immer auf der Suche. Nicht, weil Renshaw den Erwartungen nicht entsprochen hätte, sondern weil Giant-Shimano sie vor Probleme stellt, die Renshaw und Cavendish nicht kannten, als sie von 2009 bis 2011 unschlagbar waren. Wie Mario Cipollinis alter Pilotfisch Giovanni Lombardi erklärt: „Wenn dein Sprinter sechs, sieben Rennen hintereinander gewinnt, fahren die anderen irgendwann um den zweiten Platz. Wir haben uns früher sechs oder sieben Kilometer vor dem Ziel an die Spitze gesetzt und alle anderen haben sich hinter uns eingeordnet. Jetzt ist die Konkurrenz so stark, dass es schon schwer ist, drei Kilometer zu kontrollieren. Außerdem ist Giant-Shimano wie ein Rugby-Team. Das sind große, kräftige Jungs. Man könnte sagen, na ja, Renshaw ist jetzt über 30, vielleicht braucht Cavendish jemand Jüngeren und Aggressiveren, aber das ist nicht das Problem; du musst dich im Sprint von Renshaw fernhalten, weil er dich auffressen wird. Nein, ich glaube, das Problem ist vielleicht eher, dass Giant-Shimano sich so komplett auf den Sprint konzentriert wie wir mit Mario.“

OPQS-Sportdirektor Rolf Aldag, der Cavendishs Sprintzüge bei Telekom und Highroad mitentwickelt hat, sieht das ähnlich und fügt hinzu: „Kittels großer Vorteil ist derselbe, den wir 2007 hatten: Sie hatten die Zeit und die Freiheit, ihren Sprintzug zu entwickeln, weil sie niemand richtig beachtet hat. Wenn du Cavendish bist, stehst du immer unter Beobachtung und die Leute sagen immer, dass es perfekt sein muss – wenn nicht, heißt es, er hat versagt, was nicht immer die Wahrheit ist. Wenn du jemand anders bist, probierst du es aus, es funktioniert, und wenn nicht, lehnst du dich zurück, besprichst es, versuchst es wieder und wieder, bis du es perfektioniert hast. Das hat Giant wirklich gut hinbekommen – aber sie hatten auch die Zeit dazu.

Für uns ist es viel schwieriger. Ich glaube, der Punkt damals bei Highroad war, dass alle anderen aufgaben. Sie haben es immer wieder versucht, aber dann aufgegeben. Es war unmöglich, diesen Zug anzugreifen, denn selbst wenn du an Tony Martin vorbeigekommen wärst, hättest du es nicht ins Ziel geschafft. Wenn du versucht hättest, an George Hincapie vorbeizukommen [der angeblich im Finale eine Minute lang 1.000 Watt treten konnte], wärst du vor der Linie gestorben. Rein von den Pferdestärken her halte ich Giant für nicht so stark. Sie sind technisch versierte Fahrer, aber es ist nicht so, dass du sie beim Beschleunigen Seite an Seite über die schiere Kraft nicht schlagen könntest. Das war das Problem, das andere Teams bei HTC hatten – keiner hatte die Kraft dazu. Jetzt haben sich alle angepasst.“

Vor allem hat Giant-Shimano das allmähliche Crescendo der Schlussphase eines Rennens durch einen lauten Paukenschlag ersetzt – indem sie den rivalisie-renden Teams die Kontrolle über das Peloton oft erst auf den letzten zwei oder drei Kilometern entreißen. Damit hat sich das Gesicht der Sprintankünfte verändert, vielleicht für immer, und Omega Pharma muss sich noch darauf einstellen. Die Verstärkung des Zugs mit dem Sprint-Veteranen Alessandro Petacchi, der meist vorletzter Mann vor Renshaw war, führte zu gemischten Ergebnissen. Petacchis Vertrag wird 2015 nicht erneuert. Ein anderer Italiener und Trainingspartner von Cavendish, der Cannondale-Fahrer Fabio Sabatini, wird ihn ab Januar ersetzen.
Auch der Maschinenraum von Giant-Shimano ist vielseitig – und seit drei Jahren fast unverändert. „Das ist unser Geheimnis: Wir sind im Laufe der Jahre zusammengewachsen“, sagt Kittel. Für Cavendish scheinen Personalien nun ebenfalls weniger relevant zu sein als Einstellung und Zusammenhalt: „Am wichtigsten ist für mich der Einsatz. Ich habe der Mannschaft schon gesagt, dass ich nächstes Jahr mehr mit ein und derselben Gruppe arbeiten will. Ich will, dass wir die ganze Zeit zusammen sind. Im Training kannst du nicht viel machen, weil ein „Übungssprintzug“ nicht vergleichbar ist mit der Wirklichkeit, aber ich will bei den Rennen die ganze Zeit von denselben Leuten umgeben sein.“

Auch für Bouhanni war dies ein wichtiger Grund für den Wechsel zu Cofidis. Der Franzose verlangte, dass auch seine FDJ-Anfahrer Geoffrey Soupe, Dominique Rollin und Steve Chainel unter Vertrag genommen würden, und bekam die gewünschte Crew. „Diese Jungs [Kittel und Cavendish] haben richtige Armadas, die für sie arbeiten, sodass sie gleichbleibend gut unterwegs sind, weil sie immer beschützt werden“, sagte Bouhanni der L’Équipe im September. „Die Rolle deiner Teamkollegen im Sprint ist sehr komplex. Wenn Omega Pharma oder Giant-Shimano den Sprint in die Wege leiten, sind sie Kampfmaschinen. Gegen sie bist du schon 200 Meter vor der Ziellinie drei Radlängen zurück. In Frankreich glaubt man, dass wir die Besten auch ohne dieselben Waffen erlegen können. Sie sind mit Bazookas auf mich los, während ich bei FDJ.fr nur eine kleine Pistole hatte.“

 

Psychologie
Dass Marcel Kittel einen klaren psychologischen Vorteil hat, ist keine Neuigkeit. Als er im September mit uns sprach, blieb Cavendish einem alten Credo treu: „Ich versuche, mich nicht um andere zu kümmern. Sobald du das tust, verlierst du.“ Doch für die, die ihn und seinen Alpha-männchen-Instinkt kennen und wissen, wie sehr er seinen Status als schnellster Sprinter der Welt genoss, führt kein Weg „daran“ vorbei: „Es“ ist 1,88 Meter groß, blond und deutsch. Wie Cavendishs OPQS-Sportdirektor Brian Holm sagt: „Kittel macht uns sehr zu schaffen. Alles andere wäre gelogen. Es wäre besser, wenn er nicht da wäre.“ Es muss doppelt frustrierend für Cavendish sein, dass Kittel derzeit mit dem eisigen und unerschütterlichen Selbstvertrauen eines Mannes auftritt, redet und fährt, der sich seiner eigenen Dominanz bewusst ist. „Ich glaube, ich bin noch ganz entspannt. Ich bin ein ruhiger Typ“, sagt er – und nirgendwo ist diese Ruhe sichtbarer als im Chaos eines Massensprints.

Jung, respektlos und hungrig, ist Bouhanni vielleicht der Fahrer, der sich am wenigsten von Kittel einschüchtern lassen wird – und der uns am meisten an den jungen Cavendish erinnert. Vorausgesetzt natürlich, dass die „Rakete von der Isle of Man“ weniger aggressiv und gefräßig ist, jetzt, wo er auf die 30 zugeht. „Ich kann nur raten, weil ich ihn nicht kenne, aber wenn er nicht mehr auf demselben Niveau ist wie früher, wird es ein mentales Problem sein“, vermutet Grappe. „Die Fahrer verlieren mit dem Alter etwas an Geschwindigkeit, aber psychologisch gibt es von einem Jahr zum anderen kaum einen Unterschied. Auf der einen Seite arbeitest du vielleicht ein bisschen weniger, gehst nicht mehr so viele Risiken ein, vielleicht ist dein Lebensstil zu komfortabel. In seinem Fall könnte es einfach so sein, dass die Erkrankungen, die er im Frühjahr hatte, und sein Sturz bei der Tour etwas damit zu tun hatten, dass er nie in Topform gekommen ist.“
Cavendish und sein Team würden darin den Schlüssel sehen: Die Umstände haben sich geändert – und sich in diesem Jahr gegen ihn verschworen – aber nicht seine Ambitionen. „Man hat gesehen, wie hungrig er auf der 1. Etappe der Tour in diesem Jahr war. Vielleicht war er zu hungrig, was zu dem Sturz geführt hat“, sagt Holm. „Natürlich wird er bei einer Etappe der Mittelmeer-Rundfahrt nicht so in die Haarspitzen motiviert sein, aber wenn es um die großen Rennen geht, hat sich nichts verändert.“

Auch Cavendish kann Behauptungen zurückweisen, „soft“ zu werden. Nach seinem Sturz in Harrogate und anschließender Operation an der Schulter verordnete ihm ein Spezialist Ruhe für den Rest der Saison. Stattdessen fuhr er trotz Schmerzen die Tour de l’Ain, die Tour du Poitou Charentes und die Tour of Britain, um zu zeigen, was in ihm steckt, und um die Grundlage für einen schnellen Start in die Saison 2015 zu legen. Es ist dieser Ehrgeiz, der Holm zu dem Schluss kommen lässt: „Kittel ist im Moment die Nummer eins, aber für ihn wird es auch kein Spaziergang. Okay, er wird Cav wieder schlagen – aber Cav ihn auch.“
 
X-Faktor
Was Bouhanni mit dem Cavendish von 2007 und 2008 gemeinsam hat, sind seine Großspurigkeit und Streitbarkeit. „Ich bin kein einfacher Charakter“, sagte der Franzose in einem Interview mit der L’Équipe Anfang des Jahres – und es gibt Teamkollegen und Sportdirektoren bei FDJ.fr, die das sofort unterschreiben würden. Eine weitere Audienz bei der L’Équipe – während der Vuelta – brachte eine außerordentlich offene Analyse seiner letzten beiden Jahre bei FDJ.fr, die das Team veranlasste, ihn zu suspendieren. „Ich war bei FDJ.fr nicht mehr zufrieden“, sagte er. „Ein Zwischenfall, der mich gewundert hat: Im März haben sie mir per E-Mail mitgeteilt, dass ich Mailand – San Remo nicht fahre. Nach meinem Crash bei Paris – Nizza hatte ich den Kurs inspiziert. Sie haben mich die ganze Saison schmoren lassen. Ich habe es lieber, wenn mir jemand ins Gesicht sagt, dass ich ein Idiot bin, statt zu erzählen, ich sei der Beste, und hinter meinem Rücken etwas anderes zu reden. Was ich [Teamchef] Marc Madiot übel nehme, ist, dass er mich so lange hingehalten hat. Er ruft nur an, wenn ich ein Rennen gewonnen habe. Dann ist alles toll, super. Wenn ich mir bei irgendwas nicht sicher bin, ist keiner da.“
Madiot fühlte sich von Bouhannis Kritik aufs Schlimmste beleidigt. Telefonisch teilte er dem Sprinter mit, dass er sein letztes Rennen für das Team bestritten habe, sollte er keine Entschuldigung abgeben oder einen Teil seiner Bemerkungen zurücknehmen. Bouhanni weigerte sich hartnäckig. Madiot informierte FDJ.fr, die ein paar nervöse Stunden lang erwogen, Bouhanni zu feuern. Die Gemüter beruhigten sich an den nächsten ein, zwei Tagen und FDJ.fr beschloss schließlich, Bouhanni sein Gehalt bis zum Ende der Saison weiterzuzahlen.

Was Bouhanni bei Cofidis verdienen wird (nach eigenen Angaben über eine Million Euro), hat in Frankreich und im Peloton für Stirnrunzeln gesorgt. Aber das erwähnte L’Équipe-Interview – und was er darin zu seinem Gehalt sagte – verdeutlichten, warum sein Marktwert so gestiegen ist. „Ich weiß, dass es ungeheuer viel Geld ist. Mein Vater ist Bauleiter, meine Mutter Kassiererin. Es hat mir als Kind nie an etwas gefehlt, aber wir haben unsere Sommer nicht an der Côte d’Azur verbracht. Wenn ich immer die schicksten Räder gehabt hätte, wäre ich nicht, wo ich heute bin.“

In einer Sportart, deren demografischer Kern sich in Richtung Mittelschicht verschiebt, kann Bouhanni mit seiner Ausstrahlung ein anderes Publikum ansprechen. Indes sind Cavendishs und Kittels jeweilige und ganz verschiedene Arten von Charisma nicht zu bestreiten. Ersterer gehört immer noch zu den drei bestverdienenden Radrennfahrern, obwohl er seine schlechteste Saison seit Beginn seiner Profilaufbahn erlebt hat. Neben einem Jahresgehalt von über 2 Millionen Euro kassiert Cavendish jährlich sechsstellige Summen von mindestens fünf persönlichen Sponsoren (und sollte bei Redaktionsschluss einen Werbevertrag mit einem Uhrenhersteller unterschreiben).

Kittel bleibt ein wenig hinter diesem Spitzenverdienst-Potenzial zurück, aber dass Alpecin für vier Jahre als Sponsor bei seinem Team einsteigt und die ARD wieder live von der Tour berichten will, sind Indikatoren für seinen gestiegenen Marktwert. Nachdem er zu Beginn seiner Karriere sehr geradeheraus war, vor allem was Doping anging, hat er diese Tendenzen in den letzten zwei Jahren spürbar gezügelt. Kittel erklärte das in gewissem Maße beim Arctic Race of Norway: „Es ist wichtig, an das Bild zu denken, das man den Leuten vermittelt“, sagte er. „Viele Leute sehen dich nur ein oder zwei Minuten, und das Bild, das sie haben, ist wahrscheinlich das Bild, das sie von dir behalten werden.“

Vergleichen Sie Kittels Statements über Astana vor zwei Jahren („Da würde ich nie hingehen. Nie. Geld ist nicht alles. Ich will mich bei einem Team wohlfühlen. Ich habe schon Gerüchte über Astana gehört, was für eine Art Team das ist. Die Kasachen, selbst die Nicht-Fahrer, haben einfach eine andere Mentalität.“) mit dem, was er sagt, als wir ihn an diese Bemerkung erinnern: „Ich trage immer noch das Trikot von Giant-Shimano! Ihr braucht euch nur die Tour anzuschauen, wie sehr es noch ein Thema ist, dass Leute wie Winokurow immer noch ein Team managen. Das ist definitiv ein großes Thema für unsere Sportart, wie wir mit solchen Leuten umgehen. Ich glaube, die Öffentlichkeit und die UCI wissen es, dann siehst du die Medienreaktionen, dass da ein Problem entsteht, mit dem wir umgehen müssen, und entweder tun sie es oder sie tun es nicht. Aber es ist nicht meine Aufgabe, die Regeln zu machen. Es muss einen Prozess geben. Es ist wie mit den Fahrern, die wegen Dopings gesperrt wurden und zurückkommen dürfen: Entweder man verändert es, weil man damit nicht zufrieden ist, oder man lebt damit. Vielleicht gibt es klügere Arten, das zu lösen.“

Doch wenn es darum geht, Radrennen zu gewinnen, sind Taten wichtiger als Worte. Und 2014 hat Marcel Kittel seine Beine sprechen lassen.



Cover Procycling Ausgabe 129

Den vollständingen Artikel finden Sie in Procycling Ausgabe 129.

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