Der letzte Actionheld

Bevor er sein Rad an den Nagel hängte, warf Jens Voigt einen Blick zurück auf die Höhen und Tiefen seiner Tour-de-France-Karriere. Dabei halfen ein paar legendäre Fotos seinem Gedächtnis auf die Sprünge.

 

Am ersten Ruhetag der Tour setzte sich Procycling mit Jens Voigt zusammen, um mit dem 43 Jahre alten „Trek Factory Racing“-Profi eine Reise in die Vergangenheit zu unternehmen. Der Berliner ist seit 1998 fester Bestandteil der Tour. Er war seitdem bei jedem Grand Départ dabei und ist – bis auf drei Mal – alle Frankreich-Rundfahrten zu Ende gefahren. In diesen 17 Jahren hat er viele Erfolge gefeiert: Intermezzi im Gelben Trikot und zwei Etappensiege, ganz zu schweigen von der perfekten Mannschaftsleistung von CSC 2008, als  alle neun Paris erreichten und das Gelbe wie Weiße Trikot in ihren Reihen hatten. Unterdessen entwickelte sich Voigt zu einer der unverkennbarsten und beliebtesten Figuren im Peloton – dank seiner gefürchteten Attacken, seiner unverwüstlich guten Laune und seiner unterhaltsamen Zitate. So wird sein größtes Vermächtnis für den Radsport nicht sein Palmarès sein, sondern seine Persönlichkeit, die er in die Tour eingebracht hat. Bewaffnet mit einer Auswahl von Fotos des altgedienten Fahrers, fragen wir Voigt nach den Erinnerungen, die diese Bilder von der Frankreich-Rundfahrt hervorrufen. Von seinem ersten Etappensieg über den Horror-Crash 2009 bis hin zum letzten Moment im Rampenlicht der Großen Schleife, als er in Yorkshire das Gepunktete Trikot trug, dies ist die ultimative Auswahl: die größten Tour-Momente des zurückgetretenen Publikumslieblings Jens Voigt. 

14.07.2001
Erster Tag in Gelb
Ich bin in eine Ausreißergruppe gegangen, als wir Stuart O’Grady schon in Gelb hatten. Jungs wie Laurent Jalabert und Ivan Basso – ein sehr junger Ivan Basso – kamen uns hinterhergestiefelt. Gegen Ende stürzte Basso in der Abfahrt zum Ziel und brach sich das Schlüsselbein. Ich bremste und konnte ihm gerade noch ausweichen, aber in diesen drei bis vier Sekunden machte sich Jalabert aus dem Staub – und niemand fährt Jaja in einer Abfahrt hinterher. Na ja, jedenfalls nicht ich. Ich bin kein besonders guter Abfahrer, und wenn er 40 oder 50 Meter weg ist, sagst du dir: Okay, ich gebe mich mit dem zweiten Platz zufrieden. Es war der 14. Juli – der französische Nationalfeiertag. An dem Abend kam im Hotel eine Band zusammen, die Songs für mich spielte, als ich von der Dopingkontrolle und der Pressekonferenz kam. Der Abend war die erste von nur zwei Gelegenheiten in meinem Leben, wo ich zum Arzt gegangen bin, um mir eine Schlaftablette zu holen. Mein Kopf kam nicht zur Ruhe und ich hatte um Mitternacht eine Herzfrequenz von 120. Also bin ich zu ihm hin und habe gesagt: „Doktor, ich brauche was, ich bin so aufgeregt.“ Damals gab es noch kein mobiles Internet oder WhatsApp, und ich hatte 65 Nachrichten auf meinem Handy. Meine Mailbox war gesprengt. Ich war bis Mitternacht wach, um mit meinem alten Telefon die Antworten zu schreiben!

25.07.2001
Erster Etappensieg
Ja, das änderte meine Karriere offiziell zum Besseren. Ich war danach ein größerer Fahrer. Am nächsten Tag kamen die damaligen Helden – Fahrer wie Mario Cipollini und Johan Museeuw – auf mich zu. Mario sprudelte über: „Hey! Ciao! Yeah!“ Du hattest sofort das Gefühl, dass sie dich viel mehr respektierten und als einen der ihren ansahen – als Mitglied des Clubs der Etappensieger der Tour de France. Sieh mal, kein Helm. Ich war zwar mit Helm losgefahren, aber als die Ausreißer wegkamen, nahm ich ihn ab, weil das Risiko eines Sturzes begrenzt war. Im Finale hatte Bradley McGee – zum Glück für mich – einen Hungerast. Er war einfach total alle gegen Ende. Mein Sportlicher Leiter sagte noch: „Jens, arbeite nicht zu viel – er hängt dich im Sprint ab.“ Aber ich wusste, dass ich es unter Kontrolle hatte.

05.07.2005
Wie gewonnen, so zerronnen
Wir hatten an dem Tag alles in der Hand: den Etappensieg und die Verteidigung des Gelben Trikots. David Zabriskie hatte das Trikot aus dem Prolog, wo er zwei Sekunden schneller war als Lance. Ich erinnere mich an den Tag, weil wir so schnell fuhren. Wir waren konstant mit 65 km/h unterwegs, das ganze Team war dermaßen stark. Wir rotierten perfekt und lagen nie mehr als vier oder fünf Sekunden hinter US Postal zurück. Dann stürzte Dave auf den letzten 1.500 Metern und in den fünf Sekunden, die wir brauchten, um uns wieder zu organisieren, verloren wir das Gelbe Trikot und die Etappe. Damals war ich in meinem Zenit und hatte keine Angst vor dem Mannschaftszeitfahren. An dem Tag war es trocken, das war sehr hilfreich. In letzter Zeit waren Teamzeitfahren mit Fabian Cancellara das Schrecklichste, was man sich vorstellen kann. Mit ihm kannst du sehen, wer die Besten der Welt sind – und wer die Schlechtesten. Das Einzige, was hilft, ist, es zu relativieren und zu erkennen, dass du nicht der Letzte bist. Es ist eine spektakuläre Disziplin und eine großartige Übung, weil es die Harmonie in der Mannschaft zeigt und wie sich die Leute füreinander aufopfern, um gemeinsam etwas zu erreichen.

15.07.2006
Voigt attackiert
Die echten Hardcore-Radsport-Fans werden wissen, dass ich die Bayern-Rundfahrt dreimal und die Tour du Poitou-Charentes zweimal gewonnen habe. Aber das breitere Publikum kennt mich dafür: dass ich in verrückte Ausreißergruppen gehe, die keinerlei Aussicht auf Erfolg haben. Die Teams, für die ich gefahren bin, schätzen es, dass ich ein paar Rennen gewonnen habe. Bei der Tour de France hingegen hatte ich, wenn mein Team keinen Top-Sprinter und Klassementfahrer dabei hatte, einen Freibrief für diese verrückten Attacken. Ich habe es schon oft gesagt: Wenn du in die Ausreißergruppe gehst, hast du vielleicht eine Chance von zehn Prozent, wenn nicht, sind es null Prozent. Viele waren nicht bereit, bei diesen mageren Aussichten so viel zu investieren, aber ich habe harte Arbeit noch nie gescheut. Nach einer Weile habe ich erkannt, dass es die Leute gut fanden, dass ich die Tour fahre und kämpfe – allen Wahrscheinlichkeiten zum Trotz. Die Leute lieben den Underdog, den Typ, der keine Schnitte hat, aber nicht aufgibt. Aber jetzt kommt der Punkt: Manchmal hat es funktioniert und es sprang das Bergtrikot oder ein Etappensieg dabei raus – wie an dem Tag. Es hat so oft funktioniert, dass mich die Leute immer noch fürchteten, wenn ich mich abgesetzt habe. Die Leute nannten mich „Elvis der Ausreißer“, und Elvis war der König!

 

21.07.2009
Crash
Ich war nur drei oder vier Minuten bewusstlos, doch als ich wieder zu mir kam, war ich nicht ganz beieinander. Ich fragte B. S. Christiansen, den Typ auf dem Foto: „Ist es schlimm?“ Er verneinte und ich sagte: „Okay, dann setz’ mich wieder aufs Rad. Ich muss die Tour zu Ende fahren – es sind nur noch vier Etappen.“ Ich dachte nach dem Sturz nicht daran, mit dem Radsport aufzuhören. Das wäre mir vorgekommen, als würde ich kneifen. Ich wollte nie als der Typ in Erinnerung bleiben, der einen schweren Sturz hatte und dann aufhörte. Auch anschließend im Krankenhaus ging es. Sie haben mich zusammengenäht, aber ich konnte meine Zehen bewegen und wusste, dass es nur Zeit braucht, bis ich wiederhergestellt bin. Ich bin ein großer Anhänger der Idee, dass man sein Schicksal selbst in der Hand hat, und ich wollte alles im Griff haben und in der Lage sein zu entscheiden, wann der richtige Moment ist, um aufzuhören – nicht so ein völlig verrückter Unfall.

05.07.2014
Bergtrikot, Yorkshire
Als Neuprofi habe ich 1998 das Bergtrikot geholt und in meinem letzten Jahr habe ich es noch einmal getan. Mir gefällt die Symmetrie daran. Ich dachte bei der Mannschaftsbesprechung darüber nach, und wir sagten, wenn wir ohne zu großen Aufwand in die Ausreißergruppe kommen, haben wir dieses Trikot heute Abend. Bei Kilometer null saß ich also praktisch in der Tür von Christian Prudhommes Auto, konnte mich sozusagen vom Kotflügel abstoßen. Ich war bereit zuzuschlagen. Bei der ersten Bergwertung erkannte ich, dass die anderen Fahrer frischer und jünger sind als ich, also musste ich anders an die Sache herangehen. Deswegen habe ich mein 60-km-Solo hingelegt. Das ist der Punkt: Die Attacken mögen irrsinnig aussehen, aber normalerweise steckt ein Plan dahinter. Während meiner Entwicklung habe ich meine Stärken erkannt: meinen großen Motor und meine Fähigkeit, mich lange zu quälen, sodass nicht jeder scharf darauf ist, mir hinterherzufahren.

27.07.2008
Champs-Élysées, Paris
Zu Beginn der Feier nach der Tour saßen wir alle ruhig mit einem Bier da und ich sagte: „Wisst ihr was, Jungs, wir sollten alle jetzt aufhören – besser kann es nicht werden.“ Bei meinen 17 Frankreich-Rundfahrten haben, glaube ich, nur dreimal alle neun Fahrer Paris erreicht. Wir waren alle glücklich und gesund. Wir hatten die Tour gewonnen, die Mannschaftswertung gewonnen, wir hatten das Weiße Trikot und in unserem Rücken war der Arc de Triomphe, hinter dem die Sonne unterging. Wir konnten nie wieder so glücklich und stark und entspannt sein. In dem Jahr waren wir einfach viel stärker als alle anderen. Wir brauchten die Leute bloß anzuschauen, und schon trauten sie sich nicht mehr zu attackieren. Wenn ich aus meiner Karriere ein oder zwei Momente herausgreifen müsste, wo ich am glücklichsten war, dann war dies einer davon. Alle haben Opfer gebracht: Fränk opferte sein Gelbes Trikot in L’Alpe d’Huez, Andy die Chance, die Etappe zu gewinnen – es war alles für Carlos.



Cover Procycling Ausgabe 131

Den vollständingen Artikel finden Sie in Procycling Ausgabe 131.

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