Titelthema

Als erstem australischen Toursieger und Weltmeister ist Cadel Evans ein Platz in den Geschichtsbüchern sicher. Dabei galt der Ex-Mountainbiker im Straßenradsport lange als ewiger Zweiter, dem der Killerinstinkt zu fehlen schien, um Podiumsplätze in Siege umzumünzen – bis ihm in den späteren Jahren endlich der Durchbruch gelang. Wenn er seine Karriere im Februar beim Great Ocean Road Race, das seinen Namen trägt, beendet, wird es ein bewegender Moment für ihn sein. „Ich hoffe nur, dass mir nicht die Tränen kommen. Es wird hart, das letzte Mal bei einem Rennen an den Start zu gehen.“ Wir analysieren die Karriere eines sensiblen Sportlers, der Geschichte geschrieben hat.

 

Wenn ein Champion seine Karriere beendet und man Kollegen bittet, sich an ihre erste Begegnung mit ihm zu erinnern, fällt ihnen normalerweise ein großer Sieg oder ein bestimmtes Rennen ein. Doch fragt man Damien Grundy, Mountainbike-Trainer und Mentor von Cadel Evans, nach seinen frühesten Erinnerungen an den ersten Fahrer, der vom MTB-Weltcup-Champion zum Toursieger wurde, kommt er auf einen „ziemlich lausigen Tag“ 1993 im Wintersportort Thredbo in den Australischen Alpen in New South Wales zu sprechen. Insbesondere erinnert sich Grundy an den Moment, als seine Frau Rachel aus dem Fenster schaute und „diesen 15 Jahre alten Jungen sah, der immer in das Fahrradgeschäft in Melbourne kam“, wo Grundy seinerzeit arbeitete. Grundy wurde hellhörig, als Rachel ihn auf Evans hinwies, der dort ein Rennen der australischen MTB-Jugendmeisterschaft bestritt. Er stand auf und schaute aus dem Fenster, um den Jungen in Aktion zu erleben. „Ich dachte: Ob er wohl Hilfe braucht?, erinnert sich Grundy zwei Jahrzehnte später an seinen Schützling. „Also bin ich zur Ziellinie gegangen. Wie sich herausstellte, wurde er Zweiter. Ich ging zu ihm, stellte mich vor und sagte: Hey, ich arbeite im Fahrradladen und bin selbst ein paar Rennen gefahren. Wenn du Unterstützung oder Tipps brauchst, bin ich gern für dich da. Das war das erste Mal, dass mir Cadel auffiel. Ich glaube nicht, dass er vorher viele Rennen gefahren war. Es war eines seiner ersten Rennen. Er wurde Zweiter und schien einiges Potenzial zu haben.“ Grundy spricht gerade bei einem Mittagessen, das von Ernst & Young, einem von Evans’ australischen Sponsoren, ausgerichtet wird. Es ist der Tag, nachdem der erste australische Toursieger in sein Heimatland zurückgekehrt ist, um die Route für das letzte Rennen seiner Karriere zu präsentieren: das Cadel Evans Great Ocean Road Race, das am 31. Januar und 1. Februar mit Start und Ziel in Geelong südwestlich von Melbourne ausgetragen wird.

Wenn Grundy in ihm „einiges Potenzial“ sah, so ist das eine Untertreibung. 1995 ging Evans als Mountainbiker zum Australian Institute of Sport, gewann 1998 und 1999 MTB-Weltcups und trat bei den Olympischen Spielen 1996 und 2000 in dieser Disziplin an. Dann wechselte er zum Straßenradsport und nahm Kurs auf den ersten australischen Sieg bei der Frankreich-Rundfahrt. Auch wenn sich Evans’ Karriere nicht auf diesen historischen Tour-Triumph reduzieren lässt, ist der Erfolg umso bedeutender angesichts der Kämpfe, die er dazu ausfechten musste. Auf dem Weg dorthin lagen ein achter Platz bei seinem Tour-Debüt 2005, ein vierter im Jahr 2006 sowie zweite Plätze in den Jahren 2007 und 2008, wo er mit schmerzhaften 23 beziehungsweise 58 Sekunden unterlag. Das waren nicht die einzigen bemerkenswerten Leistungen von Evans. In seinem Palmarès stehen zudem die Straßenweltmeisterschaft 2009 in Mendrisio, fünf Podiumsplätze bei seinen 17 Starts bei Tour, Vuelta a España und Giro d’Italia sowie Siege beim Flèche Wallonne (2010), der Tour de Romandie (2006 und 2011), Tirreno – Adriatico (2011) und dem Critérium International (2012). Selbst 2014 konnte er Erfolge verbuchen: ein Etappensieg bei der Tour Down Under, wo er Gesamt-Zweiter wurde, vier Tage im Rosa Trikot beim Giro, den er auf dem achten Platz beendete, zwei Tageserfolge plus Gesamtsieg beim Giro del Trentino sowie zwei Etappen der Tour of Utah.

1999 wurde Evans’ Potenzial auf der Straße sichtbar. Obwohl er noch Mountainbiker für Volvo-Cannondale war, entschied Evans die Tour of Tasmania für sich, indem er die letzte Etappe mit Berg-ankunft am Mount Wellington gewann, was den Kommentator Phil Liggett zu der Bemerkung veranlasste: „Dieser Junge könnte eines Tages die Tour de France gewinnen.“ Grundy hätte leicht im Kielwasser von Evans’ beeindruckender Karriere versinken können, als er Ende 2001 auf die Straße wechselte und dort blieb. Aber es spricht für Grundys Einfluss, dass der mittlerweile 37 Jahre alte Evans ihm und allem, was er in jungen Jahren von ihm gelernt hat, einen großen Teil seines Erfolgs zu verdanken glaubt – ungeachtet der Bedeutung des Italieners Aldo Sassi, der Ende 2010 verstarb. „Es ist komisch, dass ich noch heute, mit 37 Jahren, etwas mache und sage: Das stimmt, das liegt daran, dass er es mir gesagt hat, als ich 15 war“, würdigt Evans Grundys nachhaltige Wirkung auf seinen Werdegang, als er zu dem Publikum spricht, das gerade Grundys Reminiszenzen gelauscht hat. Ein Punkt, den man betonen muss, ist, dass Evans ein Siegertyp ist. Das ist notwendig, weil seine knappen Niederlagen so gut dokumentiert sind. Er bedauert die drei großen Rundfahrten, die ihm durch die Lappen gegangen sind, immer noch: die Tour de France 2007, wo er Zweiter hinter Alberto Contador wurde mit 23 Sekunden Rückstand, die Niederlage gegen Carlos Sastre um 58 Sekunden bei der folgenden Auflage; und die Vuelta 2009, wo der unbeholfene Service vom neutralen Materialwagen ihn in der Sierra Nevada um seine Chance brachte, das Spitzenreitertrikot zu übernehmen.

Bei allen charakterlichen Eigenarten, die – zu Recht oder nicht – für viele Kommentare in der Öffentlichkeit und den Medien sorgten (er gilt als schüchtern, etwas schwierig und introvertiert), war Evans ein Rennfahrer, der immer den Erfolg gesucht hat. Nicht, dass der Australier nicht über sich selbst lachen kann: Er amüsiert sich prächtig über die Reaktionen auf seinen legendären Ausspruch „Tritt nicht auf meinen Hund, sonst schneide ich dir den Kopf ab“ bei der Tour 2008 im Ziel in Prato Nevoso, wo seine Frau Chiara Passerini mit Hündchen Molly auf ihn wartete. Evans ließ sogar eine eigene „Don’t stand on my dog!“-T-Shirt-Kollektion drucken. Wenn man Grundy zuhört, beginnt man die Wurzeln seiner Siegermentalität ebenso zu verstehen wie seine Detailverliebtheit und Akribie in der Vorbereitung – und warum er seine Ziele nicht an die große Glocke hängen wollte. Wie Grundy erklärt, sind er und Evans immer mit der Absicht in ein Rennen gegangen, es zu gewinnen: „Ich sprach immer über unseren Plan, ein Rennen zu gewinnen – was ist der Plan? Wir sprachen nicht darüber, ob es ein realistischer Plan ist. Es ist doch witzlos, zu einem Rennen zu gehen und zu sagen, ‚wir treten dort an und wollen gut abschneiden‘ oder ‚wir planen, Zehnter zu werden‘. Nein, es hieß, ‚wir sind hier und das und das müssen wir tun, um zu gewinnen‘. Wenn wir bei einem Rennen starteten, sprachen wir über den Prozess, der notwendig ist, um es zu gewinnen. Ich hatte Glück mit Cadel. Es hat sich gelohnt … Er ist außergewöhnlich, auch heute noch. Ich schaue mir seine Beständigkeit an und gerate ins Schwärmen. Wenn Sie ein Geschäft hätten, das immer so gut läuft – dann würden Sie ein sehr erfolgreiches Geschäft betreiben.“

Eine aufmerksame Zuhörerin bei Grundys Rede ist Evans’ Mutter Helen Cocks, die ihn 1977 im Katherine Hospital im australischen Northern Territory zur Welt brachte, 80 Kilometer entfernt von der Aboriginal-Gemeinde Barunga, wo sie und Evans’ Vater Paul damals lebten. Die Familie ging 1986 auseinander, als Evans’ Eltern sich scheiden ließen. Sein Vater zog an die Küste von New South Wales, während er und seine Mutter sich im selben Bundesstaat im ländlichen Armidale niederließen. Später zogen sie in den Süden nach Melbourne, wo sie heute noch lebt. Cocks hat Evans auf seinem Weg wenn nicht persönlich, dann in Gedanken begleitet. „Es war lang, aufregend, anders, traurig, erschreckend, alles“, sagt sie. „Er war schon immer so ein Mensch … schon als kleiner Junge war er ein Draufgänger.“ Trotz aller Resultate, die er ohne Krankheiten, Verletzungen oder Pech hätte erreichen können oder sollen, findet Cocks, dass ihr Sohn durchaus ein Quäntchen Glück hatte, als er seiner Liebe zum Radsport – oft allein – nachging, von seiner Kindheit im australischen Outback bis heute. „Cadel hatte diese außergewöhnliche Physis“, sagt sie. „Aber er hatte auch die richtige Einstellung und das Glück, die Leute kennenzulernen, die sein angeborenes Talent förderten, sodass er zu dem werden konnte, was er heute ist.“

Solche Betrachtungen werden den scheidenden Champion sicher bis zum Cadel Evans Great Ocean Road Race begleiten, das am 1. Februar durch seine Heimatstadt Barwon Heads rollt. Die einzigen anderen Rennen, die vorher noch auf seinem Programm stehen, sind die australischen Meisterschaften in Buninyong im Bundesstaat Victoria am 11. Ja-nuar und die Tour Down Under vom 17. bis zum 25. Januar. Evans hat nie nach Ruhm und Reichtum gestrebt, akzeptiert aber jetzt seinen Status. „Ich sehe es von zwei Seiten – Ruhm und Reichtum“, sagt Evans. „Reichtum ist immer gut und Ruhm – wenn er Reichtum bringt, kann das nicht schaden, oder? Aber ich habe mit dem Radsport angefangen, um ein möglichst guter Rennfahrer zu werden. Als es besser lief und ich immer größere Rennen gewann, war mir natürlich klar, dass ich bekannter werden würde.“ Als Evans erkannte, dass er als „guter Rennfahrer zum Vorbild für junge – und nicht so junge – Leute wurde“, dachte er: „Das ist eigentlich ein Privileg, und es ist gut, um Werbung für den Sport und eine gesunde Lebensweise zu machen.“

 

Evans weint selten, wie er sagt, obwohl ihm Tränen in den Augen standen, als er 2009 bei der WM auf dem obersten Treppchen stand – und als er 2011 auf seiner Pressekonferenz als Toursieger im Velodrom von Grenoble nach dem Einfluss von Aldo Sassi als Trainer und Freund gefragt wurde. In Grenoble, wo er das Gelbe Trikot holte und sich den Toursieg sicherte, bröckelte Evans Beherrschtheit vor den Medien, als er auf Sassi angesprochen wurde, der „erst neun Monate zuvor [an einem Gehirntumor] verstorben war“, wie Evans sich erinnert. „Da habe ich daran gedacht, wie stolz Aldo darauf gewesen wäre, wie wir das Rennen gefahren waren. Darauf hatten wir so lange hingearbeitet. Es war eine Bestätigung seiner Überzeugung und seiner Philosophie, denn seine ganze Laufbahn drehte sich um ein Ziel: zu versuchen, die Tour de France zu gewinnen.“ Das erste Mal, dass Evans tatsächlich in der Öffentlichkeit weinte, sagt er, war aus Frust – nach dem zeitraubenden Laufradwechsel durch den neutralen Materialwagen bei der Vuelta 2009, die Valverde gewann. Tränen kamen ihm auch beim Rechtsstreit um Valverdes Verwicklung in die Operación Puerto, wegen der der Spanier schließlich eine zweijährige Dopingsperre bekam, bevor er 2012 wieder fahren durfte. „Es war nicht, weil ich den Prozess nicht gewonnen habe, sondern wegen der Situation, in die ich gebracht wurde. Ich hatte diese Situation nicht verdient. Es war, weil jemandem, der zu dem Zeitpunkt nicht in unserem Sport hätte aktiv sein dürfen, der Sieg gegeben wurde.“ Doch trotz solcher Tiefen versichert Evans, dass das Gute an seiner Karriere auch war, dass „du nie weißt, was passiert. Eine Woche später“, sagt er unter Verweis auf diese Enttäuschung bei der Vuelta 2009, „war das Glück in Mendrisio wieder auf meiner Seite.“ Evans wird sicher noch einige Male etwas zu Herzen gehen, bevor er seine Karriere beendet. Er war jedenfalls gerührt von den Worten des australischen Premierministers Tony Abbott – ein leidenschaftlicher Radfahrer – in einer aufgezeichneten Videobotschaft, die bei seiner Rückkehr nach Australien während des Begrüßungs-Mittagessens lief. Abbott attestierte Evans „Biss und Entschlossenheit“ und nannte ihn „einen der größten australischen Sportler aller Zeiten und vielleicht den zähesten Mann, der je unser Land vertreten hat“. Evans gibt zu, dass ihn Abbots schwärmerische Komplimente ein bisschen verlegen machten.

Die Entscheidung, seine Karriere zu beenden, ist ihm nicht leicht gefallen, auch wenn er schon beim Giro im Mai nach der 17. Etappe daran dachte – nachdem er am Vortag im Schneesturm viel Zeit eingebüßt und es in der Abfahrt vom Gavia mit der Angst zu tun bekommen hatte, wie er dem Sydney Morning Herald sagte. Und das, wo er als früherer Mountainbiker bergab doch in seinem Element sein sollte. Als er den Giro-Sieg – bei seiner letzten „Grand Tour“-Offensive – abhaken konnte, sagte Evans über die 16. Etappe von Ponte de Legno zum Martelltal: „Auf dem Gavia hatte ich Angst, dass ich nicht heil runterkomme. Ich habe wirklich Panik, wenn ich nicht sehe, wo ich hinfahre.“ Zurück in Australien, bestätigte Evans, dass es ihm nach diesem Giro – den er als Achter beendete – in den Sinn gekommen war, sein Rad an den Nagel zu hängen. Für die Tour im Juli war er zum ersten Mal seit zehn Jahren ohnehin nicht vorgesehen. Die Entscheidung, seine aktive Laufbahn zu beenden, wurde zwar erst bekanntgegeben, nachdem Evans die Vuelta als Helfer für seinen spanischen Teamkollegen Samuel Sánchez gefahren war, aber Evans gibt zu: „Als das Resultat [beim Giro] nicht kam, konnte ich akzeptieren, dass ich vielleicht nicht mehr fähig bin, eine große Rundfahrten zu gewinnen. Das macht es einfacher. Wenn ich nicht gewinnen kann, muss ich auch nicht unbedingt dabei sein.“ Trotzdem war der Entscheidungsprozess nicht einfach. „Es steckt so viel Motivation und Schwungkraft hinter dem, was ich mache. Und das hat mich befähigt, die erforderliche Arbeit zu leisten: das Training, die Reisen und Opfer und die Disziplin, die du in jeder Sportart brauchst oder bei allem“, sagt Evans. „Diese Dynamik zu stoppen, ist nicht so einfach. Da ist immer noch ziemlich viel Wucht dahinter, nach all den Jahren.“

Obwohl Evans natürlich gerne eines seiner drei letzten Rennen gewinnen würde, ist er auch realistisch. Auf die Frage, ob er sich für den letzten Tag emotional gewappnet sieht, sagt er: „Ich hoffe nur, dass mir nicht die Tränen kommen. Es wird hart, sich zum letzten Mal eine Rückennummer anzuheften, zum letzten Mal ein Rennen zu fahren und wohl zum letzten Mal auf den letzten Kilometer zu kommen. Es könnte schwer für mich werden, andererseits habe ich diesem Sport alles gegeben.“ Gibt es etwas, was Evans im Rückblick auf seine Karriere besonders bedauert? „Ich bedauere einiges“, sagt Evans. „Aber insgesamt finde ich, dass ich viel mehr erreicht habe oder erleben durfte, als ich mir je erträumt habe.“ Und was wird er am meisten vermissen? Evans, der nach seiner aktiven Laufbahn als Botschafter für seinen Radsponsor BMC arbeiten wird, lacht, bevor er antwortet: „Ich werde es nicht vermissen, den Set-Knopf an meinem SRM zu drücken.“ Und er hat ja auch noch ein Privatleben. Evans und seine Frau haben einen Adoptivsohn, Robel, mit dem er mehr Rad fahren will, und der Wunsch scheint beiderseitig zu sein. „Mein Sohn fragt: ‚Wie viele Rennen musst du noch fahren?‘ ‚Warum?‘, frage ich. ‚Weil ich am Wochenende mit dir Rad fahren will!‘“



Cover Procycling Ausgabe 132

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