Porte entfesselt

Richie Portes Fluch war, bei seiner ersten Grand Tour 2010 Siebter zu werden, was zu hohen Erwartungen und großem Druck führte. Aber sein fünfter Platz bei der diesjährigen Tour sollte die Zweifel zerstreuen, die er in sechs Jahren der Helferarbeit und Grand-Tour-Fehlzündungen genährt hat.

 

Respekt für Richie Porte. Zum ersten Mal bekomt er eine Chance – eine echte Chance –, bei der Tour de France auf Gesamtwertung zu fahren, und er lässt nichts anbrennen. Nach viereinhalb Frankreich-Rundfahrten als einer der luxuriösesten Domestiken der WorldTour wird er Co-Kapitän bei BMC, erleidet eine Litanei an Rückschlägen, lässt sich nicht unterkriegen und wird Fünfter. So viel zu den Kritikern. Bis zur diesjährigen Tour stimmte etwas nicht mit dem offenen und sympathischen Mann aus Tasmanien. Auf der einen Seite ist er ein brillanter und dynamischer Kletterer – einer der besten der Welt, wenn er gut aufgelegt ist. Er ist auch ein solider Zeitfahrer – Vierter der Zeitfahr-Weltmeisterschaft in Geelong 2010. Und er hat einen Palmarès bei einwöchigen Etappenrennen, an den nur wenige seiner Zeitgenossen herankommen. Auf der anderen Seite steht die Serie von hinteren Plätzen bei den großen Landesrundfahrten. Viele glauben, der 31-Jährige sei einfach nicht aus dem richtigen Holz geschnitzt. Er sei anfällig für einen gewohnheitsmäßigen schlechten Tag, wie auf der Etappe nach Bagnères-de-Bigorre 2013, und für eine gewisse mentale Zerbrechlichkeit. Beides sind jetzt Porte-Klischees. Gegen den ersten Vorwurf hat er schon Argumente geliefert, aber er hat die Geschichte nie wirklich geändert – bis zur Tour 2016. Obwohl er bei dem Rennen reichlich Pech hatte, bewies er, dass ihm echte innere Kraft nicht – oder nicht mehr – fehlt. Vergessen Sie also die Frankreich-Rundfahrten, bei denen er 48., 23., 19., 89. und 71. wurde; da musste er für Chris Froome oder Bradley Wiggins arbeiten. Wischen Sie die Vuelta 2012 beiseite, wo er 68. wurde, weil er erst die Tour bestritten hatte und in Spanien mit dem Reservetank fuhr. Und übersehen Sie seinen 80. Platz beim Giro 2011, wo er für Alberto Contador fuhr. Die Gesamtsumme von Portes Grand-Tour-Spitzenreiterpositionen sind der Giro 2015, den er nicht beendete, und zwei Drittel der Tour 2014, bei der er das Trikot von Froome erbte, aber schon von einer Erkrankung geschwächt war, die sich später als Lungenentzündung herausstellte. Anders herum hatte er sechs Monate, um sich bei BMC einzuleben, eine Rolle zu übernehmen, mit der er wenig Erfahrung hatte – die Kapitänsrolle bei einer Grand Tour –, und zu liefern. Der fünfte Gesamtplatz ist also insgesamt gut. Und wenn er ein bisschen Glück gehabt hätte, wäre er auch auf dem Podium gelandet. Kein Wunder, dass Porte die Tour nach der Ankunft in Paris „bittersüß“ nannte. Und sein BMC-Coach David Bailey, der die Leistung einen „Initiationsritus“ nannte, glaubt, dass es dem Team die Zuversicht geben kann, seine Rundfahrer-Mannschaft auf Porte auszurichten.
 
Die Einstellung stimmt
Wir treffen Porte beim Critérium du Dauphiné in einem Hotel am Rande von Chambéry. Er liegt auf dem Massagetisch und beantwortet Fragen in seiner geradlinigen und trockenen Art. BMC passe zu ihm. Er sei dort in Gesellschaft von Australiern – Rohan Dennis und Allan Peiper sind bei diesem Rennen auf dem gleichen Korridor. Der Amerikaner Tejay van Garderen, der bei der Dauphiné fehlte, aber sich bei der Tour die Kapitänsrolle mit Porte teilen sollte, habe sich alle Mühe gegeben, damit er sich willkommen fühle, berichtet er. „Es läuft gut. Das Team zu wechseln, ist nicht leicht, aber wir sind auf der Straße eine tolle Truppe“, sagt Porte. „Kampfeslustig“ ist oft das Wort, das benutzt wird, um den Mann aus Launceston zu beschreiben, der im Schwimmbad seiner Stadt als Rettungsschwimmer arbeitete und Triathlon trainierte. Aber während viel Kämpferisches in Porte, dem Fahrer, steckt, gibt es nichts Aggressives in Porte, dem Mann.
Es ist nach der Etappe nach Belley. Porte hat neun Sekunden auf Froome, Romain Bardet und Daniel Martin verloren, als das Feld gut zwei Kilometer vor dem Ziel auseinanderriss. Die Jury entschied, dass es nicht an einem Sturz lag, sondern an einer Lücke, die nur durch das Rennen entstanden war. „Als der Sturz passierte, hat uns das behindert“, versichert er. „Einige schrien, es war innerhalb der Drei-Kilometer-Regel, und einige haben die Beine hochgenommen.“ Aber sein schneller Nachtrag – „ich glücklicherweise nicht“ – zeigt, dass Porte bei Etappenankünften heute nichts mehr für selbstverständlich hält. Der Zwischenfall in Belley ließ Porte an den Giro 2015 denken, an das Luxus-Wohnmobil von Sky mit dem Handdesinfektionsspender an der Tür – Zeichen für die großen Ressourcen und das große Vertrauen, das das britische Team in seine Giro-Offensive setzte. Die Offensive wurde durch die Mutter aller Jury-Entscheidungen gestoppt. Nach einem Defekt auf der 10. Etappe nahm er ein Laufrad von Simon Clarke an, einem Freund von Orica-GreenEdge. Anfangs war Porte dankbar für die Hilfe, doch am Ende des Tages, als die Fotos auftauchten und die Jury sie gesehen hatte, bekam er wegen Annahme unerlaubter Hilfe zwei Strafminuten aufgebrummt. Porte wurde vorgeworfen, die Regeln nicht zu kennen. Von da an ging es mit seinem Projekt Gesamtsieg schnell bergab. In den nächsten fünf Tagen verlor er durch eine Kombination aus Stürzen und Verletzungen drei weitere Male Zeit auf seine Rivalen und stieg wenig später aus. „Regeln sind Regeln, aber man kann sie auslegen“, sagt er. „Mir hat ein Kommissär gesagt, wenn wir diesen Interpretationsspielraum genutzt hätten, hätte ich die Probleme im letzten Jahr nicht gehabt. Ich verstehe es einfach nicht. Selbst wenn du die Regeln in- und auswendig kennst, ist es ein Problem, dass sie bei einigen Fahrern Nachsicht zeigen. Was sollst du als Fahrer machen?“, fragt er rhetorisch. Damals sah alles so aus, als käme Porte nicht klar mit dem Druck der Kapitänsrolle und der Wiedergabe der ganzen traurigen Saga in den Medien. Zeit und Hilfe von außen haben ihm geholfen, die Geschichte zu verarbeiten. Wie Bailey, sein neuer Coach bei BMC, sagt, habe Porte wie jeder Profisportler „seine Unsicherheiten und braucht Leute um sich herum, die ihm Zuversicht und Selbstvertrauen geben“. Porte rechnet es „meinem Typ in Tassie“, wie er einen Psychologen namens George Hyde nennt, heute hoch an, dass er ihn dazu gebracht habe, sich auf seine Leistung zu konzentrieren statt auf die Ablenkungen drumherum. „Er ist ein guter Kumpel“, sagt Porte, „aber vor allem machen wir zusammen Ausfahrten. Wir sprechen jede Woche miteinander. Er schreibt mir E-Mails. Es geht darum, die Dinge so weit wie möglich zu vereinfachen.“ Ein Teil des Vereinfachungsprozesses, erklärt Porte, sei gewesen, sich weniger darum zu kümmern, was die Leute von ihm erwarten, und das Hintergrundrauschen von Twitter zu ignorieren. „Außerdem lasse ich die Finger von den sozialen Medien“, sagt er, „weil es egal ist, was die Leute auf Twitter zu sagen haben. Die Hälfte von ihnen hat sowieso keine Ahnung. Früher gingen sie in Kneipen und lästerten über Leute und jetzt sitzen sie lieber am Computer. Die mentale Seite ist ein wichtiger Aspekt, weil man da große Gewinne machen kann. Schwierigkeiten mit jemandem mental durchzuarbeiten und zu versuchen, den Stress abzubauen, hilft.“ Ein so dickes Fell wie sein Freund Chris Froome müsse er sich aber erst noch zulegen. „Wenn mich jemand mit Pisse bewerfen würde, würde ich es nicht so locker wegstecken“, sagt Porte lächelnd – doch er arbeite daran.
 
Weight-Watcher
Auf der BMC-Pressekonferenz vor der Tour bat das Team darum, Porte nur nach BMC-Angelegenheiten zu fragen, nicht nach seiner Alma Mater, dem Team Sky. Fürs Protokoll sagte Porte jedoch, dass Froome der beste Rundfahrer sei. „Daran besteht kein Zweifel“, fügt er hinzu. Ein freimütiges Eingeständnis – defätistisch, könnte man sagen –, aber Porte spricht nun mal gerne Klartext mit den Medien. Denn der Fahrer, den BMC rekrutiert hat, ist bei dem britischen Team in die Schule gegangen. Die Relevanz dessen erkennt Porte an. „Ein Gebiet, wo Sky und die Briten den anderen so weit voraus sind, ist im Coaching“, sagt Porte. Trotz des Teamwechsels gibt es bei seinem Training weiter einen starken britischen Einfluss durch Bailey, der seit Saisonbeginn in Vollzeit für das WorldTour-Team arbeitet. Bailey war lange für British Cycling tätig, für Sky bei seiner Gründung 2008/09 und eine Reihe von ProContinental- und britischen Teams. „Es war eher eine Vorbereitung auf Sparflamme, und daher war ich bei Paris–Nizza und diesen Rennen noch nicht so fit“, gibt Porte zu. „Im letzten Jahr war ich bei diesen Rennen in ziemlich guter Form. Dieses Jahr war es entspannter, aber ich war trotzdem ganz gut in Schuss.“ Bei der Dauphiné erwähnte Contador in einem Interview Portes sehr schlanke Figur. Der Australier kam in dem sehr schweren Berg-Prolog extrem nahe an den Spanier heran und zeigte, dass er in Form war und Renngewicht hatte – 58 Kilogramm. Als Procycling das Lob erwähnt, lächelt Porte und entschärft den Druck eines Kompliments von einem Fahrer von Contadors Kaliber und Reputation. „Als ich 2015 auf 57 Kilogramm runter war, sagte [Sky-Trainer] Tim Kerrison, ich hätte Kraft verloren. Ich wollte es nicht zugeben.“ Porte erklärte die Diskrepanz zunächst damit, dass das Team von SRM-Powermeter auf Stages-Wattmessgeräte umgestiegen war. Porte hatte in der Vergangenheit mit seinem Gewicht zu kämpfen. Ende 2014, als die Lungenentzündung diagnostiziert wurde, sagte einer der Ärzte ihm nachdrücklich: „Du siehst nicht wie ein Rennfahrer aus und du verhältst dich nicht wie ein Rennfahrer.“ Nach einer rigorosen Saisonpause mit langen Schwimm-Sessions und weniger Ausgeh-Abenden – „die Annehmlichkeiten des Lebens im Fahrerlager“ nennt er das – lieferte Porte 2015 sein bestes Frühjahr überhaupt ab: neun Siege bis Ende April, darunter Paris–Nizza, die Volta a Catalunya und den Giro del Trentino. Seitdem ist die Kontrolle seines Gewichts viel einfacher geworden, kontraintuitiv vielleicht, weil er es nicht so ernst nimmt – und weil er sich auch privat gebunden hat: Porte hat vor Saisonbeginn geheiratet. „Für mich war es nicht so schwer abzunehmen“, sagt er. „Wenn dein Ziel die Tour ist, weißt du, dass du ab April auf deine Ernährung achten musst, aber ich bin erst im April auf die Waage gestiegen. Ich würde sagen, je länger ich Profi bin, umso einfacher ist es. Du wirst etwas erwachsener, du gehst nicht aus und trinkst was, du bleibst zu Hause. Es ist so eine große Gelegenheit, Kapitän bei der Tour zu sein, es fühlt sich nicht wie ein Opfer an, zu Hause zu bleiben und Lachs mit Reis zu essen.“

 

Gute Stimmung
Mithilfe eines Teams neuer Leute, denen er vertraut, reiste Porte mit einer positiven Einstellung zum Grand Départ in der Normandie.Für Experten standen Portes physische Fähigkeiten nie infrage. Was für einige von ihnen eine Überraschung gewesen sein mag, eine besonders angenehme für die BMC-Mitarbeiter, war, wie schnell Porte sich mental vom Helfer zum Kapitän wandelte und das alles mit einer beeindruckenden Demonstration seiner Widerstandsfähigkeit untermauerte.
Porte hatte auf der 2. Etappe nach Cherbourg, fünf Kilometer vor dem Ziel, einen Plattfuß und der neutrale Service stellte sich beim Laufradwechsel sehr ungeschickt an. „Es war ein Desaster, aber was willst du machen?“, sagte er im Ziel, als er erfuhr, dass er 1:45 Minuten auf seine Rivalen verloren hatte. „Wir tun so, als wäre es nie passiert, und warten darauf, dass die Berge kommen.“ „So tun, als wäre es nie passiert“ stellte sich als wiederkehrendes Thema von Portes Tour heraus, während er weiter konzentriert nach vorn schaute. Obwohl er nach der 2. Etappe auf dem 81. Platz dümpelte, hatte er sich zu Beginn der Alpenetappen wieder in die Top Ten vorgearbeitet. Als er sich Froome am Mont Ventoux auf der 12. Etappe als ebenbürtig erwies, war Porte derjenige, der zuerst auf das stehengebliebene Motorrad auffuhr. Er spürte die Folgen des Sturzes beim windigen Zeitfahren am folgenden Tag und war mehr als zwei Minuten langsamer als Froome, aber genauso schnell wie Nairo Quintana. „Es hat höllisch weh getan“, sagte er seinerzeit trocken. Porte fuhr in den Alpen weiter kämpferisch und infiltrierte die Gruppe der Fahrer, die es auf das Podium in Paris schaffen konnten. Beim Bergzeitfahren kletterte er die Côte de Domancy schneller hoch als jeder andere und wurde an jenem Tag Vierter. Das Pech klebte ihm einmal mehr an den Pedalen, und auf der 19. Etappe war er einer der Fahrer, die auf der regennassen Etappe nach Saint-Gervais stürzten. Er schaffte es trotzdem, eine Attacke zu starten. Am Ende der Tour bewies Porte, dass er in den Bergen wahrscheinlich die größte Gefahr in der Gesamtwertung war: Nicht einmal geriet er in Schwierigkeiten und alles in allem startete er Angriffe in Arcalis, am Ventoux, auf der Etappe nach Finhaut-Emosson und in Saint-Gervais. Porte war der einzige Fahrer, der in den Bergen durchweg mit Froome mithalten konnte. In die Kritik geriet dagegen die Taktik von BMC. Als sie mit einem Etappensieg und dem Gelben Trikot für Greg Van Avermaet punkteten, bekam er einen Freibrief, zu fahren, wie er wollte, und kam in drei Ausreißergruppen. Aber bei Portes gemeinsamer Kapitänsrolle mit van Garderen knirschte es und sie verzettelten sich – so etwa in der Abfahrt vom Col de Peyresourde, als Froome seine Downhill-Attacke startete, oder an allen Bergen, wo sie für sich selbst fuhren. Erst als van Garderen auf der 17. Etappe einbrach, war der Amerikaner schließlich bereit, für Porte zu arbeiten.
 
Voll dabei
Nachdem sechs Jahre lang nicht klar war, wo Porte in der Besetzungsliste der Grand-Tour-Favoriten steht, wissen wir jetzt: Er hat es endlich geschafft. Genau wie BMC, die jetzt darüber nachdenken müssen, ob Porte ihr einziger Mann für die Gesamtwertung sein sollte. Offenbar unternimmt das Team schon Schritte, hat es doch für 2017 den soliden Berghelfer Nicolas Roche rekrutiert. Porte hatte immer schon die Fähigkeiten, jetzt hat er bewiesen, dass er auch die Widerstandfähigkeit und das Temperament hat. Die Leute bei BMC werden einfach hoffen, dass ihm das Glück in den kommenden Jahren etwas öfter hold ist.



Cover Procycling Ausgabe 152

Den vollständingen Artikel finden Sie in Procycling Ausgabe 152.

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