Die besten Pläne …

1985 war Bernard Hinault entschlossen, mit Eddy Merckx gleichzuziehen, nach dem Rosa und dem Gelben Trikot auch das Regenbogentrikot zu gewinnen und sich die „Dreifach-Krone“ des Radsports aufzusetzen. Procycling erinnert an die psychologische Kriegsführung des „Dachses“.

 

„Hinault wird jeden Tag ungenießbarer und streitlustiger.“ Das hatten sie geschrieben, als ob sie Ahnung davon hätten. „Unbeugsam, verbittert und noch unnahbarer“, befanden andere, aber der Miroir du Cyclisme war am besten: „Er ist nervös, weil er sehr gut weiß, dass das Ende naht, und das Ende hat einen Namen. Es heißt Greg LeMond.“ Die Presse hatte ein Recht auf ihre Meinung, aber ihre Meinung war falsch. Wenn der Dachs „ungenießbar und streitlustig“ war, dann wegen solcher Kommentare, und außerdem nahte das Ende nicht, und das hatte er beim Giro und der Tour bewiesen. Jetzt brauchte er nur noch einen guten Tag in Italien und alles würde ihm gehören. Montello, 1. September 1985 – vielleicht nicht so schwer, wie er gewollt hätte, aber auch kein Billardtisch. So wie er das sah, waren Radrennen wie Menschen. Man musste ihnen nur seinen Willen aufzwingen, und wenn man sie lange und hart genug bearbeitete, gaben sie schließlich nach. Das war das Gesetz des Radsports. So hatte er es 1980 in Sallanches gemacht und so würde er es auch in Italien machen. Sallanches sei eines seiner besten Rennen gewesen, sagten sie, und eine der besten Weltmeisterschaften. Es war riskant gewesen, so zu fahren wie er, aber je mehr er sich selbst auspowerte, umso mehr knickten sie ein. Einen Moment oder zwei war er am Limit gewesen, aber am Ende hatte er seinen Angriff durchgehalten und sie nicht. Baronchelli war als Letzter eingebrochen, aber eingebrochen war er – und das war’s. Hinaults Gesetz. Es war die Hölle von einem Rennen gewesen, aber danach hatte es sich irgendwie hohl angefühlt. In jenem Jahr war er angetreten, um alle drei zu gewinnen – Giro, Tour und Weltmeisterschaft –, und er hätte es gekonnt, wäre die Sehnenentzündung nicht gewesen, die er sich bei dem Rennen in Frankreich zugezogen hatte. Der Giro 1980 war leichter gewesen als gedacht. Hinault hatte an jenem Tag im Apennin einfach angegriffen, und das Peloton war in sich zusammengefallen wie ein Kartenhaus. Auch bei der Tour konnte ihm keiner was, bis sein Knie aufgab. Die Ironie war, dass er jene Tour mit einem Bein hätte gewinnen können, aber die Schmerzen waren selbst für ihn zu viel. Vielleicht hätte er noch zehn Tage die Zähne zusammenbeißen können, aber der Arzt sagte, das hätte sein Knie komplett ruiniert. Daher war Sallanches gut, aber auch frustrierend. Er hatte ihnen gesagt, es sei ihm egal, dass er das Triple verpasst hatte, aber sie hatten geschrieben, es sei ein Bluff gewesen. Sie sagten, sie glaubten ihm nicht, und schrieben wie immer, was ihnen passte. Sie sagten, das Giro-Tour-Double von 1982 erinnere an Merckx 1970, aber dann hatte sein eigener Verband ihn hängenlassen. Er hatte sich mit ihnen angelegt wegen Dopingkontrollen nach einem Rundstreckenrennen in Callac, weil er Kontrollen bei einem bedeutungslosen Post-Tour-Kriterium für lächerlich hielt. Als Patron des Pelotons hatte er das Gefühl, für die Rechte der Fahrer eingetreten zu sein. Er bekam eine zur Bewährung ausgesetzte Sperre, und so wandte er sich an die Sportministerin. Sie versuchten ihn in die Enge zu treiben und er holte zum Gegenschlag aus.

Seine Meinung war, dass die Ministerin nur redete und nichts tat. Sie hatte keine Ahnung vom Sport und daher war es eine sinnlose Übung. Er sagte ihnen, dass er Weltmeisterschaft in Goodwood fahren würde, aber auf eigene Kappe. Sie konnten ihm gestohlen bleiben – der französische Verband, das blöde Trikot und der Ruhm von Frankreich. Deswegen fuhr er alleine nach England und weigerte sich, französische Journalisten bei der Pressekonferenz in Bognor Regis zuzulassen. Das gefiel ihm, denn je mehr er mit ausländischen Pressevertretern sprach, umso mehr ärgerten sie sich. Das Rennen war ein Desaster gewesen, aber er versicherte, das sei nicht seine Schuld gewesen. Es sei ihre und die Schuld ihrer idiotischen Journalisten gewesen. Sie hätten sich mit ihrer Kritik ins eigene Fleisch geschnitten und ihre Schadenfreude kaum verbergen können, als sein Knie bei der Vuelta 1983 wieder Probleme machte. Er habe ihnen seit Jahren ihre Jobs gesichert, aber jetzt, wo er am Boden lag, konnten sie es nicht abwarten, ihm den Rest zu geben. Die Knieprobleme seien seine eigene Schuld, sagten sie, weil er immer einen zu großen Gang trete. Dass der junge Fignon die Tour gewinnen konnte, sei zu viel für ihn gewesen, und deswegen hätte er seine Wut an Cyrille Guimard ausgelassen. Sein einstiger Sportlicher Leiter sei in die Schusslinie geraten, sagten sie, aber in Wirklichkeit hätte es jeder sein können. Sie irrten wieder, weil Guimard es verdient hatte. Neun Jahre waren sie zusammen gewesen, und das Ganze war in die Binsen gegangen, weil Guimard schwach geworden war, als er stark hätte sein müssen. Weder hatte er die Courage, von Mann zu Mann mit ihm zu sprechen, noch war er fähig gewesen, die Situation mit Fignon zu regeln. Einer von ihnen musste gehen und Guimard hatte Renault überzeugt, alles auf Fignon zu setzen. Das war sein Recht, aber das Problem war, dass er es hinter Hinaults Rücken gemacht hatte. Guimard hatte ihn betrogen, Geld über Ehre gesetzt. Deswegen hatte sich die Lage zugespitzt und deswegen hatte er die Beherrschung verloren. In jedem Fall war es ein 18 Monate langer Kampf gewesen, doch nun war sein Knie wieder in Ordnung. Also zum Teufel mit Guimard und zum Teufel mit Renault! Zum Teufel mit den Schlaumeiern von Fans, die ihn abgeschrieben hatten, und den Journalisten, die keinen Weg zurück mehr für ihn sahen. Sie hatten Bernard Hi-nault wütend gemacht, und das war genau, was er brauchte. Er fand einen Weg zurück, und jetzt – welch köstliche Ironie! – war Fignon an der Reihe mit einer Sehnenentzündung.

Er war nie in seinem Leben entschlossener gewesen und das Meeting in Mailand war perfekt. Der Giro war auf ihn maßgeschneidert, und das passte ihm genauso wie denen. Natürlich war es ein hartes Training mit Moser als Hinterradlutscher gewesen, aber nichtsdestotrotz Training. Drei solide Wochen ohne allzu viele Berge – perfekt. Er berief die Pressekonferenz vor dem abschließenden Zeitfahren ein. Damit hatten die Italiener nicht gerechnet – es war ja schließlich kein Ruhetag –, und dann tauchte auch noch der Chef von La Vie Claire auf. Bernard Tapie sah eher wie ein amerikanischer Immobilien-Tycoon aus als wie der Eigentümer eines Radrennstalls, und keiner wusste, was davon zu halten war. Er saß da, auf einer Pressekonferenz im Radsport, und ließ Champagnerflaschen öffnen. Als jemand fragte, was um Himmels Willen er da mache, sagte er, das sei für die Fotografen. Er habe in Frankreich etwas zu erledigen und nicht bis zum Ende des Rennens Zeit. Am besten würden sie die Champagner-Fotos jetzt schießen und sie am Montag drucken. Er erinnerte sie vorsorglich daran, was im letzten Jahr passiert war. Damals hatte der Fernsehhubschrauber die maglia rosa Fignon behindert, also Moser geholfen, ihn zu überholen. Eine Wiederholung davon, sagte er, und der Giro würde sich lächerlich machen, aussehen wie „ein kleines Rennen“. Außerdem sagte er, die Pressekonferenz jetzt abzuhalten, würde allen nach dem Giro das Leben erleichtern. Jemand wies darauf hin, dass der Giro noch nicht gewonnen sei, dass Moser der beste Zeitfahrer der Welt sei und der Vorsprung nur 1:15 Minuten betrage. Hinault zuckte ob dieser Bemerkung nur mit den Schultern – sie war es nicht wert, beantwortet zu werden. Doch die nächste Frage gefiel ihm nicht. Es war der Typ von Tutto Sport, der, dem er fast eine reingehauen hatte. Er hatte viel Klatsch und Tratsch über eine angebliche Affäre veröffentlicht und Glück gehabt, dass er auf jenem Parkplatz abgehauen war. Jetzt sagte der Journalist, er verstehe nicht, warum LeMond an die kurze Leine gelegt worden sei. La Vie Claire hätte gut daran getan, ihm mehr Freiheiten zu geben, denn dann wäre Moser in die Defensive geraten. Moser wäre zur Aufholjagd gezwungen gewesen und das hätte ihnen doch sicher in die Karten gespielt. Bernard Hinault kochte innerlich, aber er wollte dem Typ die Genugtuung nicht gönnen. Ein Deal sei ein Deal, sagte er und schaute dem Typ direkt in die Augen. Gregs Zeit würde kommen. Zwei Tage später verließ Hinault Italien mit seiner dritten maglia rosa. Dass die italienischen Fans ihn beschimpft hatten, sei ihm egal, erklärte er, und sie sagten, er habe sich keine große Mühe gegeben, sich bei ihnen beliebt zu machen. Es war ihm egal. Teil eins war erledigt.

Die Tour war schwieriger gewesen, aber er hatte einen Weg gefunden. Er hatte allen gesagt, er werde „nächstes Jahr für Greg fahren, egal, was kommt“, doch in diesem Jahr sollte der, der nach dem Zeitfahren nach Straßburg führt, auch weiter Kapitän sein. Sie wussten beide, dass es ein Zeitfahren war, das LeMond nicht gewinnen konnte, und so war der Amerikaner gleich ins Hintertreffen geraten. LeMond sagte, er sei in den Pyrenäen vom Team betrogen worden, und nun war er derjenige, der nicht mit der französischen Presse sprechen wollte. In Wirklichkeit war er überhaupt nicht betrogen worden, aber er verstand noch nicht ganz, dass man die Tour mit Beinen und Köpfchen gewann. Abgesehen von einem Nasenbeinbruch bei einem Sturz hatte Hinault alles kommen sehen und packte das Problem an der Wurzel. Er wusste, dass LeMond stark und ehrgeizig war, und deswegen hatte er mit Luis Herrera gesprochen. Der Kolumbianer hatte verstanden, weil es einfach eine Frage der gemeinsamen Interessen war, als die beiden in den Alpen attackierten. Alle wussten das – außer LeMond, wie es schien. Stephen Roche fragte Herrera, warum er kein La-Vie-Claire-Trikot trage, wo er doch als Hinaults Domestik fuhr. Goddet hielt ein Meeting mit ihren jeweiligen Managern ab, um „die Sache zu klären“, aber La-Vie-Claire-Sportdirektor Köchli meinte nur, er wisse von nichts, und der Kolum-bianer Mesa gab sich ebenfalls ahnungslos. Bernard Hinault beendete die Tour mit einer gebrochenen Nase, aber besser eine gebrochene Nase und ein fünftes Gelbes Trikot als eine schöne Nase und eine Handvoll nichts. Er hatte gewartet, bis LeMond sich beruhigt hatte, und war dann beim Coors Classic für ihn gefahren. LeMond hatte ihm gesagt, dass er das zu schätzen wisse, und natürlich war es wichtig für ihn, zu Hause zu gewinnen. Langsam, aber sicher war LeMond wieder zurechtgebogen worden, und das war wichtig. Die Weltmeisterschaft stand bevor und Bernard Hinault wusste, dass es seine letzte Chance war. Sie hatten ihn seit Jahren daran erinnert, dass nur Merckx alle drei in einem Jahr gewonnen hatte. Wenn er es schaffen wollte, täte er gut daran, LeMond auf seiner Seite zu haben.

Am 20. August kamen sie aus den USA zurück. Damit hatten sie elf Tage, Zeit genug, um alles in die Wege zu leiten. Erst hatte er dem Verband die kalte Schulter gezeigt und das La-Vie-Claire-Kontingent zum Höhentraining nach St. Moritz mitgenommen. Dann ließ er, indem er sicherstellte, dass LeMond und Steve Bauer mit von der Partie waren, die Bombe platzen. „Ich fahre diese Weltmeisterschaft für La Vie Claire, nicht für Frankreich. Für mich ist es wichtig, dass wir gewinnen, selbst wenn wir das mit einem Ausländer machen. LeMond, Kim Andersen, Bauer, Rüttimann oder ein anderer Schweizer. Das ist uns eigentlich egal. Natürlich sind auch vier unserer Teamkollegen im französischen Team. Sie werden nicht gegen uns arbeiten, und falls einer von uns gewinnt, wird jeder französische Fahrer, der uns nicht zu behindern versucht, großzügig entschädigt werden.“ Wieder einmal war der Verband zahnlos und wieder einmal wurde der Sportminister gebeten, zu intervenieren. Dieser, Alain Calmat, war ein netter Typ, ein früherer Eiskunstläufer. Aber er hatte offenbar gewusst, dass er seine Zeit verschwenden würde, weil er sich nicht einmal bequemte, den Telefonhörer abzunehmen. Glaubten sie im Ernst, dass das etwas ausmachen würde? Der frühere Sieger LeMond war auf einem solchen Kurs gefährlich und Bauer war extrem gefährlich. Was er brauchte, war, dass sie freiwillig ihre Chancen für das höhere Interesse opfern und verstehen würden, dass dieses höhere Interesse er war, Bernard Hinault. La Vie Claire war besser als Frankreich, und mit der Schweiz, Dänemark, den USA und Kanada an der Seite waren sie rund 40 Fahrer. Er würde ihr Capitaine de Route und ihr Anführer sein, und wenn der Wind günstig stand, würde er das Ding nach Hause fahren. Sie wären Teil des Prozesses, aber er würde die Strippen ziehen. Er lehnte das Angebot des Verbands, mit den anderen in Sappada zu wohnen, ab und blieb stattdessen in Vicenza. Auf der Pressekonferenz bei Campagnolo achtete er darauf, dass der Ton – wenn auch nicht der Inhalt – etwas versöhnlicher war: „Ich mag vieles sein, aber ich bin kein Heuchler. Wir haben alle gesehen, was in Altenrhein passiert ist. Fignon konnte nicht gewinnen, also arbeitete er für LeMond, seinen Teamkollegen. Sie waren beide bei Renault, und jetzt sind Greg und ich beide bei La Vie Claire. Wenn ich gewinne, dann gewinnt Frankreich und La Vie Claire gewinnt. So war es immer und so wird es immer bleiben. Es wird ein hartes Rennen, weil es in unser aller Interesse ist, die Sprinter zu eliminieren. Wenn nicht, wird Freuler gewinnen oder Vanderaerden. Das wollen wir nicht und das will das französische Team auch nicht.“ Merckx hatte sich zu Wort gemeldet. Er hatte gesagt, dass Hinault überhaupt nichts begriff, weil er die restlichen 364 Tage für La Vie Claire fuhr. Es sei ihm egal, ob er mit ihm gleichzog und alle drei gewann, denn was zähle, sei der Geist der ganzen Unternehmung. Was zähle, sei die Flagge, aber direkt vor seinen Augen belehrte ihn das belgische Team eines Besseren: Vanderaerden und Criquielion weigerten sich glattweg, miteinander zu reden.

 

Nun also zur Abrechnung. Bernard Hinault hatte alles perfekt choreografiert und jetzt, an diesem schwülen Spätsommervormittag, eine Verabredung mit dem Schicksal. Hinaults fein kalibrierte Maschine lief viereinhalb Stunden lang fehlerfrei, bis sie spektakulär einbrach. Unfähig, seinen Helfern zu folgen, warf ein gedemütigter Hinault das Handtuch und saß da, den Kopf in die Hände gestützt, volle 15 Minuten lang. Als er schließlich sprach, schien er seelisch gebrochen zu sein, absolut aufgelöst. „Am Donnerstag habe ich mich am Stilfser Joch gut gefühlt und dachte, ich wäre in Form. Ich war es nicht, ich hatte einfach nicht die Beine. Ich glaube, ich bin einfach erschöpft. Der Giro begann am 7. Mai, und dann hatte ich nur zehn Tage frei. Ich hätte wahrscheinlich nicht nach Colorado fahren sollen“, sagte er. Bei dem Rennen bestritt eine 14-köpfige Gruppe das Finale, in der LeMond und der Lokalmatador Moreno Argentin fuhren. Zwei Kilometer vor dem Ziel war man sich uneinig und der altgediente Joop Zoetemelk, der mit 38 Jahren die schlechtesten Karten im Sprint hatte, setzte sich ab und sicherte sich den Sieg. Hinault bestritt eine weitere Saison, in der er Greg LeMond „half“, die Tour zu gewinnen. In Wirklichkeit war die Unterstützung, die er leistete, die härteste körperliche und psychologische Prüfung, die man sich vorstellen kann, aber dieses Mal setzte sich der Amerikaner durch. LeMond half Hinault dann beim Coors Classic, dem letzten Sieg einer erstaunlichen Karriere. Wie er immer gesagt hatte: Was man sät, das wird man ernten.



Cover Procycling Ausgabe 153

Den vollständingen Artikel finden Sie in Procycling Ausgabe 153.

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