Von wegen Radsport-Rentner

Kein anderer prägte die Fluchtgruppen bei der Tour der France so sehr wie er, kein anderer fuhr sich mit seinen Attacken so ins Herz der Fans. Es gibt nicht wenige, die sagen, dass dem Radsport etwas verloren ging, als Jens Voigt 2014 seine Karriere beendete. Ein Hausbesuch zwei Jahre danach.

 

Der Tag beginnt direkt mit Action. Erst Kindergarten, dann Schule – die morgendliche Runde. „Sechs Kinder, zwei Hunde, eine Katze, neun Kaninchen – bei uns ist jeden Morgen ganz schön was los“, lacht Jens Voigt, als er an einem verregneten Dezembermorgen die Türe seines Hauses im Berliner Westend öffnet. Schlabberhose, verwaschenes Shirt, Bartstoppeln. Journalisten lasse er selten hinein, wegen der Privatsphäre. „Die Familie ist für mich so etwas wie mein Rückzugsort“, erzählt er. Im Flur hängen Porträts aller Kinder. Die Jüngste ist sechs, der Älteste 21. „Gerade ist aber niemand da. Sturmfrei“, lacht Voigt und verabschiedet sich direkt ins Obergeschoss. Er müsse schnell das T-Shirt wechseln – wegen der Sponsoren. Mit einem Grinsen kehrt er nach kurzer Zeit zurück. „Shut Up Legs“ prangt nun in roter Schreibschrift auf seiner Brust – der Spruch, der ihn weltberühmt gemacht hat. Es ist ein T-Shirt seiner Kollektion aus dem „Shut Up Legs“-Online-Shop – eines der vielen Projekte im Leben des vermeintlichen Radsport-Renters Jens Voigt. Vermeintlich deshalb, weil er drei Jahre nach dem Ende seiner Laufbahn eigentlich mehr beschäftigt sei denn je, sprudelt es aus ihm heraus. Schon in den ersten Minuten wird klar: Der Ex-Profi ist genauso quirlig wie zu seiner aktiven Zeit, innerhalb weniger Minuten erfährt man so viel wie bei manch anderen in mehreren Stunden nicht.

Neben dem Betreiben des Online-Shops arbeitet er als Testimonial für die Kalifornien-Rundfahrt und die Tour Down Under und veranstaltet mit „The Jensie Gran Fondo“ einen Radmarathon in Kalifornien. Kürzlich veröffentlichte er gemeinsam mit dem Radsportjournalisten James Startt seine Biografie. Der Titel – wie kann es anders sein: Shut Up Legs. Für den amerikanischen Fernsehsender NBC kommentiert er zudem die Tour de France und außerdem ist er auch noch Markenbotschafter für Trek. Gerade komme er von einem Event des US-Radherstellers aus Südamerika zurück, berichtet er, während er einen Teller mit Plätzchen auf den großen hölzernen Tisch im Esszimmer stellt. „Ein paar Tage Chile, dann Brasilien. Ein Rennen bin ich da auch mitgefahren – aber die kurze Strecke. Und es ging nicht um das Ergebnis“, lacht er. Fit scheint Voigt allerdings noch immer zu sein: Die Wangen sind schlank wie eh und je, nur der Bart ist etwas länger als früher. 5.000 Kilometer schaffe er noch im Jahr. „Das ist eigentlich viel zu wenig. Aber ich habe nicht mehr Zeit.“ Der Berliner überlegt kurz und beginnt seine Reisen im Jahr 2016 aufzuzählen. Dreimal war er in Australien, zweimal in Kanada, achtmal in den USA und einmal in Südamerika. Manchmal müsse er nur für vier Tage nach Übersee fliegen. „Freitag Anreise, abends schon ein Vortrag bei einem Event, am nächsten Tag dann zehn Stunden im Sattel, abends wieder Fanprogramm und dann geht es meist schon heim.“ Über den Jahreswechsel verbringt er nun aber vier Wochen komplett zu Hause. „So lange am Stück daheim war ich seit meiner aktiven Zeit nicht mehr.“ Die Reisen, die Strapazen, der Stress – er müsse das alles nicht machen, aber es mache ihm Spaß, betont er. Der Grund: die Fans. „Jeder Fan ist irgendwo dein Chef. Jeder, der beispielsweise ein Trek-Fahrrad fährt, zahlt einen Teil meines Gehalts. Da ist es das Mindeste, dass ich auf Events ,Hallo‘ sage und ein Autogramm gebe“, erklärt er. „Was wäre die Champions League ohne Zuschauer? Die Fans sind ein essenzieller Teil des Sports. Sie geben uns die Chance, groß zu sein. Ohne Fans hätte ich meine Karriere nicht gehabt.“
 
Ein Spätzünder aus der Provinz
Eine Karriere, die ihren Anfang vor 35 Jahren nimmt. Wie fast alle Jungs in Grevesmühlen, einem kleinen Ort nicht weit von der Ostseeküste entfernt, habe er Fußball gespielt. Wie die meisten Radsportler mit mittelmäßigem Erfolg. „Da war ich einfach nicht gut genug, das war frustrierend“, erinnert er sich. Bei einer Talentsichtung in der damaligen DDR erweist sich der Schüler Jens Voigt dagegen „als äußerst talentiert im Ausdauersport“. Ein Radverein stellt ihm ein Rennrad zur Verfügung, drei Wochen später gewinnt er sein erstes Rennen. „Das Rad bedeutete damals für mich Freiheit. Mein Aktionsradius hat sich plötzlich verzehnfacht. Natürlich bin ich dann dabei geblieben.“ Mit 13 qualifiziert er sich für die Kinder- und Jugendsportschule Ernst Grube in Prenzlauer Berg, ab 1984 wohnt er dort im Internat. Fern von den Eltern und den beiden Geschwistern, ist er früh auf sich allein gestellt. Der Umgang ist rau. Voigt ist ein Spätentwickler, lange kleiner als die anderen. „Die Älteren kamen schon mal her und wollten, dass ich ihr Rad putze. Entweder hast du das eben gemacht oder du hast die Fäuste hochgerissen. Kratzer, blaue Augen, ausgerissene Haare waren an der Tagesordnung“, lacht er. Schon damals hilft ihm sein lockeres Mundwerk – das Sprücheklopfen, das ihn einmal berühmt machen, die Schlagfertigkeit, die ihn zu einem der meistgefragten Interviewpartner im Peloton machen sollte. Zu Voigts Schulkameraden zählen unter anderem seine späteren Profikollegen Jan Schaffrath und Erik Zabel. „Schaffi habe ich bei den Prüfungen oft abschreiben lassen. Der war damals der König, hat alles gewonnen – egal, ob auf der Bahn und der Straße. Wir sind heute noch gut befreundet. Sowohl bei ihm als auch bei Ete war ich auf der Hochzeit, sie waren beide bei mir.“

Während Schaffrath und Zabel nach dem Ende ihrer Nachwuchszeit allerdings beim frisch gegründeten Team Telekom unterkommen, verläuft die Karriere des Berliners mit Umwegen. Voigt zieht sein iPhone aus der Tasche und scrollt durch den endlosen Fotostream seines Smartphones. Einer, der so viel unterwegs ist wie er, schieße eben auch viele Bilder, witzelt er. Er stoppt bei einem Foto aus dem Jahr 1994: ein Mannschaftsbild von einer Rundfahrt in Australien. Direkt neben ihm: Jan Ullrich. Voigt ist zu dieser Zeit auf dem Höhepunkt seiner Amateurkarriere: Er gewinnt die Friedensfahrt und den Gesamt-Weltcup, auch den amtierenden Amateurweltmeister Ullrich schlägt er oft. „Ich habe Telekom auf Knien angebettelt, dass sie mich nehmen – aber die haben mich nicht mit der Kneifzange angefasst.“ Er schüttelt den Kopf. Bis heute versteht er nicht, warum ihn die deutsche Vorzeigemannschaft nicht wollte. „Im Laufe der Zeit habe ich Dutzende Kollegen gesehen, die es nicht verdient hatten, Profi zu sein. Aber die kannten jemanden. Ich kannte aber niemanden – vielleicht war das das Problem.“ Erst mit 25 unterschreibt er seinen ersten Vertrag. „Wenn ich nicht in eine große Mannschaft kann, dann gehe ich eben in eine kleinere Mannschaft. Aufgeben wollte ich nicht“, erinnert er sich. Die tschechisch-australische ZVVZ-Mannschaft nimmt den quirligen Deutschen unter Vertrag, der dankt es mit Siegen bei der Niedersachsen- und der Sachsenrundfahrt. Als die kleine Equipe zum Jahresende allerdings aufgelöst wird, steht er wieder auf der Straße. Telekom will Voigt noch immer nicht, also greift er zu unkonventionellen Mitteln: „Ich habe Bewerbungsmappen erstellt – 25 schöne Radsportfotos von mir, meine Erfolge, meine Ziele – und alles von einer Sprachschule ins Französische und Englische übersetzen lassen.“ Voigt schreibt die besten 30 Teams jener Zeit an. „Geantwortet haben aber nur drei: Festina, dass sie voll sind und mir viel Glück wünschen, Rabobank das Gleiche – und eben Crédit Agricole.“
 
Crédít Agricole: Start in Frankreich
Voigt unterschreibt in Frankreich – für 32.000 D-Mark Brutto-Jahreslohn. „Ich hätte auch bei der zweitklassigen deutschen Agro-Adler-Mannschaft für das Dreifache fahren können. Leichtere Rennen, mehr Siege, weiterhin in Berlin wohnen – aber das wollte ich nicht. Ich wollte in die erste Liga“, sagt Voigt. Ein Lächeln huscht über sein Gesicht, als er sich an sein „erstes richtiges Profijahr“ erinnert. „Meine Frau meinte, ich solle das unbedingt machen. Also haben wir die Wohnung aufgegeben, sie ist mit unserem ältesten Sohn Mark zurück zu ihren Eltern gezogen und ich habe meinen Opel Astra vollgepackt und bin die 1.800 Kilometer nach Toulouse gefahren.“ Zuerst lebt er im Gästezimmer des Australiers Stuart O’Grady, heute zusammen mit Voigt und George Hincapie Rekordstarter bei der Tour de France, später gemeinsam mit zwei anderen Jungprofis in einer Haus-WG. Voigt etabliert sich sofort im Peloton. 1998 gewinnt er unter anderem eine Etappe bei der Baskenland-Rundfahrt und bestreitet seine erste Tour de France. Auf der neunten Etappe von Montauban nach Pau über 210 Kilometer wird der 26-Jährige nach langer Flucht Zweiter und fährt ins Bergtrikot. Zeitweise stiehlt der Tour-Debütant sogar den bereits etablierten Größen Jan Ullrich und Erik Zabel die Show. Es ist späte Genugtuung, als sich im Sommer auch Team Telekom bei ihm meldet. „Da wollten sie mich auf einmal doch. Aber dann wollte ich nicht mehr“, sagt er trotzig. „Ich habe mich bei Crédit Agricole wohlgefühlt und wollte bleiben.“ Die Franzosen danken ihm die Treue mit einem besseren Vertrag. „1999 konnte ich mir schließlich ein eigenes Haus mieten. Dann kam auch meine Frau mit dem Nachwuchs nach Frankreich.“

In seinem Debütjahr wird Voigt allerdings auch mit einem Thema konfrontiert, das ihn Zeit seiner Karriere begleiten sollte: Doping. 1998 überrollt die Festina-Affäre den Radsport. Als die Tour de France den größten Skandal ihrer Geschichte erlebt, ist er gezwungenermaßen mittendrin. Die Staatsanwaltschaft führt mehrere Razzien in den Mannschaftshotels durch, das Fahrerfeld macht Sitzblockaden. „Ich glaube heute, dass der Sport danach sauberer war – zumindest für kurze Zeit. Meine Ergebnisse waren in den Jahren danach besser“, meint er, schränkt gleichzeitig aber auch ein. „Bis Lance kam. Bei Paris–Nizza habe ich 1:30 Minuten auf gewisse Fahrer verloren, bei der Tour dann auf einmal 15 – das konnte nicht sein. Ich befürchte also, dass es eine gewisse Korrelation zu gewissen Dingen gibt.“ Vorerst steuert aber auch Voigt auf den Höhepunkt seiner Karriere zu. Aus Fluchtgruppen ist er bald nicht mehr wegzudenken, als ewiger Ausreißer entwickelt er sich zum Publikumsliebling. 2001 etwa, als er bei der Tour nach langer Flucht auf der ersten Bergetappe am französischen Nationalfeiertag ins Gelbe Trikot schlüpft und wenig später zum ersten Mal eine Etappe beim größten Radrennen der Welt gewinnt. „Ich verstehe das heute schon, wie das für Außenstehende gewirkt haben muss: Der Voigt fährt die Tour, manchmal in einer Kategorie mit Lance – der muss dabei gewesen sein. Aber das Leben ist nicht schwarz-weiß: Nicht alle Deutschen fahren schnell Auto und es lügen auch nicht alle Politiker. Verallgemeinerungen machen Sinn, aber deshalb müssen sie noch lange nicht stimmen.“
 
CSC: Erfolgreiche, aber dunkle Jahre
Besonders, als er 2004 zur dänischen Mannschaft CSC wechselt, mehren sich die kritischen Stimmen. Im Team von Riis feiert Voigt die größten Erfolge seiner Laufbahn. 2005 wird er Zweiter bei Lüttich–Bastogne–Lüttich, bei der Tour schlüpft er erneut ins Gelbe Trikot. Bei der Frankreich-Rundfahrt 2006 gewinnt er aus einer ursprünglich fünfköpfigen Ausreißergruppe heraus die 13. Etappe von Béziers nach Montélimar. Nur wenige Wochen später wird er zum ersten Mal Gesamtsieger der Deutschland-Tour. Er, der so lange Radprofi war, erlebt seinen Karrierehöhepunkt ausgerechnet dann, als der Radsport seine größten Skandale meistern muss. Voigt fällt es merklich nicht leicht, über das Thema zu reden. Unruhig knetet er seine Hände und rutscht auf seinem Stuhl hin und her, vor jedem seiner Sätze überlegt er besonders lange, starrt auf den Teller mit Plätzchen in der Tischmitte – ungewöhnlich für den sonst so wortgewandten Sportler, den man aufgrund seiner Redefreudigkeit sonst fast bremsen muss. Er will nichts sagen, was ihm später falsch ausgelegt werden könnte – das spürt man. Im Sommer 2006 ist die Operación Puerto rund um den spanischen Frauenarzt Fuentes in vollem Gange. Basso, Mancebo, Ullrich – die Tour-Helden der damaligen Zeit fallen reihenweise. Voigt nicht. In seiner ganzen Karriere wurde er nie positiv getestet. Er wird wütend, gerät sichtlich in Rage. „Meine Frau brachte damals
die Kinder zur Schule, als sie der Schuldirektor fragte: Frau Voigt, bei ihrem Mann ist das aber nicht so, oder?“ Voigt pausiert kurz, schüttelt verständnislos den Kopf. „Ey, das geht zu weit!“, wütet er. „Die dummen Doper!“ Auch heute bekomme er die D-Frage noch oft gestellt. „Aber Leute, ich habe nie eine Tour gewonnen. Und ich habe auch nie eine sportliche Leistung erbracht, die unerklärbar ist. Natürlich tut das jedes Mal weh!“ Voigt wirkt aufgewühlt, das Thema berührt ihn emotional sehr.

Nur wenige Monate nach dem Fuentes-Skandal wird Voigt zum Sprecher der Fahrervereinigung CPA gewählt. Eine besondere Ehre, die zeigt, wie sehr er von seinen Kollegen respektiert wird. Aber er steht im Zwiespalt. Auf der einen Seite ist seine sportliche Familie, das Peloton, auf der anderen drückt die schwelende Dopingwelle. Er muss seine Freunde und Fahrerkollegen schützen, gleichzeitig aber als Fahrersprecher einen klaren Standpunkt beziehen – eine für ihn kaum lösbare Aufgabe, wie er meint. Seine Frau habe ihn damals wochenlang nicht lachen gesehen, erinnert er sich. „Einmal habe ich gesagt, dass man die Doper alle auf den Scheiterhaufen zerren und verbrennen solle. Drei Stunden später kam heraus, dass Ivan [Basso; Anm. d. Red.] auch positiv war – mein Teamkollege und Freund. Alle haben an mir gezerrt. Ich konnte nicht mehr.“ Voigt wirkt zu jener Zeit unsicher, lässt sich zu Aussagen hinreißen, die ihm viel Kritik einbringen. Als sich ein Reporter damals nach seinem Wissen über das Doping der Teamkollegen erkundigt, hält er ihm entgegen, dieser wisse doch auch nicht, ob die Arbeitskollegen abends koksen würden. Als Verantwortliche der Öffentlich-Rechtlichen einen Ausstieg aus der Tour erwägen, vergleicht er sie mit den Handelnden der DDR. Sein lockeres Mundwerk, seine Sprüche, die ihn so beliebt gemacht haben, treiben ihn plötzlich in die Enge: Heute gibt er zu: „Es gab Momente, an denen ich ans Aufhören gedacht habe. Viele andere Profis haben sich verweigert und sprachen einfach nicht mehr mit der Presse. Ich wollte und konnte das in meiner Rolle aber nicht, ich hatte ja immer einen klaren Standpunkt, hatte nichts zu verbergen. Manchmal kam ich mir vor, als würde ich auf einem Schlachtfeld stehen und von allen Seiten auf mich geschossen werden.“

Auch das Rennen-Fahren fällt ihm zu jener Zeit nicht leicht. „Im Fahrerfeld hattest du ein deutliches Nord-Süd-Gefälle. Viele haben mir auf die Schulter geklopft: Mensch Jens, toll, dass du das gesagt hast. Das musste mal gesagt werden. Dann gab es aber auch die, die mich am liebsten vom Rad gezerrt hätten. Halt doch endlich die Klappe, hieß es dann“, verweist er besonders auf einige spanische und italienische Fahrerkollegen. Namen will Voigt allerdings keine nennen. „Ich bin ein friedlicher Mensch. Den Ärger will ich mir sparen.“ Mit seinem Amateur-Freund Jan Ullrich – „Er war für mich das typischer Opfer, Lance war dagegen ein Täter“ – redet er zu jener Zeit kaum, erst Jahre später verbessert sich das Verhältnis wieder. „Ulle ist ein verdammt feiner Kerl, hatte aber oft die falschen Leute um sich. Da kommst du als junger Fahrer, hast Erfolg, kriegst aber trotzdem nur auf die Nase geschlagen, bist oft krank, hast Gewichtsprobleme – dann bist du anfällig. Man kann ihn jetzt aber nicht ewig dafür leiden lassen – man muss auch mal vergeben.“ Als Voigt 2007 zur Deutschland-Tour reist und erneut um den Gesamtsieg kämpft, überlegt der Berliner, freiwillig langsamer zu fahren und „lieber nur Vierter zu werden, statt zu gewinnen. Die dummen Fragen der Reporter – ich wollte das nicht mehr.“ Es sind nicht wenige, die nicht verstehen, wieso der Helfer Voigt plötzlich am Berg mit Größen wie Levy Leipheimer Schritt halten kann. „Als ich zum ersten Mal die Deutschland-Tour gewonnen habe, war ich davor 68. der Tour – da waren also 67 besser. Bei der D-Tour standen dann nur ein paar von den 67 am Start. Ich wäre also automatisch schon ganz weit vorne gewesen“, rechnet er vor. „Für viele Fahrer war die Rundfahrt auch einfach nicht so wichtig. Für mich war es aber mein Heimrennen, mein Jahreshöhepunkt. Vielleicht haben die anderen auch aufgehört mit dem, was sie vorher gemacht haben, vielleicht waren sie einfach müde von der Tour.“ Erst sein Sportlicher Leiter ermutigt ihn, sein Gelbes Trikot zu verteidigen. „Er meinte, dass ich gewinnen solle. Um Fragen kümmerten wir uns später.“

 

Auf dem Podium mit dem TourSieger
Die Fragen kommen, wieder wird er kritisiert. Bis heute muss sich Voigt auch dafür rechtfertigen, dass er mit Teamchefs wie Bjarne Riis oder später Johan Bruyneel zusammenarbeitet. „Als Bjarnes Geständnis kam, war mir schon irgendwie vorher klar, wie er die Tour damals gewonnen hat – dafür gab es zu viele Berichte“, sagt er mit einem Nicken. „Ich habe aber versucht, Leute immer ab dem Moment zu beurteilen, ab dem ich sie persönlich kennenlernte. Und als Teamchef war er immer sehr fair. Bjarne war sicherlich klar, dass ich ungefähr im Bilde darüber war, was früher gelaufen ist. Aber er hat nicht ansatzweise versucht, mich zu gewissen Dingen zu verführen – das habe ich ihm immer zugute gehalten. Und dadurch haben wir auch heute noch eine gute Beziehung.“ Voigt denkt, dass dies auch mit seinem damals bereits fortgeschrittenen Alter als Radprofi zu tun hatte. „Mit dem Wissen von heute bin ich beispielsweise sehr glücklich, dass ich nie einen Vertrag bei Telekom gekriegt habe“, meint er. „Wenn du als junger Amateur in das System gekommen bist und dir jeder gesagt hat, dass gewisse Dinge normal seien – ich denke schon, dass es dann schwierig ist. Als ich bei CSC unterschrieb, war ich schon 33, mehrfacher Familienvater, ein gefestigter Charakter.“ Heute, glaubt er, habe der Radsport das Tal überwunden. „Die ganzen jungen Fahrer haben gesehen, dass auch die größten Radsportnamen jederzeit erwischt werden können. Die sind also schon ganz anders aufgewachsen“, so Voigt, dem allerdings auch Kopfzerbrechen bereitet, welch starke Nachwirkungen die Dopingskandale haben. „Die heutige Generation muss immer noch die Fragen beantworten. Degenkolb, Kittel, van Garderen – die haben noch Pokemon auf dem Gameboy gespielt, als Lance seine erste Tour gewonnen hat. Das ist doch ungerecht!“

Voigt meistert die dunkelste Phase des Radsports, indem er sich treu bleibt und das macht, was er auf dem Sattel am besten kann: attackieren, Vollgas geben – bei jedem Rennen. 2008 gewinnt er zum vierten Mal das Critérium International und holt einen Etappensieg beim Giro d’Italia. Im Sommer verhilft er dem Spanier Carlos Sastre zum Gesamtsieg bei der Tour de France. In Paris steht Voigt schließlich zusammen mit seinen CSC-Teamkollegen für den Gewinn der Mannschaftswertung auf dem Podium. Zu wissen, dass sich all die harte Arbeit über drei Wochen gelohnt habe, war einer seiner schönsten Erfolge, sagt er. „Der Triumphbogen im Rücken, die Weltpresse vor uns. Ich wusste, dass es nicht mehr besser werden kann.“ Als er 2009 auch dem jungen Andy Schleck zum Toursieg verhelfen will, erlebt er allerdings die umgekehrte Seite des Radsports: Auf der 16. Etappe stürzt er in der letzten Abfahrt vom Kleinen Sankt Bernhard in Richtung Bourg Saint Maurice infolge eines Belagwechsels schwer und bleibt regungslos liegen. Seinem Körper fehlt jegliche Spannung, er blutet aus den Ohren – ein Zeichen für eine schwere Kopfverletzung. In der Liveübertragung im TV spricht man davon, Voigt habe nur 50 Prozent Überlebenschance. „Ich weiß noch, dass ich auf der Passhöhe auf Fränk Schleck gewartet habe, um ihn in die Gruppe zurückzubringen. Danach habe ich nur schemenhafte Bilder aus dem Krankenwagen im Kopf – und dann das Krankenhaus. Meine Kinder haben damals meine Frau gefragt: Mama, überlebt Papa?“ Voigt überlebt. Bruch des Jochbeins, Gehirnerschütterung, Kieferbruch. Nach wenigen Wochen kann er das Krankenhaus verlassen. Mit mittlerweile 38 Jahren erwarten nicht wenige sein Karriereende. Voigt entscheidet sich dagegen. Er will weitermachen. Schon bald sitzt er wieder im Sattel, keine zwei Monate nach dem furchtbaren Unfall bestreitet er die Tour of Missouri. Auch als er im Sommer 2010 erneut bei der Tour schwer stürzt, fährt er weiter. Voigt beginnt, die vielen Verletzungen seiner Karriere aufzuzählen. Mit 110 Stichen wurde er im Laufe seiner Karriere wieder zusammengeflickt. Zwei, drei Ersatzteile aus Titan habe er weiterhin im Körper, sagt er. Die große Stütze in dieser Zeit: seine Familie. „Ohne meine Frau hätte ich das alles nicht geschafft“, erklärt er und deutet auf die vielen Familienfotos auf dem Kamin. „Ihr verdanke ich meine ganze Karriere.“
 
Trek – die letzte Herausforderung
Seine Familie steht auch hinter ihm, als er mit 39 Jahren noch einmal die Mannschaft wechselt: Den Schleck-Brüdern und Fabian Cancellara, seinen engsten Freunden im Peloton, folgt er 2011 zu Trek. Wie es der Zufall will, klingelt genau in jenem Moment das Telefon. Es ist der Schweizer Superstar, der erst vor wenigen Wochen seine Radschuhe an den Nagel gehängt hat. Er fragt Voigt, wie das so sei mit dem Karriereende, der Leere, dem Tal danach. Voigt erzählt, wie es bei ihm so war: „Das ideale Szenario einer Karriere ist ein geschlossener Kreis aus Geben und Nehmen“, sagt er. „Anfangs erklären dir die Älteren alles, du arbeitest und fährst Tempo. Dann wirst du irgendwann zum Performer, zum Leistungsträger – und bist auch egoistisch. Du willst die Mannschaft hinter dir haben und um jeden Preis gewinnen – auch davon hatte ich einige Jahre. Und dann schließt sich der Kreis. Dein Kopf weiß, wie gewonnen wird, aber dein Körper kann nicht mehr. Das ist die Zeit, in der du wieder zum Helfer wirst und deine Erfahrung weitergibst.“ Eine Karriere sei dann gut verlaufen, wenn man nichts vermissen würde, sagt Voigt. „Bei mir ist das so.“ Es kommt nicht von ungefähr, dass er immer wieder betont, dass es nicht seine Einzelerfolge seien, die ihm die glücklichsten Momente beschert hätten, sondern seine Helferleistungen. Neben Sastres Toursieg spricht Voigt über Paris–Nizza 2005: „Wir fahren auf die letzte Etappe über den Col d’Èze. Bobby Julich in Gelb, 30 Mann und ich. Und weil Bobby ein großartiger Freund ist und sich oft für mich geopfert hatte, wusste ich, dass ich alles geben musste. Valverde, Contador, Pellizotti, Rebellin – ich habe sie alle zurückgeholt“, berichtet er stolz. „Am Ende hat Bobby gewonnen. Er kam danach zu mir und meinte: Das war wohl einer der stärksten Tage deiner Karriere. Du hättest jederzeit selber attackieren und Gelb holen können. Aber das macht es so schön, dass ich für ihn, meinen Freund, den Sieg geholt habe. Ich bin der Meinung, ich hatte genug Möglichkeiten, meinen individuellen Erfolg zu suchen. Aber du musst auch was zurückgeben.“
 
Stundenweltrekord zum Abschied
Bei Trek fährt Voigt von Jahr zu Jahr. Die Zeit der großen Erfolge scheint vorbei, mithalten kann er aber weiterhin problemlos. „Natürlich habe ich mich gefragt, ob ich es noch kann. Am Ende waren die jungen Fahrer vom Alter her näher an meinem ältesten Sohn dran als an mir“, schmunzelt er. Einmal habe ihn der Luxemburger Jungprofi Bob Jungels im Trainingslager gefragt, wie alt er eigentlich sei. „Ich war zu jenem Zeitpunkt tatsächlich doppelt so alt wie er. Der ganze Mannschaftstisch hat gegrölt“, erinnert er sich. 2014 fährt er seine letzte Tour de France. Zum 17. Mal – Rekord. Als mittlerweile 42-Jähriger lässt er sein Können allerdings noch einmal aufblitzen: Mit einem Geniestreich erobert er auf der ersten Etappe das Bergtrikot. Ansonsten bleibt Voigt dieses Mal im Hintergrund. Er hilft, holt Flaschen, fährt im Wind. Paris erreicht er als 108. Die Tour 2014 ist seine letzte. Am Ende der Saison tritt der Deutsche zurück. Kurz nach seinem 43. Geburtstag. 875.000 Kilometer ist er als Radprofi gefahren, mehr als 21 Erdumrundungen auf Äquatorhöhe. Und er verabschiedet sich mit einem Knall: Als die UCI im Sommer entscheidet, die Regularien des Stundenweltrekords zu verändern, ist Voigt der Erste, der antritt. Noch einmal fletscht er die Zähne wie zu seinen besten Zeiten. Noch einmal steht er im Rampenlicht. Im Velodrom von Grenoble schraubt er die Bestmarke auf 51 Kilometer pro Stunde – Weltrekord.
Als der Österreicher Matthias Brändle ihn nur einen Monat später übertrifft, ist Voigt bereits Radsport-Rentner und mitten in der Planung für seine neue Karriere. Sein Buch, seine Bekleidungskollektion, seine Aufgaben für Trek – und seine Familie. „So schön das Leben als Profisportler oder Vielreisender ist: Man verpasst schon einiges. Die ersten Schritte der Kinder, das erste Wort. Diesen Alltag habe ich während meiner Karriere vermisst. Das ist großartig.“ Hecke schneiden, Kinderzimmer streichen – Voigt genießt den Alltag abseits des Pelotons. Seit Kurzem wohnt auch die Schwiegermutter im Haus. „Ich finde, dass normales Leben völlig unterschätzt ist – es ist großartig.“

Ob er manche Dinge in seiner langen Karriere anders gemacht hätte? „Ich wäre gerne selbstbewusster gewesen. Ich hätte mir so manche Selbstmordattacke bei Kilometer null sparen und auf die Großen warten sollen“, sagt er und krault sich nachdenklich seine Bartstoppeln. Als Beispiel nennt er die Tour of Georgia 2004. Voigt kämpft damals mit keinem Geringeren als Lance Arm-strong um den Gesamtsieg des kleinen amerikanischen Etappenrennens. Am entscheidenden Schlussanstieg auf der vorletzten Etappe hat er den Toursieger bereits distanziert, als dieser wieder zurückkommt und die Lücke schließt. „Lance hat zu mir geschaut und nur gemeint: Nicht schlecht, Jens. In dem Moment war bei mir die Luft raus. Ich war komplett am Ende und der konnte noch so locker reden – ich habe dann stillgehalten. Nach der Etappe meinte Lance, dass er am absoluten Limit war – aber mit der Aktion hat er mir die Moral genommen. Mit dem heutigen Wissen hätte ich das Rennen gewonnen.“ Dass er bei seiner geliebten Frankreich-Rundfahrt nie um das Gesamtklassement gefahren ist, bereut Voigt dagegen nicht. „Wir hatten das einmal mit Crédit Agricole probiert, aber da kam ein Sturz dazwischen und ich war einfach noch zu jung. In meinen besten Jahren bei CSC hätte ich vielleicht Achter werden können, im besten Falle Sechster. Aber dafür war ich wohl nicht geduldig genug“, glaubt er. Voigt grinst. „Und mal ehrlich: Ich wäre so auch völlig unsichtbar gewesen. Man erinnert sich eben nur an die besten Drei, die Gelben Trikots, die Etappensiege – und die erfolgreichen Attacken.“

18 Jahre Radprofi, 17 Mal Tour de France. In seinem Keller bewahrt Voigt einige Erinnerungsstücke an seine aktive Zeit auf. Ein paar Trikots, ein paar verstaubte Pokale. Fast versteckt, zwischen Rock-CDs aus den Achtzigern und Science-Fiction-Romanen. Ob er sein Leben als Radprofi nicht vermisse? „Nicht eine Minute. Ich habe meinen Kindern gesagt: Wenn ich jemals über ein Comeback rede, schießt mir sofort ins Knie“, platzt es aus ihm heraus. „Ich habe physisch und psychisch alles gegeben. Ich habe alles erreicht, was ich konnte, und ich habe das nicht erreicht, was ich nicht konnte. Ich bin mit mir im Reinen.“ Träume habe er dennoch. „Früher habe ich viele Jack-London-Bücher gelesen. Einmal will ich das selbst erleben: in einer einsamen Blockhütte in Alaska überwintern – ganz einfach, kein Internet, kein Telefon. Nur Holz hacken, jagen und Fische fangen“, überlegt er, während er sich anzieht, um mit den Hunden Gassi zu gehen. Auf dem Weg will er seine Tochter von der Schule abholen. Im Garten steht ein fahrbereiter Cross-Renner für die nachmittägliche Trainingsrunde am nahen Teufelsberg, der Dreck von der letzten Trainingsrunde klebt noch am Rahmen. In Zukunft könne er sich vorstellen, auch mal einen Marathon zu laufen. „Vielleicht ja auch einen Ironman“, lacht er. Ehefrau, sechs Kinder, zwei Hunde, eine Katze, neun Kaninchen, Schwiegermutter. Dazu die vielen Projekte, Reisen, sportlichen Ideen. Von wegen Radsport-Rentner: So richtig kauft man Jens Voigt seinen Alaska-Traum und die Ruhe nach dem Karriereende nicht ab. Auch zwei Jahre nach seiner Laufbahn ist der Berliner Tour-Held immer noch der Alte: aktiv wie eh und je – nur eben anders.



Cover Procycling Ausgabe 156

Den vollständingen Artikel finden Sie in Procycling Ausgabe 156.

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