Erster unter Gleichen

Chris Froome wirkte in den Bergen nicht stärker als seine Rivalen, und doch schien sein viertes Gelbes Trikot unausweichlich zu sein. Procycling analysiert, wo die Tour de France 2017 gewonnen und verloren wurde.

 
 

Der Blick vom Col d’Izoard ins Guil-Tal ist grandios, die Art von Landschaft, die Caspar David Friedrich auf die Leinwand zu bringen pflegte. Die Hänge fallen steil ab an der Casse Déserte, Schauplatz einiger der dramatischsten und fotogensten Momente der Tour de France, die kurvenreiche D902 führt das Auge bis zur Baumgrenze und darüber hinaus, während der Col unter einem felsigen und zerklüfteten Amphitheater aus graugelbem Geröll und einem gewaltigen Felsenkessel liegt, der sich um die Landschaft wickelt. Es ist die Art von Panorama, dessen Schönheit selbst die hochauflösenden Landschaftsbilder der Tour nicht annähernd transportieren können. An dem Tag, als der Izoard eine Etappe der Tour 2017 zu Gast hatte und die heilige Dreifaltigkeit des Rennens aus legendären Bergankünften nebst Tourmalet und Galibier komplettierte, hatten morgendliche Gewitter den Nebel aus der Atmosphäre gewaschen und die Sicht war klar. Vom Col hat Chris Froome vielleicht die Abfahrt hinuntergeblickt, verstopft wie sie war mit dem Verkehr, der den Berg hinunterzukommen versuchte, und richtig vermutet, dass der Rest seiner Tour von da an ein Leichtes wäre. Seine Rivalen hingegen haben sich vielleicht umgedreht und an die verpassten Chancen gedacht. Es waren viele. In den Geschichtsbüchern wird stehen, dass Chris Froome die Tour de France 2017 mit weniger als einer Minute Vorsprung gewonnen hat. Ein Rennen, das im Laufe der drei Wochen oft als knappstes aller Zeiten bezeichnet wurde, war laut Statistik tatsächlich das siebtknappste, 54 Sekunden trennten Froome in Paris vom Zweitplatzierten Rigoberto Urán. Doch in Wirklichkeit war es viel weniger knapp. Es war die radsportliche Entsprechung einer 1:0-Abreibung. Froomes Rivalen hatten etliche Chancen, ihn zu entthronen, aber als der Moment der Wahrheit kam, kabbelten sie lieber untereinander oder wichen zurück und warteten auf einen anderen Tag, unfähig, sich zum Akt des Königsmordes durchzuringen. Als sie sahen, dass Froome zögerte – wie in den Vogesen – oder isoliert war – wie im Jura – oder schwach – wie in den Pyrenäen – oder Pech hatte – wie im Zentralmassiv, dachten sie, dass er in den Alpen noch angreifbarer wäre, und vertagten die Tötung. Unterdessen wurde Froome stärker und selbstbewusster, verbarg sich im Zentralmassiv und den Alpen erst hinter dem Schutzschirm seiner Sky-Teamkollegen und fuhr dann ein paar Kilometer vor dem Gipfel des Izoard eine unerwartete Attacke. Als seine Rivalen erkannten, dass er sie eingelullt und in falsche Sicherheit gewiegt hatte, war es zu spät. Froome hatte sie exquisit in die Falle gelockt. Beim Auftakt-Zeitfahren in Düsseldorf hatte Froome signifikante Gewinne gemacht – von den finalen Top Ten am nächsten kam ihm dort Simon Yates, der auf nur 14 Kilometern 25 Sekunden auf den Titelverteidiger verlor. Romain Bardet und Urán, Gesamt-Zweiter und -Dritter auf dem Gipfel des Izoard, kassierten 39 beziehungsweise 51 Sekunden. Froome mag seine Rivalen bei der Tour 2017 nicht in den Bergen geschlagen haben, aber alleine gegen die Uhr im Flachen war er viel schneller als sie. Außer einer der schönsten Berge der Tour zu sein, ist der Izoard mit 2.360 Metern auch einer ihrer höchsten – groß genug, um zu verbergen, was hinter ihm lag: das Zeitfahren in Marseille. Froome muss die Aussicht vom Gipfel genossen haben.
 
Das kurze Zeitfahren in Düsseldorf am ersten Tag des Rennens sagte uns viel von dem, was wir über die Tour de France 2017 wissen mussten. Der strömende Regen mag die Resultate verwischt und indirekt zur frühen Eliminierung der Klassementfahrer Alejandro Valverde und Jon Izagirre geführt haben, die beide nach Stürzen aufgeben mussten, und der kleine Sturm, den die gedimpelten Zeitfahranzüge von Sky entfachte, mag die Tour-Beobachter von der Wahrheit abgelenkt haben, die das Zeitfahren aufdeckte. Aber es war klar, dass Froome in Form war, physisch und mental. Der Fahrer, der als sein Hauptrivale um Gelb galt, Richie Porte, ein guter Zeitfahrer, der Froome bei den letzten beiden Prüfungen gegen die Uhr, die sie beide bei der Tour de Romandie und dem Critérium du Dauphiné austrugen, souverän geschlagen hatte, wirkte bei Regen unsicher und gestresst und verlor 35 Sekunden auf den Briten. Wie der neue Tour-Experte Lance Arm-strong, der in einem Wohnmobil in Colorado ein Podcast produzierte, feststellte: „Du verlierst zehn, zwölf Sekunden, wenn du konservativ fährst. Aber 35 Sekunden? Das ist nicht mehr vorsichtig. Das passiert nicht, weil du in den Kurven stärker bremst.“
Mit anderen Worten: Froome war stark. Obendrein waren seine Rivalen übervorsichtig und standen vielleicht mehr unter Druck. Das alleine hätte schon reichen können, aber etwas noch Wichtigeres passierte in Deutschland. Die außerordentliche Leistung seines Teams am selben Tag war ein Warnschuss vor den Bug von Porte, Bardet und Co. Im Auftakt-Zeitfahren belegten Sky-Fahrer Platz eins (wobei Geraint Thomas das erste Gelbe Trikot des Rennens trug), drei (Vasil Kiryienka), sechs (Froome) und acht (Michał Kwiatkowski). Wir hätten wissen sollen, was kam. Während wir uns im mittleren Teil der Tour vom kosmetischen Erscheinungsbild eines offenen und knappen Rennens täuschen ließen, als Fabio Aru Froome in La Planche des Belles Filles auf dem falschen Fuß erwischte und ihm in Peyragudes sogar das Gelbe Trikot abnahm, stellte Sky seinen Stiefel abermals auf die Gurgel des Pelotons. Selbst nachdem Thomas auf der 9. Etappe stürzte und ausschied, war das Team fähig, die Ambitionen von Froomes Rivalen abzuwürgen.

Kwiatkowski, ein früherer Weltmeister und diesjähriger Mailand–San-Remo-Sieger, war stark genug, um bis auf die besten sieben oder acht Fahrer im Rennen alle zu eliminieren, als er auf den Bergetappen Tempo machte. Wenn er auf eigene Rechnung gefahren wäre, wer weiß, was er hätte erreichen können. Einen Top-Fünf-Platz in der Gesamtwertung (er war mit 23 Jahren Elfter der Tour 2013), mehrere Etappensiege oder einen Anlauf aufs Grüne Trikot im richtigen Terrain? Er hat das physische und taktische Rüstzeug, um es auf den hügeligen Etappen mit Sagan und Matthews und in den Bergen mit den allerbesten Klassementfahrern aufzunehmen. Er war der schnellste Zeitfahrer der gesamten Tour – seine akkumulierte Zeit von seinem achten Platz in Düsseldorf und seinem zweiten in Marseille war zwei Sekunden schneller als Froome und sechs schneller als Tony Martin. Er fuhr sich in den Diensten seines Kapitäns am Col d’Izoard selbst in Grund und Boden und musste anhalten, doch viele Beobachter fragten sich, was er hätte erreichen können, wäre er für sich selbst gefahren.  Froomes letzte Verteidigungslinie in den Bergen war in Abwesenheit von Thomas in der zweiten Hälfte des Rennens Mikel Landa, der der stärkste Kletterer der Tour zu sein schien. Landa war der einzige Sky-Fahrer, der die finale Beschleunigung bei der steilen Ankunft am Flugplatz in Peyragudes mitgehen konnte, was dazu führte, dass Froome ein kleines Stück zurückfiel und Beobachter über seine eigenen Ambitionen spekulierten. Eine öffentlich gewordene Standpauke von Sky-Sportdirektor Nicolas Portal, und dann gab ein weiterer Gewinn von fast zwei Minuten am folgenden Tag in Foix dem bereits brodelnden Eintopf weitere Würze: Der baskische Fahrer war jetzt nur noch 1:09 Minuten von Arus Gelbem Trikot und 1:03 von seinem Kapitän entfernt. Er musste seine eigenen Ambitionen schon einmal bei einer großen Rundfahrt einem Teamkollegen zuliebe zurückstellen – beim Giro 2015. Eine Karriere als Radrennfahrer ist kurz und eine so glänzende Form wie die, in der Landa im Juli war, hat man selten. Würde Landa Froome das antun, was Froome Wiggins 2012 antat? Die Antwort kam ein paar Tage später am Col de Peyra Taillade auf der Etappe nach Le Puy. Froomes zweiter schlecht getimter Defekt bei der Tour (dazu später mehr) führte dazu, dass er auf den letzten 100 Metern des Anstiegs wieder an die Spitzengruppe herangeführt werden musste. Landa ließ sich pflichtgemäß zurückfallen, um den Job zu machen, und eine der faszinierenden Geschichten der Tour 2017 war gekillt.

Sky war stark, nahezu unbesiegbar und mehr oder weniger unsympathisch bei seinem Toursieg, ein deutlicher Kontrast zu der gewinnenden und offenen Einstellung von Tom Dumoulin (Sunweb) bei seinem Giro-d’Italia-Sieg zum Beispiel. Sky hatte in Paris zwei Fahrer in den Top Vier, wobei Landa das Podium um eine Sekunde verpasste, und dank Mikel Nieve drei in den Top 14, selbst nachdem Thomas draußen war. Abgesehen von der Etappe nach Foix, als Landa in die Ausreißergruppe ging und die Rivalen von Sky ausnahmsweise einmal taktisch, nicht physisch ins Hintertreffen gerieten, gaben sie mit ihrem Zug ein unerbittliches Tempo auf den Bergetappen vor. Abseits der Straße überstanden sie unbekümmert und selbstsicher die Kontroverse über ihre gedimpelten Zeitfahranzüge, da sie sich strikt an die Vorschriften über neue Materialien gehalten hatten. Sie kapselten sich zudem von den Printmedien, den Erfindern der Tour, ab, indem sie sich weigerten, an Ruhetagen eine Pressekonferenz zu geben. Teamboss David Brailsford ließ am zweiten Ruhetag eine unflätige Tirade gegen einen Reporter von Cyclingnews.com ab. Brailsford nahm keine Stellung zu den ungeklärten Fragen nach Bradley Wiggins’ Konsum von Triamcinolon-Acetonid bei drei verschiedenen Gelegenheiten oder zur Lieferung desselben Produkts in nicht dokumentierten Mengen an die Radrennbahn in Manchester oder zu dem ominösen Versandbeutel beim Critérium du Dauphiné 2011, der ein einfaches abschwellendes Mittel enthalten haben mag oder auch nicht – und somit gab es wenig Gelegenheit, das Team zur Rechenschaft zu ziehen, was Sky gut in den Kram zu passen schien. Brailsfords Taktik – sich den unangenehmen Fragen der Presse zu entziehen, einzelne Journalisten herauszupicken, ihnen grundlos vorzuwerfen, Lügen zu verbreiten, Fake News, wenn Sie so wollen – stammte direkt aus dem Lance-Armstrong-Handbuch, wenngleich Froome selbst Wert da-rauf legte, sich davon zu distanzieren.

Gegen die Methode von Sky, potenzielle Toursieger als Helfer anzuheuern, ihr riesiges Budget und Froomes eigene Position als erfolgreichster Tour-Fahrer in 20 Jahren ist schwer anzukommen. Sie haben keinen Grund, eine Show zu liefern – sie gewinnen die Tour auf möglichst risikofreie Art; wenn Gewinnen alles ist, was zählt, dann zählt alles andere nicht. BMC und AG2R La Mondiale versuchten an verschiedenen Punkten so zu fahren wie Sky – BMC in La Planche des Belles Filles und AG2R am Izoard –, aber damit bewirkten sie nur, dass die Sky-Fahrer sich mal ausruhen konnten, wonach sie sich sowieso durchsetzten. AG2R hatte mehr Erfolg mit der Guerillataktik auf der 9. Etappe nach Chambéry – sie setzten sich an die Spitze der Ausreißergruppe und des Pelotons, aber der Unterschied war, dass sie in den Abfahrten Druck ausübten. Damit konnten sie Froome nicht ganz knacken, aber es führte dazu, dass Richie Porte ein Risiko zu viel einging und sich aus dem Rennen katapultierte. AG2R hatte Froome auf der Etappe nach Le Puy fast so weit – sie zogen das Feld in die Länge, ließen es mitunter reißen und dann hatte der Brite seinen Defekt am Peyra Taillade. Aber Bardet zog nicht durch.
Vor allem zwang Sky das Peloton der Tour 2017, nach seiner Pfeife zu tanzen. Der unaufhörlich hämmernde Rhythmus ihres Zuges in den Bergen stampfte die Ambitionen ihrer Rivalen nieder wie ein Rammhammer. Obwohl die Tour knapp zu sein schien, waren Froomes Rivalen teils selbst schuld an dem Gefühl, dass sich die Tour zu einer Prozession entwickelte. Sie sollten sich in den Hintern treten wegen der verpassten Gelegenheiten, den Briten unter Druck zu setzen.

Klar ist, dass Froome in den Bergen nicht mehr der Fahrer von früher war. Das letzte Mal, dass er der Konkurrenz in einem Anstieg der Tour wirklich eine Abreibung verpasst hatte, war in La Pierre Saint-Martin auf halber Strecke der Tour 2015. Seitdem war er nicht mehr der beste Kletterer der Tour. Nairo Quintana nahm ihm in dem Jahr Zeit in den Alpen ab, obwohl es zu wenig und zu spät war. Bei seinem Toursieg 2016 fuhr Froome seinen Vorsprung vor allem bei den zwei Zeitfahren heraus, während er auf den Bergetappen 2017 sogar Zeit auf Urán und Bardet verlor. Froome konnte seine Angreifbarkeit gut verbergen – er gab zu, sich zu Beginn der Etappe nach Peyragudes schwach gefühlt zu haben, aber seine Rivalen spürten das erst auf den letzten 200 Metern. Aber er hatte mehr als genug Reserven bei den Zeitfahren, selbst bei so wenigen Kilometern wie 2017, um zu gewinnen. Trotzdem bleiben Fragen nach den Ambitionen von Froomes Rivalen. Auf der Etappe nach Chambéry fuhr Romain Bardet in der Abfahrt vom Mont du Chat 30 Sekunden auf die Gruppe um Froome heraus und schloss zu Ausreißer Warren Barguil auf. Froomes Gruppe bestand aus Froome, Urán und zwei Astana-Fahrern, Aru und Jakob Fuglsang. Die Entscheidung von Astana, zur Jagd nach Bardet beizutragen, war selbstmörderisch und spielte Froome direkt in die Karten. Astana hätte nichts tun dürfen, dann hätte Froome keine andere Wahl gehabt, als die Verfolgung selbst in die Hand zu nehmen. Stattdessen halfen sie ihm, Bardet zur Strecke zu bringen. Froome ist am schwächsten, wenn er von seinem Team isoliert ist, und Astana hätte die Nerven behalten sollen.

Man hat das Gefühl, dass Froome das Leben von seinen Rivalen zu leicht gemacht wird. Als Aru am Mont du Chat attackierte, just als Froome einen Defekt hatte, wurde der Italiener von Porte und Dan Martin überredet, sich zurückzuhalten. Es ist unbestreitbar, dass das Rennen „im Gange“ ist, wenn es sich um den Schlussanstieg einer großen Bergetappe handelt, und auch wenn sich Aru mit seinem Angriff keine Freunde machte, war er klar im Bereich des Erlaubten. Auf dem Weg nach Peyragudes hätten Froomes Rivalen vielleicht besser auf ihn achten sollen, statt sich von der Fahrweise von Sky beeindrucken zu lassen. Es war ein gelungener Bluff von Sky und Froome, so zu tun, als wäre alles in Ordnung. Aber es war wohl am Peyra Taillade, wo Bardet und Urán die Tour verloren. AG2R hatte zu Beginn des Anstiegs Tempo gemacht und Froome war sogar selbst ein Stück zurückgefallen, was an sich schon gefährlich genug hätte sein können. Aber als er seinen Defekt hatte, hielt AG2R zu Recht den Druck hoch, und als Froome wieder startklar war, hatte er eine Minute verloren. Es war eine lange Aufholjagd, die Sky alle Körner kostete. Bardet hätte die Arbeit seines Teams vollenden und attackieren sollen, bevor Froome den Anschluss schaffte – wenn sich eine kleine Gruppe am Gipfel abgesetzt hätte, hätte Froome sie bis ins Ziel nicht wiedergesehen, aber ihnen gingen die Nerven durch. Froomes eigene Arbeit, als er die Lücke mithilfe von Nieve und Landa schloss, war die Aktion, die seinen Toursieg sicherte.

 

 Froome hat jetzt vier Frankreich-Rundfahrten gewonnen, womit er einem Kreis von fünf Fahrern beitritt, denen das gelungen ist. Als Meisterleistung an Athletik, mentaler Stärke, Einsatz von Perfektionismus, Taktik und Kampfgeist gehört es zu den radsportlichen Glanzstücken in diesem Jahrhundert. Aber es gab Klagen bei den Fans und Medien, dass Froomes Toursieg 2017 zwar eindrucksvoll, aber weder emotional ansprechend noch spannend gewesen sei. Die Route galt als Hauptschuldige, und Froome selbst spielte immer wieder darauf an, dass die Organisatoren einen Kurs entworfen hätten, der ein knappes Rennen begünstigte. (Er wiederholte das in der Tat so oft und so flüssig, dass dieser Satz fast einstudiert klang – ein anderer Grund, warum er keinen großen Vorsprung auf seine Rivalen hatte, war natürlich, dass er nicht viel besser fuhr als sie.)

Aber auch ein paar unglückliche Zufälle trugen zur Langeweile bei. Der Parcours war schön angelegt und versprach spektakuläre Kämpfe zwischen den namhaften Sprintern des Feldes, wobei Mark Cavendish an seine 30 Etappensiege, die er bereits hat, anknüpfen und sich Eddy Merckx‘ Allzeitrekord von 34 nähern wollte. Aber Cavendish stürzte auf der 4. Etappe nach Vittel und Peter Sagan wurde aus dem Rennen geworfen wegen Regelwidrigkeiten, die etwas mit Cavendishs Sturz zu tun haben konnten oder auch nicht – die UCI-Kommissäre wollten nicht ins Detail gehen und in ihrem offenkundigen Wunsch, ein starkes Statement abzugeben, schickten sie den slowakischen Weltmeister nach Hause, noch ehe auf Sozialen Medien verschiedene Filme auftauchten, die zeigten, dass er die Tür für Cavendish im Sprint zwar sanft zumachte, aber der Kontakt vorher von Cavendish ausgegangen war. Arnaud Démare gewann die Etappe, wurde dann aber krank und kam fünf Tage später außerhalb der Karenzzeit an. André Greipel und Nacer Bouhanni waren nicht in Form – was zu einer Serie von unangefochtenen und einseitigen, wenngleich sehr eindrucksvollen Siegen für Marcel Kittel führte. Von den Klassementfahrern waren Porte und Valverde früh gestürzt, was Sky das Leben leichter machte. Porte war Froome in dieser Saison physisch überlegen gewesen, während Valverde auf den taktisch kniffligen Bergetappen 2017 gefährlich gewesen wäre. Dan Martin wurde von Porte zu Fall gebracht, was ihn Zeit und körperliches Wohlbefinden kostete, aber während es leicht ist, die durch Pech verlorenen Sekunden und Minuten zu zählen, war Froomes eigene Fähigkeit, mit heiler Haut durchs Rennen zu kommen, eine wichtige Waffe in seinem Arsenal. Abgesehen von der Gesamtwertung und den Sprints waren Barguil im Trikot des Bergkönigs und sein Teamkollege Matthews im Grünen Trikot in brillanter Form, und der Auftritt ihres Sunweb-Teams war zweifellos eines der Highlights des Rennens.

Aber es war letztlich nicht die Strecke, die eine knappe Tour so merkwürdig unspannend wirken ließ. Es war Sky. In den Bergen gaben sie ein so hohes Tempo vor, dass Angriffe entweder unmöglich oder leichtsinnig waren, außer auf den letzten zwei Kilometern eines Anstiegs, wo nur eine Handvoll Sekunden herausgefahren werden können. Martin und Bardet unternahmen tapfere Versuche, sich abzusetzen, aber bei einem so hohen Grundtempo anzugreifen ist schwer. Was Langstreckenangriffe angeht, so sind sie gestorben. Man kann Sky das nicht vorwerfen, genauso wenig wie man einem Löwen vorwerfen kann, Antilopen zu jagen. Aber der Plan von Sky war, Froome durch die Berge zu kriegen und das Rennen dann in den Zeitfahren klarzumachen, die am Anfang und Ende des Rennens lagen. Er attackierte kaum und gewann keine Etappe. Rigoberto Urán, der Gesamt-Zweite, gewann zwar die Etappe in Chambéry im Sprint einer Gruppe, aber auch er griff nicht an. Angesichts der Ressourcen von Cannondale ist das keine Kritik – der Kolumbianer hatte keine andere Wahl, als dem Tempo von Sky zu folgen und zu sehen, was passiert. Froome machte es nicht besser. Privat ist er ein gewinnender und freundlicher Mann, aber seine Interaktion mit dem Publikum und der Presse bei der Tour war kalt und distanziert. Selbst das Ausbuhen in Marseille perlte an ihm ab. Am Ende verdeutlichte Marseille die Haurucktaktik, mit der Froome bei der Tour de France 2017 operierte. Wir dachten während des Rennens, seine Rivalen wären ihm näher denn je, Fahrer wie Romain Bardet würden aufholen. Aber das Bild, wie Froome am Ende des Zeitfahrens auf einen erschöpften und mental zerstörten Bardet zusteuert, der zwei Minuten vor dem Briten gestartet war, reichte, um zu zeigen, dass sie davon noch ein gutes Stück entfernt sind.



Cover Procycling Ausgabe 163

Den vollständingen Artikel finden Sie in Procycling Ausgabe 163.

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