Zwei Städte, ein Projekt

2010 fasste die WorldTour mit Eintagesrennen in Québec und Montréal Fuß in Nordamerika. Heute sind sie ein fester Bestandteil der Saison, den die Fahrer sehr mögen, wie Procycling feststellte.

 

Geschichte schreiben in Québec
Unter den Turmspitzen des Château Frontenac verbirgt sich ein Labyrinth von Zimmern, Suiten, Konferenzräumen, Tanzsälen und Museumsbereichen. Das Hotel auf einem Felsen oberhalb des Saint Lawrence River ist teils Tourismusbetrieb, teils Kulturerbe. Für nordamerikanische Verhältnisse hat Québec City eine reiche Geschichte. Von wichtigen Momenten wie der Einnahme der Stadt durch die Briten 1759 bis hin zur Gipfelkonferenz 1943, auf der die Invasion der Alliierten in Europa – der D-Day – beschlossen wurde, ist dort viel passiert. Besucher drängen täglich in die dunkle, messingfarbene Lobby des Frontenac, um die Atmosphäre des Ortes aufzusaugen, wo Churchill und Roosevelt den Verlauf des Zweiten Weltkriegs besprachen und den Lauf der Geschichte bestimmten. In jüngerer Zeit waren Québec City und das legendäre Hotel Schauplätze in einem großen südkoreanischen Fernsehdrama. Also kommen die Besucher weiter in die perfekt erhaltene und liebevoll gepflegte Stadt. Ringsum glänzen die Dächer in neuem Kupfer – eine authentische, aber unglaublich teure Art der Restaurierung. Andererseits ist der Tourismus die goldene Gans der Stadt. Unterdessen war die goldene Gans des Radsports, Peter Sagan, in dem Hotel schwer zu finden. Die meisten Rennfahrer waren entspannt und schlenderten durch die Lobby, aber der Slowake flitzte heimlich von Terminen mit Sponsoren zurück in sein Zimmer, ohne die geringste Aufmerksamkeit zu erregen. Beim GP Cycliste de Québec blieb der 27-Jährige in tadelloser Position, versteckt hinter der Spitze des Pelotons, jedes Mal, wenn das Rennen die größte Schwierigkeit, die Côte de la Montagne, passierte. Das Rennen ist jetzt geprägt vom langen Sprint ins Ziel zwischen der Reihe von Bars und Restaurants an der Grand Allée. Sagan las das Rennen vorbildlich und verteidigte als erster Fahrer in der achtjährigen Existenz des GP erfolgreich seinen Titel. Er verwies Greg Van Avermaet auf den zweiten Platz – der vierte Podiumsplatz für den Belgier in sechs Jahren. Michael Matthews wurde Dritter. Es war ein Podium, mit dem die Organisatoren zufrieden sein konnten, selbst wenn das Geschehen in den ersten vierdreiviertel Stunden nicht besonders prickelnd war. „Alle wussten, dass es bei dem Wind schwer sein würde anzugreifen“, stellte Tim Wellens fest. „Ich habe auf die letzten 200 Meter gewartet. Es war ein schwerer Sprint heute, weil wir Gegenwind hatten“, sagte Sagan anschließend. Ein kleines Stück Radsportgeschichte wurde geschrieben, weil es der 100. Sieg in Sagans Karriere war. Die Organisatoren hatten eine Flasche Cham-pagner mit neuem Etikett versehen und sie ihm bei der Siegerehrung überreicht. In der Öffentlichkeit blieb der Korken in der Flasche. „Es ist sehr nett“, sagte Sagan gnädig auf die Frage, wie es ist, in den Kreis von André Greipel, Mark Cavendish und Alejandro Valverde als einzige aktive Fahrer mit 100 Siegen vorzustoßen. „Aber wenn wir alle gesund bleiben, ist es noch schöner, wenn wir alle 100 werden! Ich muss mir den Appetit auf weitere Siege bewahren.“ Sagan hat sich nie groß für Betrachtungen der Geschichte oder seinen Platz in ihr interessiert, aber er trägt gerne zu ihr bei. 2010 fuhr auf der Rückfahrt zum Hotel nach Sagans zweitem Etappensieg bei Paris–Nizza ein A.S.O.-Wagen auf die Höhe des Liquigas-Wagens, um einen Blick auf den Youngster zu werfen. Sagan schaute unverwandt zurück auf einen Mann mit dunklem Teint und gerunzelter Stirn. „Das ist Bernard Hinault“, informierte ihn der Sportliche Leiter.
 
Das kanadische Schaufenster des Radsports
Bruno Langlois’ schwarze „Velo-Cartel“-Baseballkappe blieb die ganze Woche fest auf seinem Kopf. Der kanadische Meister von 2016 nutzte die Gelegenheit der vielen anwesenden Kameras, um Werbung für sein neues Coaching-Café in einem Vorort von Québec City zu machen. Mit 38 dürfte es sein letzter Auftritt gewesen sein. Langlois lebt an der Strecke und fährt täglich auf diesen Straßen. „Das beste Rennen des Jahres“, sagte er nachdrücklich. „Es ist vor heimischer Kulisse mit den besten Fahrern der Welt.“ Er ist Teil eines kanadischen „Composite Teams“ neben bekannteren Kanadiern mit Erfahrung in Europa, Antoine Duchesne und Ryan Anderson, und kümmert sich um junge Kanadier, die in die WorldTour hineinschnuppern. Einer dieser Hoffnungsträger ist Pier-André Côté. Mit 20 war er der jüngste Fahrer im Rennen. Côté ist der Name, den sein Teammanager Kevin Field nennt, wenn er gefragt wird, welcher seiner Fahrer es am ehesten in die World-Tour schaffen kann. In Québec sprang Côté in die vierköpfige Ausreißergruppe des Tages mit Tyler Williams (Israel Cycling Academy), Baptiste Planckaert (Katusha) und Tosh Van Der Sande (Lotto Soudal). Probleme mit der Sattelhöhe kosteten Côté Kraft, aber er hielt 130 Kilometer durch, bevor er an der Côte de la Montagne, 65 Kilometer vor dem Ziel, aufgab. „Ich wollte erreichen, dass mein Name erwähnt wird, und das habe ich geschafft“, konstatierte er im Ziel. Er fuhr das Rennen nicht zu Ende, aber er war noch da, als die meisten Fahrer schon längst wieder im Hotel waren. Er ist Lokalmatador wie Langlois. Er zog nach Québec City, um Mathematik und Rechnungswesen zu studieren. Er war noch geblieben, sprach mit Freunden, Verwandten und Journalisten, die über seine Traumfahrt am folgenden Tag vor heimischer Kulisse schreiben wollten. Tatsächlich dachte Côté, wie ein großer Teil des Pelotons, an wichtigere Ziele, die bevorstanden: die Weltmeisterschaft in Bergen. „Es ist ein Rundkurs mit derselben Dynamik“, beschrieb Côté die Ähnlichkeiten zwischen den beiden Rennen. Und der Anstieg in Norwegen ist dem in Montréal sehr ähnlich. Es ist eine gute Vorbereitung und eine tolle Gelegenheit, gegen die besten Fahrer der Welt anzutreten. Die Jungs hier werden stärker sein. Das gibt mir Selbstvertrauen.“ Es war immer ein kanadisches „Composite Team“ bei den beiden hiesigen Rennen dabei. Und dreimal hat ein Kanadier anschließend beim U23-WM-Straßenrennen gut abgeschnitten: Guillaume Boivin war 2010 Dritter und Hugo Houle 2012 Vierter, während Adam de Vos 2015 Neunter wurde. „Das ist unser Geheimrezept“, sagte Field. Er erklärte, dass die Tour of Utah – und dieses Jahr das Colorado Classic – für ein Höhentraining sorgen, bevor die Fahrer eine Pause auf Meereshöhe einlegen, dann die Tour of Alberta fahren und sich dann bei diesen beiden WorldTour-Rennen den letzten Schliff holen. Field erklärte, dass der Verband, Cycling Canada, auch versuche, den jungen Kanadiern den Weg in den Profiradsport zu ebnen. „Ich sage unseren Kids, dass sie drei Dinge brauchen, um es zu schaffen“, so Field. „Sie brauchen eine große Leistung, sie brauchen die Beständigkeit über die ganze Saison und sie brauchen Beziehungen.“ Die Rennen in Québec können zu allen drei Punkten beitragen, aber sie sind auch ein Schaufenster für den kanadischen Radsport im Allgemeinen.
 
Nicht so allein auf dem Berg
Die Côte de la Montagne ist ein 375 Meter langes Stück mit zehn Prozent Steigung, das die Fahrer von Saint Lawrence weg in die Altstadt führt, bevor es runter zu den Kaianlagen von Québec geht. Dann beginnt der Anstieg zur Côte de La Potasse und der lange ansteigende Sprint auf der Grand Allée. Die Flamme Rouge befindet sich vor dem Château Frontenac. Es sind gewundene und technisch anspruchsvolle 3,6 Kilometer, auf denen die Position entscheidend ist. Nicht umsonst sagte Sagan, dass auf den letzten Kilometern „alles durcheinander“ sei. Wir wissen, was er meinte. Das Peloton kam 16-mal vorbei, rund alle 20 Minuten. Da die Ausreißer den größten Teil des frühen Nachmittags rund zehn Minuten Vorsprung hatten, war ständig etwas los. Der golden eingewickelte Lexus war ein Kameramagnet, ebenso die vorausfahrenden Polizeipatrouillen auf ihren dicken 70er-Jahre-Motorrädern. Die Zuschauermengen waren jedoch nicht so groß wie sonst. Ein Helfer bemerkte die wenigen Fans in der Abraham-Ebene, dem gepflegten Park im Herzen der Stadt: „Sie kommen später“, sagte er optimistisch, als wir am gigantischen Hotel de la Concorde mit sich drehendem Dachrestaurant vorbeikamen. Das Wetter war schon am Vortag schlecht gewesen und das Rennen hatte unter bleigrauem Himmel begonnen. An der Rechtskurve der Côte de la Montagne mischten sich Fans mit Touristen, sodass die Mengen größer wirkten. Im steilsten Stück des Anstiegs reihen sich gewagte Indie-Shops an traditionellere Geschäfte mit Ahornsirup und Strickwaren. Hier saßen zwei Zuschauer, Alex und Daniel, auf einer Mauer und hatten einen Logenblick auf die Fahrer, die sich langsam den Anstieg hocharbeiteten. Das Wetter war diesen beiden Soldaten egal, die vom in der Stadt ansässigen 22. Königlichen Regiment einen Tag freibekommen hatten. „In diesem Jahr sind hier nicht so viele Leute“, bestätigte Alex. „Sie lassen sich vom Regen abschrecken. In den letzten Jahren war es sonnig und warm, 20 oder 30 Grad.“ Zuschauerfreundliche Sportereignisse seien rar gesät in Québec City, erklärte Daniel. „Wir haben den Marathon des Deux Rives, aber dieser Wettbewerb ist der größte. Ich höre heute viele fremde Sprachen, was gut für die Stadt ist.“ Daniel hoffte, dass eines Tages mehr Stars der Tour de France kommen und in Kanada antreten würden, aber er wusste, dass die Vuelta a España für Rundfahrer attraktiver war. Die zwei Kumpels, Mitte bis Ende 30, begeistern sich für Downhill-Mountainbiking und fahren die 40-minütige Strecke zur Offroad-Spielwiese am Mont Sainte Anne so oft wie möglich. Nach den vielen Rennrädern am Straßenrand zu urteilen, waren sie typische Vertreter der örtlichen Fans. Französisch mag zwar Amtssprache sein, doch sie nehmen den Radsport wie angelsächsische Fans: als Hobbyfahrer wie als Zuschauer. Im Laufe des Tages stellte sich heraus, dass der von uns befragte Helfer recht behalten sollte: Als die Sonne die Straßen auf den letzten 60 Kilometern aufwärmte, füllten sich die Straßenränder und Bürgersteige mit Zuschauern, die das Finale des Rennens erwarteten.
 
Der Unverzagte
Serge Arsenault ist auf dem Gesundheitstrip. Was wie Wein in einem Weinglas aussah, war etwas anderes. „Ich habe aufgehört zu trinken, um in Form zu bleiben“, sagte er. Er gestikulierte permanent mit seinem Vaporizer. Aber weder das Glas noch das Dampfgerät schafften es oft zum Mund, denn in Gesellschaft ist er ein Redner. Gesundheit war ein Thema für den 69 Jahre alten, grauhaarigen Präsidenten der Rennen von Québec und Montréal. Seine eigene ein bisschen, aber vor allem die des Radsports. In der Roosevelt-Suite des Château Frontenac hielt der gut gekleidete frühere Journalist, Medienmagnat und heutige einflussreiche Organisator Hof vor einem Kreis von europäischen Journalisten und konstatierte, es gebe einen „Krebs“ im Herzen des Radsports. „Was den Radsport jetzt tötet, ist ziemlich klar: Niemand arbeitet für den Radsport. Sie saugen ihn aus wie Vampire.“ Er versicherte, kein Richter zu sein, der Schuld zuweisen wolle. Aber er sei Geschäftsmann, und das Geschäft werde kaputtgemacht. Er klagte über die heutige Situation, in der sich die Organisatoren und Vereine gegenseitig bekämpften und um die wenigen „Tischabfälle“ stritten, wie er es nannte. Aber zu den Dingen, die er wirklich will, zählt ein weiteres Eintagesrennen an der Ostküste – etwas für die Sprinter. „Ich hasse halbe Sachen“, knurrte er in den kultivierten Tönen eines Mannes, der viel Zeit vor der Kamera verbracht hat. „Das kann jeder! Wir helfen mit den Flugzeugen und der Logistik. Drei Rennen, drei WorldTour-Events, und der amerikanische Durchgang ist komplett“, sagte er nachdrücklich. „Aber ich habe eine Bedingung: Wir müssen die Qualität des Produkts bewahren! Wenn man mit Mist anfängt, kommt Mist dabei heraus“, schimpfte er. „Es muss Topqualität sein.“ Seine Suche nach dem richtigen Partner, der bereit ist, ihn als Anführer zu akzeptieren und Millionen Euro lockerzumachen – er hat seit 2010 fast 50 Millionen Euro reingesteckt –, geht weiter. Im Herzen ist er ein Sportfan. In den späten 1970ern gründete er den Québec City Marathon, als Boston, New York und London als kommerzielle Massenevents starteten oder sich – wie Boston – dazu entwickelten. Er nennt die Namen der anderen drei Direktoren: Will Cloney in Boston, Chris Brasher in London und Fred Lebow in New York. „Wir waren das verdammte Rat Pack!“, sagte er fröhlich. Doch sein Herz schlägt für den Radsport, und er hat immer wieder Rennen organisiert seit den späten 80ern, als er den GP de Amériques gründete. Das Rennen überlebte vier Jahre, bis es auf einen unhaltbaren Platz im Oktober verdrängt wurde. Er kehrte 1999 mit der zehntägigen Tour Trans-Canada zurück, die ein Jahr überlebte. Das „Laurentian Double“, wie die Grands Prix auch genannt werden, ist jetzt im achten Jahr. Die Rennen werden von den Fahrern wegen ihrer Organisation gelobt. Der Charterflug von Paris, die Unterbringung an der Strecke und die vielen Fans entschädigen für die Reise und den Jetlag. „Diese Rennen sind die Zukunft“, war Oliver Naesen überzeugt. Zurück zu Arsenault: „Ich liebe Ausdauersport, weil es schließlich mit einer Begegnung mit dem Leiden endet.“ An den Rädern innerhalb der Räder der Radsportpolitik zu drehen und potenzielle Partner zu suchen, ist wahrscheinlich eine lange Begegnung mit dem Leiden, doch Serge Arsenault macht nicht den Anschein, aufgeben zu wollen.

 

Hesjedals Verjüngung
Acht Wochen vor den ersten Grands Prix von Québec und Montréal (GPCQM) im Jahr 2010 gab Svein Tuft seinem Teamkollegen und Landsmann Ryder Hesjedal einen neuen Spitznamen. Der Mann aus British Columbia sollte von dem Moment an „Weight of a Nation“ heißen. Hesjedal war bei der Tour de France in jenem Jahr mit Garmin-Transitions gut unterwegs. Er nahm Kurs auf einen Top-Ten-Platz, den ersten, seit Steve Bauer 1988 Vierter wurde, und hatte das Gewicht einer Nation auf den Schultern. Hesjedal lieferte, machte an den letzten vier Tagen alles klar und wurde Gesamt-Siebter (und nach Alberto Contadors Sperre auf den sechsten Platz befördert). Im September belegte er in Montréal den ersten seiner zwei Po-diumsplätze bei dem Rennen. Zwei Jahre später, 2012, gewann er mit Garmin-Sharp den Giro d’Italia und wurde Kanadas bis dato erfolgreichster Fahrer. Aber bei den Rennen hatte Hesjedal in den Augen der Öffentlichkeit die kühle Distanziertheit von jemandem, der seinen Job machte. Er war absolut professionell, machte aber selten den Eindruck, begeistert bei der Sache zu sein. Die Saison 2016 war Hesjedals letzte im Profi-Peloton. Er zog nach Hause an die kanadische Westküste, um aus Spaß Rad zu fahren. „Ich kann eigentlich nichts anderes!“, sagte er fröhlich, als wir ihn an der Ziellinie in Montréal trafen. Hesjedal war bei den Rennen ständig überall. Er überraschte einige alte Cannondale-Drapac-Teamkollegen in der Lobby des Frontenac zu ihrer offenkundigen Freude. Er übergab die Preise in Québec City unter stürmischem Beifall. In Montréal hatte er in den VIP-Zelten an der Zielgeraden neue Freunde gewonnen und alte getroffen. Er sprang als Erster über die Bande und gratulierte seinem alten Cannondale-Teamkollegen Tom-Jelte Slagter. „Es ist eine kleine Kostprobe von der anderen Seite“, sagte Hesjedal in seinem tiefen und langsamen kanadischen Tonfall in seiner neuen Rolle als Ehrengast. „Das Format der drei Tage ist einfach fantastisch. Es gibt nichts Vergleichbares in der Welt. Es ist ein großartiges Ereignis – Hut ab vor den Organisatoren und allem, was erforderlich ist, um es durchzuführen. Ich bin so ein großer Fan, ich liebe den Sport immer noch“, sagte er allgemeiner. „Ich glaube, ich habe meine Karriere auf eine gute Art beendet. Ich habe nicht alle Verbindungen gekappt. Einige Leute mögen es so. Es war ein großer Teil meines Lebens.“
Kurz zuvor hatte festgestanden, dass Education First das Geld aufbringt, um Jonathan Vaughters’ Cannondale-Drapac-Team zu retten, dem wegen des Rückzugs eines Sponsors das Aus drohte. Es war das Team, bei dem er fast alle seine Erfolge feierte. „Es ist perfekt. Ich kann mir vorstellen, dass sie einige schwere Momente hatten. Ich glaube nicht, dass sie die Ersten waren, und ich glaube nicht, dass sie die Letzten waren“, sagte er weiter. „Es waren noch viele Jungs da, mit denen ich gefahren bin, und niemand will, dass sie Probleme haben, auch nicht die Mitarbeiter und die Leute, die hinter den Kulissen arbeiten. Diese Leute haben uns jahrelang unterstützt.“ Das ganze lange Wochenende konnte Hesjedal keine zwei Minuten durch die Gegend laufen, ohne dass ihm jemand auf die Schulter klopfte, oft ein „wirklich großer Fan“, der weitere Fragen für den Ehren-VIP der GPCQM-Rennen hatte. Hesjedal beantwortete alle liebenswürdig. Das Gewicht einer Nation war von ihm abgefallen.
 
Kreativer Geist
Der Mont Royal ist eine üppig grüne, 220 Meter hohe vulkanische Erhebung im Herzen von Montréal mit Panoramablick auf die streng rasterförmig gebaute Stadt. An einem kühlen, sonnigen Frühherbst-Sonntagmorgen strömen Menschen zu Fuß und auf dem Rad zu dem eisernen Kreuze auf seinem höchsten Punkt. Nachmittags, wenn es wärmer wird, tummelt sich ein hipperes Publikum auf den Wiesen weiter unten. Studenten von der nahe gelegenen McGill University hängen rum und genießen ihr Picknick. Auf den Stufen zum George-Étienne-Cartier-Monument beginnen die Tam-Tams, das wöchentliche Treffen der freien Geister. An Ständen werden gemusterte Stoffe und Hippie-Krimskrams verkauft. Der Geruch nach Marihuana ist stark und weht hinüber zu den Zuschauern, die sich nur wenige Meter weiter an der Ziellinie des GP Cycliste de Montréal drängeln. Im Mittelpunkt der Tam-Tams steht ein spontaner Trommlerkreis, der im Laufe des Nachmittags an Größe und Lautstärke gewinnt. Der Kurs in Montréal hat Geschichte. Er ist fast identisch mit der Strecke der Weltmeisterschaft 1974, die Eddy Merckx gewann. Zwei Jahre später fand hier das olympische Straßenrennen statt. Arsenault reaktivierte die Strecke für den GP des Amériques von 1988 bis 1992. Im Herzen all dieser Variationen ist die Côte de Camillien Houde, ein 1,8 Kilometer langer, acht Prozent steiler Anstieg, der 500 Meter nach dem Start beginnt. Auf halber Strecke des 12,1 Kilometer langen Kurses liegt die weniger steile Côte de la Polytechnique. Der Kurs ist ein Mix aus harten Abschnitten, aber mit Stellen zum Durchatmen – die perfekte Gestaltung für ein abwechslungsreiches Rennen.
Das Peloton absolviert 17 Runden. Verglichen mit Québec bietet sich die Route in Montréal mehr für kreative Schachzüge an. Der Sieger von 2014, Simon Gerrans, erklärte: „Hier haben sich einige verschiedene Szenarios entfaltet. Das Rennen diktiert das Ergebnis, nicht der Kurs.“ Auch Lotto-Soudal-Profi Tim Wellens, der das Rennen 2015 gewann, gefällt der Kurs hier wegen seiner kreativen Inspiration besser als der in Québec. „Québec ist mehr etwas für die Puncheure, Montréal für die Kletterer – aber die Puncheure können überleben, wenn sie einen guten Tag haben“, sagte Wellens. „Ich glaube nicht, dass der Sieger in Montréal Erfolg hatte, indem er mehr als eine Runde vor Schluss angriff, daher glaube ich, dass es wichtig ist, bis zur letzten Runde zu warten.“ Heute wuchs die Lautstärke der Trommeln analog zur Intensität des Geschehens auf der Straße, bevor es zur letzten, entscheidenden Selektion kam. Aber entgegen Wellens’ Erwartungen riss das Feld auf der vorletzten Runde des Polytechnique. Als die Glocke ertönte, hatte die sechsköpfige Gruppe um den späteren Sieger Diego Ulissi (UAE Emirates) 23 Sekunden Vorsprung auf ein unentschlossenes Peloton. Es war der erste Sieg des Italieners bei einem WorldTour-Eintagesrennen. Die Tam-Tams-Leute und die Zuschauer des Rennens hatten kaum Berührungspunkte. Aber die Trommeln, die Stadt im Spiel und die enthusiastischen Fans schufen ein Ambiente, das ein noch größeres Rennen gleich um die Ecke einläutete: die Weltmeisterschaft in Bergen. Und Montréal hatte das Vergnügen, ihnen die größte Kollektion von Kandidaten zukommen zu lassen.



Cover Procycling Ausgabe 165

Den vollständingen Artikel finden Sie in Procycling Ausgabe 165.

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