Angriff ist die beste Verteidigung

Tom Dumoulin, der Fahrer, der bald sein Rosa Trikot beim Giro d’Italia verteidigen wird, hat 2018 noch keine großen Resultate vorzuweisen. Doch auch nachdem Pech sein Frühjahr zunichtemachte, hat er nichts von seiner mentalen Stärke verloren. Procycling hat den Sunweb-Kapitän vor seiner Titelverteidigung in Italien getroffen.

 

Wie geht es dir nach den letzten Wochen?
Es geht mir jetzt besser, nachdem ich mich ein paar Tage zu Hause verkrochen hatte. Nach Tirreno-Adriatico habe ich mein Rad drei Tage nicht angefasst. Das ganze Pech hat mich emotional und physisch fertiggemacht. Ich hatte nicht die richtige Einstellung im Sattel, und konnte das ganze Pech, das ich hatte, nicht verarbeiten. Nach dem zweiten Sturz, bei Tirreno, dachte ich: Es hat überhaupt keinen Sinn mehr, wenn ich weitermache, wird alles noch schlimmer. Ich bin nach Hause gefahren, wo ich drei Tage lang eine schlechte Zeit, aber auch einige gute Momente hatte. Und dann rief Laurens ten Dam an: ‚Ich bin im Süden, lass uns zusammen trainieren‘. Zuerst habe ich ihm gesagt, dass ich mein Rad nicht angefasst hatte, dass es besser wäre, wenn ich alleine anfange zu trainieren. Aber schließlich fuhr ich mit ihm und Bram Tankink fünfeinhalb Stunden in den Ardennen. Ich bin total glücklich nach Hause zurückgekehrt.
Ich hatte viel Pech. Die Wunden von dem Sturz bei der Abu Dhabi Tour waren gerade erst verheilt, als sie bei meinem Sturz bei Tirreno wieder aufrissen. Es waren keine leichten Wochen zu Saisonbeginn. Ich wollte Leistung bringen – ich hatte einen sehr guten Winter, und das wollte ich zeigen. Aber manchmal kannst du das einfach nicht und schließlich setzt du dich noch mehr unter Druck. Shit, Pech. Nächstes Rennen. Wieder schlecht. Ich war vor Tirreno krank, und wieder wusste ich, dass es aussichtslos ist. Mental ist das eine große Herausforderung. Dass ich so hohe Erwartungen an mich selbst hatte, machte das Leben nicht leichter.

Würdest du es ein Desaster nennen?
Zuerst dachte ich das, ja. Aber nach Tirreno habe ich mir diese Frage gestellt, zumal ich mir nichts gebrochen hatte und ich eigentlich kein Rennen verloren hatte. Ich hatte einfach nicht die Resultate erreicht, die ich wollte. Ist das ein Desaster? Ich denke nicht. So würde ich es nicht nennen.

Hast du dir Sorgen gemacht, wie es weitergeht? Du konntest beim Zeitfahren in Abu Dhabi nicht glänzen, an den Zeitfahren bei Tirreno-Adriatico nicht teilnehmen und hast vor dem Giro keine weiteren Optionen mehr.
Ich bestreite nur Lüttich-Bastogne-Lüttich. Ich habe keine Resultate – das ist alles korrekt. Es hat nicht geklappt. Aber ich habe keine Angst. Ich habe mich in den letzten zehn Jahren selbst genug getestet. Ich weiß, was ich tun muss, ich brauche keine Bestätigung. Ich weiß, was ich bei einer Hügelankunft oder unter irgendwelchen anderen Bedingungen tun muss.

Du wirst wahrscheinlich gegen Fahrer wie Chris Froome antreten. Ist es nicht frustrierend, dass du keine Chance hast, dich mit ihnen zu messen?
Eigentlich nicht. Ich weiß, was ich kann, wenn ich fit bin und die richtige Einstellung habe. Ich brauche keine Bestätigung im Frühjahr. Der Giro d’Italia findet in einem ganz anderen Zeitraum statt. Das macht mir nicht die geringsten Sorgen.

Dein Vorbereitungs-Programm ist genau dasselbe wie 2017. Warum?
Mir haben die Rennen Spaß gemacht, die ich vor dem Giro gefahren bin. Es geht nicht darum, es wieder genauso zu machen, aber es gibt einfach nicht viele Alternativen. Wenn du es nur machst, weil es dir vorher schon einmal gute Resultate gebracht hat, wird es nicht funktionieren. Ich fahre dieselben wie letztes Jahr, aber es geht nicht darum, ob ich mich genauso fühle wie damals oder dass ich die Tage exakt genauso verbringe wie letztes Jahr. Ich versuche, so gut wie möglich zu sein. Ich sehe keinen anderen Plan. Ich mag die Tour de Romandie als letztes Vorbereitungsrennen nicht – sie ist zu nahe am Giro, und es ist mental und körperlich anspruchsvoll. Das Team fährt die Tour of the Alps nicht – das wäre eine tolle Vorbereitung gewesen. Die Tour de Yorkshire ist eine Woche später, das ist unmöglich. Sonst gibt es nichts, es gibt keine anderen Optionen, um sich auf den Giro vorzubereiten.
Das Höhentraining in der Sierra Nevada bildet einen wichtigen Teil der Vorbereitung. Im letzten Jahr wollte ich nach Teneriffa [auf den Teide] gehen, aber das Hotel war in dem angedachten Zeitraum ausgebucht.
Also habe ich Höhentraining in zwei Teilen gemacht: anderthalb Wochen auf Teneriffa und anderthalb in der Sierra Nevada. Das war schrecklich, dieser Stress … Jetzt mache ich das ganze Training in der Sierra Nevada, da das Hotel auf Teneriffa wieder komplett ausgebucht war.

Ende März 2017 hast du Procycling gesagt: ‚Ich denke noch nicht an den Giro d’Italia.‘ Hat sich das dieses Jahr geändert?
Eigentlich nicht. Ich denke nicht jeden Tag daran. Wenn du mich fragen würdest, was in der ersten Woche wichtig ist, könnte ich es dir nicht beantworten. Ja, ich weiß, dass es ein Zeitfahren in Jerusalem gibt und in Italien eine Bergankunft am Ätna ansteht. Das ist alles. Ich habe ein Profil des Rennens gesehen, aber im Moment ist es zu weit weg. Das Zeitfahren wird sehr speziell sein, darauf freue ich mich sehr. Letztes Jahr bin ich in den Giro gegangen und habe gedacht: Ich nehme es Tag für Tag. Ich fahre, so gut ich kann, und hoffentlich mache ich das gut. Ich muss es genießen, so sehr ich kann, ohne daran zu denken, was noch kommt oder wie ich mich unter diesen Bedingungen fühlen werde. Denk nur an dieses Klischee: Nimm es Tag für Tag. Das ist wieder mein Ziel. Würde es meine Leistung verbessern, wenn ich bereits an das Rennen denken würde?
Meine Einstellung könnte dieselbe sein, aber die Bedingungen werden ganz anders sein. Aber es liegt an mir, mit derselben Einstellung ins Rennen zu gehen. Das ist vielleicht sogar der Schlüssel.

Kann deine Einstellung dieselbe sein? Als amtierender Zeitfahr-Weltmeister?
Es ist schwieriger, der Druck ist höher. Das habe ich in den letzten Monaten gemerkt, und damit hatte ich zu kämpfen. Das war auch im letzten Jahr der Fall, nach dem Giro d’Italia. Ich will es anders machen als zuletzt. Aber es wird schwerer. Im letzten Jahr stand ich weniger unter Druck.

Was ist schwerer: Der erste Sieg oder der zweite?
Ich weiß nicht. Beides ist eine Herausforderung für sich. Mental ist es jetzt beim zweiten Mal schwieriger, aber mit der richtigen Einstellung bin ich gespannt, wie ich fahre.

Viele halten dich für Froomes größten Rivalen beim Giro und der Tour. Was denkst du?
Ich weiß nicht, ob wir Froome herausfordern, da nicht klar ist, ob er teilnehmen wird, wegen seines aktuellen Problems. Das perfekte ungetrübte Szenario wäre, dass wir beide anschließend die Tour fahren. Aber ob das passieren wird? Das wird sich erst nach dem Giro d’Italia entscheiden. Ich mache mir keine Gedanken darüber, ob ich Froome herausfordere oder jedes Jahr die Tour de France fahre. Ob ich Mehrfachsieger der Tour de France werde? Natürlich hoffe ich, die Gesamtwertung zu gewinnen, vielleicht schon in diesem Jahr, oder sonst in den kommenden Jahren. Das denke ich definitiv. Aber ich denke nicht: Wow, wie cool wäre es, die Tour de France so oft zu gewinnen wie Froome.

Ist ein Giro d’Italia in diesem Jahr mit Froome eine größere Herausforderung?
Er hat gezeigt, dass er der beste Tour-Fahrer der letzten Jahre war; ihn zu schlagen wäre definitiv eine Herausforderung. Ich weiß nicht, ob es das Rosa Trikot wertvoller machen würde, wenn ich Froome schlagen würde. Nicht unbedingt. Aber es ist schwerer zu gewinnen.

Du hast über die Froome-Frage gesprochen, tust es aber nicht mehr. Glaubst du es ist besser, es zu tun?
Ich versuche es nicht zu tun. Ich habe versucht, mich davon zu distanzieren. Ich habe nie meine Meinung zu dem Fall gesagt. Ich habe nur etwas über seine Teilnahme an Tirreno-Adriatico gesagt. Ich habe nicht einmal die Tatsache verurteilt, dass er dabei war, aber trotzdem wurden meine Worte aus dem Kontext gerissen. Das einzige, was ich gesagt habe, war, dass ich als Mitglied der MPCC – der Sunweb angehört – nicht dabei gewesen wäre. Davon abgesehen halte ich meine Distanz zu dem Thema. Und das werde ich auch weiter tun. Ich finde es gut, dass wir Mitglied der MPCC sind. Und wenn ich mich an die Regeln halten müsste, hätte ich kein Problem damit, selbst wenn ich wüsste, dass ich nichts falsch gemacht habe. Denn positiv ist positiv, ob es dir gefällt oder nicht. Du hast vielleicht später eine gute Erklärung dafür. Aber wenn du positiv bist, ist es besser, kein Rennen zu fahren. Ich schätze klare Regeln und halte mich gerne daran.

Du musst dich kontinuierlich steigern, um konkurrenzfähig zu sein. An welchen Fronten?
Die Hauptsache ist, dass es dir weiter Spaß macht. Ich habe kein Gewicht verloren, um schneller zu klettern. Ich trainiere immer noch genauso. Ich kann nur hoffen, dass ich meine physische Kraft wiedererlangt habe und reifer geworden bin. In den letzten Monaten haben wir keinen Teil meines Trainings gefunden, der entscheidend für meine Resultate wäre.

Hast du dein Magenproblem gelöst?
Wir haben im Winter Tests gemacht, aber keine wirkliche Lösung gefunden. Du musst jeden Tag 6.000 bis 7.000 Kalorien zu dir nehmen; dein Körper ist dafür einfach nicht geschaffen und muss zudem die physische Belastung aushalten. Wenn du dich nicht an deine Ernährung hältst, kannst du Probleme bekommen. Und das war bei mir so. Ich erinnere dich an die Tour, wo ich schnell in einem Wohnmobil verschwinden musste [um auf Toilette zu gehen]. Mein Körper tut sich schwer, die Nahrung in Kombination mit der physischen Anstrengung zu verarbeiten. Aber bis jetzt hatte ich keine Probleme.

 

Dann hattest du dieses Jahr das Problem mit der elektronischen Schaltung am Zeitfahrrad.
In den letzten Monaten gab es mehr Probleme, auf die ich keinen Einfluss hatte und die gelöst werden mussten. Das schafft Unsicherheit, weil du alles unter Kontrolle haben willst. Was sollte ich tun? Ich habe dem Team gesagt, was passiert ist, und dann musste das Team es lösen. Ich kann mich nicht darum kümmern. Ich kann nicht meinen eigenen Mechaniker engagieren.

Doch, du kannst …
Nein, nein.

Vertraust du deinem Material noch?
Ja, natürlich. Jeder macht Fehler. Es ist nur in diesem Jahr zu oft passiert. Das Team muss sich darum kümmern. Unfälle kommen vor. Aber wenn es ein strukturelles Problem ist, musst das Team es lösen.

Würdest du dich mit deinen eigenen Mitarbeitern nicht wohler fühlen?
Das hätte seine eigenen Nachteile. Unser Team arbeitet nicht so. Ich weiß, dass viele andere Kapitäne das haben. Cancellara hatte immer seinen eigenen Mechaniker und eigenen Soigneur. Viele Kapitäne haben das. Aber das führt zu einem Ungleichgewicht: der Kapitän und das A-Team haben die Besten. Das führt zu Eifersucht. Und das ist die Stärke unseres Teams: Wir haben Spaß zusammen, tun alles füreinander und verbringen gerne Zeit miteinander. Es gibt viele Teams, wo sie sich nicht zusammen zum Essen an einen Tisch setzen können. Das ist lächerlich. Es ist positiv, dass wir ein Team sind.

Beim Giro bekommst du es mit dem Zoncolan und Finestre zu tun. Hast du Angst, wenn man bedenkt, dass du letztes Jahr vom Rad steigen und den Darm entleeren musstest?
Von diesem Toiletten-Zwischenfall werde ich meinen Enkeln noch erzählen können. Ich bin froh, dass ich den Giro deswegen nicht verloren habe. Ich habe daraus gelernt. Ich habe gelernt, bis zum Schluss zu kämpfen. Diese Dinge nehme ich mit in die nächsten Rennen. Ich fühlte mich bei Tirreno nicht gut, weswegen ich Angst hatte, in den Bergen zu leiden oder zurückzufallen. Aber davor habe ich beim Giro keine Angst, egal, welchen Berg wir in Angriff nehmen müssen. Jeder Fahrer bekommt es mit denselben schweren Bergen zu tun.

Wie wirst du Froome schlagen? Oder konzentrierst du dich jetzt mehr darauf, wie du die Tour gewinnst?
Ich hoffe, die Zeitfahren zu gewinnen [1. und 16. Etappe]. Dann wird er mich in den Bergen angreifen müssen, und da müssen wir einfach abwarten und sehen. Ich bin definitiv ein besserer Zeitfahrer als er, und dann muss er versuchen, mir bergan zu folgen.

Letztes Jahr war die Stärke deines Teams ein Thema.
Ja und ich teile diese Sorgen. Wir haben nicht das Budget von Team Sky oder nicht so viel Geld wie BMC. Wir haben ein Team, das auf dem Papier physisch nicht sehr stark ist. Aber wir können mit den anderen Teams konkurrieren, indem wir cleverer sind als sie und uns gegenseitig mehr unterstützen als andere Teams. In diesem Jahr werde ich kein Wort darüber verlieren, aber wenn du dir das Aufgebot anschaust, haben wir ein sehr starkes Team. Aber was diese Bedenken angeht: Im letzten Jahr war Quintana in den Bergen zum Schluss auch alleine. Andrey Amador war meistens noch bei ihm. Alle sagten, mein Team war nirgendwo zu sehen. Aber wo waren die Teamkollegen von Quintana an dem Tag, wo es mit dem Monte Grappa losging? Er war als Einziger übrig. Es ist unglaublich schwierig zu kontrollieren, was auf solchen Etappen passiert. Nur Sky hat bewiesen, dass sie das können. Aber wir vergleichen uns nicht immer mit Sky.



Cover Procycling Ausgabe 171

Den vollständingen Artikel finden Sie in Procycling Ausgabe 171.

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