Verlieren ja – Aufgeben nie

Felice Gimondi, der in diesem Sommer starb, war einer der größten Radrennfahrer aller Zeiten. Der in Italien lebende Journalist Herbie Sykes erinnert an zehn prägende Momente eines ungewöhnlichen Lebens.

 

Am Abend des 16. August wurde bekannt, dass Felice Gimondi in Sizilien einen Herzinfarkt erlitten hatte. Gimondis Gesundheit war Grund zur Sorge für seine Familie und Freunde, seit er vor fünf Jahren beim Radfahren gestürzt war, aber wenn er etwas war, dann zäh. Er stürzte 2017 wieder, fuhr aber weiter mit seiner radsportverrückten Tochter und war mit 76 einer der beliebtesten ehemaligen Spitzensportler seines Landes. Dass die fußballfokussierte Gazzetta dello Sport ihre gesamte Titelseite seinem Ableben widmete, war bezeichnend für seinen Rang im Land. Seit Gino Bartalis Tod im Jahr 2000 war Gimondi zweifellos Italiens prominentester Radsportler gewesen. Aber er war viel mehr, als sein Palmarès über ihn aussagt. Wie alle echten Champions war er größer als die Rennen, die er gewann, und sogar größer als der Sport, den er ausübte. Mit Ausnahme von Bartali und dessen Erzrivalen Fausto Coppi war kein Radrennfahrer je so synonym mit einem Moment in der Zeit gewesen. Obwohl die gregari, die für ihn fuhren, seinen Führungsstil nicht einhellig lobten, war Gimondi privat ein netter Mensch. Es wurde viel geschrieben über seine Rivalität mit Eddy Merckx, und Geschichten über ihre Duelle und ihre spätere Freundschaft gibt es zuhauf. Einige stimmen, einige sind übertrieben und einige sind erfunden von der übersättigten Radsportpresse Italiens, aber selbst das ist bezeichnend. Es ist bezeichnend, weil Gimondis Legende, wie die so vieler Superhelden des Sports, so überzeugend ist, dass die rauen Kanten im öffentlichen Bewusstsein abgeschliffen wurden. Was bleibt, ist – wie immer – das Wesentliche: seine Eleganz auf dem Rad, sein Anstand in der Niederlage, seine Entschlossenheit angesichts des übermächtigen Merckx … Diese klassischen Leitmotive mögen hier und dort ausgeschmückt worden sein, aber sie existieren im Prinzip, weil sie auf Tatsachen beruhen. Andererseits müssen wir, um Gimondis anhaltende Popularität zu verstehen, über die Medienkonstrukte und die bequemen David-gegen-Goliath-Klischees hinausblicken. Um seine Leistungen und sein sportliches Vermächtnis zu würdigen, müssen wir uns kurz den sportlichen und gesellschaftlichen Kontext ansehen, in dem er aufwuchs.

In den frühen 1960ern war der italienische Radsport in einer schwierigen Situation. Das Nachkriegs-Duopol aus Coppi und Bartali hatte die Tifosi verwöhnt, aber jetzt hatte das „Goldene Zeitalter“ lange seinen Lauf genommen. Die, die danach gekommen waren, konnten nicht dieselbe Spannung erzeugen, und obwohl sie per Definition gute Rundfahrer waren, waren sie keinesfalls großartige. Gastone Nencini war ein Antiheld gewesen und Arnaldo Pambianco ein Opportunist, während Franco Balmamion zwei Rosa Trikots gewonnen hatte, indem er sie nicht verloren hatte. Unterdessen dominierte Jacques Anquetil die Tour und die belgischen Klassiker. 1965, das Jahr, in dem Gimondi Profi wurde, hatte seit zwölf Jahren kein einheimischer Fahrer mehr Mailand–San Remo gewonnen. Radsport auf höchstem Niveau war im Wesentlichen eine Sache von drei Ländern, und Italien war darunter das Schlusslicht. Unterdessen hatte Italiens Wirtschaftsboom der Nachkriegszeit die Art, wie das Land handelte und dachte, fundamental verändert. Die Amerikaner hatten Angst vor einer Ausbreitung des Kommunismus in Europa, und Italien war eines der Länder mit der höchsten Ansteckungsgefahr. „Uncle Sam“ hatte Millionenkredite gegeben in dem Versuch, sie einzudämmen, und das meiste war auf den Konten eines vier Unternehmen umfassenden Kartells gelandet. Fiat und Pirelli hatten es genutzt, um Autos und Reifen herzustellen, der Mineralölkonzern Eni, um sie mit Treibstoff zu versorgen, und Italcementi, um die neuen Autobahnen zu bauen, auf denen sie fuhren. So begannen die Motorisierung des Landes und der rasche Niedergang der Radsportbranche. Die Absätze brachen ein, und natürlich waren Radrennen die logische Fortsetzung des alltäglichen Radfahrens. Zudem hatte das Aufkommen des Fernsehens Stadionsportarten wie Fußball und Boxen gefördert. Radsport war unmöglich einzuplanen, man hatte nicht die Technik, um angemessen davon zu berichten, und es gab nur einen Fernsehsender. Fußballspiele waren perfekt, weil sie immer pünktlich anfingen und pünktlich aufhörten und es immer eine Werbepause nach 45 Minuten gab. Die Spiele fanden statt, wenn die Fabriken geschlossen und die Zuschauermengen da waren, während die folgenden Nachrichtensendungen immer pünktlich begannen. Fußball war beschränkt, unmittelbar und einfach, aber auch ein billiges und leichtes Produkt. Es hatte alles Televisuelle, was der Radsport nicht hatte, und sein unaufhaltsamer Aufstieg zur Sportart Nummer eins war eine direkte Folge.

Italien hatte gut ein Jahrzehnt nach einem neuen Coppi gesucht. Ercole Baldini hatte den Giro d’Italia und die Weltmeisterschaft gewonnen und den Stundenweltrekord gebrochen, aber nach zwei stratosphärischen Jahren war er untergegangen. Romeo Venturelli war unglaublich stark, aber stinkfaul, während der arme Italo Zilioli den ganzen Druck nicht aushielt. Als er im Spätsommer 1963 vier Halbklassiker in Folge gewonnen hatte, war ganz Italien davon überzeugt, er sei die Wiederkunft des Herrn. Aber Zilioli war zu zart besaitet. Er litt unter Schlaflosigkeit, hasste das Interesse der Medien und mochte seinen Sport am Ende nicht mehr. Die Hoffnung währet ewiglich im italienischen Radsport, und zwei extrem talentierte Youngster hatten in der Lombardei für Furore gesorgt. Der blonde Mailänder Gianni Motta und der junge Gimondi aus Bergamo waren so unterschiedlich wie Tag und Nacht, sie mochten sich nicht, und sie waren Lokalrivalen. Motta unterschrieb 1964 einen lukrativen Profivertrag bei Molteni, aber Gimondi blieb Amateur in der Hoffnung, bei Olympia in Tokio zu gewinnen. In der Vorbereitung gewann Gimondi die Tour de l’Avenir, und als er Kurs auf Japan nahm, galt er als Mitfavorit neben einem jungen Belgier namens Édouard Merckx. Aber bei dem Straßenrennen in Tokio neutralisierten sich die beiden gegenseitig, und als sie das nächste Mal zusammen an der Startlinie standen, waren sie Profis. Gimondi hatte bei Salvarani unterschrieben, während Merckx zu Rik Van Looys Solo Superia gegangen war. Der Rest ist, wie man so schön sagt, Geschichte …

Tour de France 1965
Nach einem superben dritten Platz beim Giro wurde ein 22 Jahre alter Gimondi vom Salvarani-Sportdirektor Luciano Pezzi gebeten, die Tour zu fahren. Anquetil nahm nicht teil und Salvaranis Giro-Sieger Vittorio Adorni sollte Raymond Poulidor Konkurrenz um das Gelbe Trikot machen. Pezzi versicherte Gimondi, dass er Erfahrung sammeln und jederzeit aus dem Rennen aussteigen könne. Doch Gimondi gewann die 3. Etappe (sein erster Profisieg) und damit das Gelbe Trikot. Dann fuhr er ein sensationelles Zeitfahren, aber er verlor das Trikot, als auf der 7. Etappe die Ausreißer durchkamen. Zwei Tage später erreichten sie die Pyrenäen und Adorni gab am Aubisque auf. Gimondi holte sich das Trikot zurück und ging mit einem Vorsprung von 3:12 Minuten auf Poulidor in die Etappe zum Ventoux. Aber er brach ein und sein Vorsprung schrumpfte auf 34 Sekunden. Ganz Frankreich war überzeugt davon, dass er in den Alpen kollabieren würde, doch Gimondi schüttelte Poulidor am Izoard ab und deklassierte ihn im Zeitfahren zum Mont Revard. Dann riss er das Rennen am Nationalfeiertag mit einem sensationellen Zeitfahren zum Parc des Princes an sich. Dabei brach er 50 Millionen französische Herzen und eroberte 50 Millionen italienische. Italien hatte seinen sportlichen David (und neuen Fausto Coppi), und durch ihn entdeckte das Land die Schönheit des Radsports neu.

Lombardei-Rundfahrt 1966
Nach dem Erfolg des 20 Jahre alten Merckx in San Remo gewann Gimondi Paris–Roubaix mit einem packenden Solo-Angriff bei strömendem Regen. Er attackierte 35 Kilometer vor dem Ziel und gewann unter einer Kruste glorreichen Schlamms von Roubaix mit vier Minuten Vorsprung. In der folgenden Woche machte er es erneut und gewann Paris–Brüssel als Solist. Gimondi wollte sich auf die Verteidigung seines Gelben Trikots konzentrieren, aber die Veranstalter des Giro überredeten Salvarani zur Teilnahme. Gimondi war so beliebt, dass sie ihm ein Zeitfahren anboten, das direkt vor ihrer Fabrik begann und endete. Man erwartete, Gimondi werde Anquetil herausfordern, aber stattdessen dominierte Motta das Rennen. Plötzlich hatte Italien eine starke neue Generation und mit Motta und Gimondi zwei unverbrauchte junge Champions. Die Rivalität zwischen ihnen war erbittert, und ihre jeweiligen Teams, Molteni und Salvarani, investierten massiv in den Sport. Radsport war in Mode und Gimondi sein Posterboy. Er schlug Merckx im Sprint bei der Coppa Agostoni, und drei Tage später lieferten sie sich bei der Lombardei-Rundfahrt einen packenden Kampf. Sechs der Besten kamen zusammen im Velodrom von Como an, und Merckx schien der Favorit zu sein. Aber er war hinter Poulidor eingeklemmt, und Gimondi setzte sich mit einem fulminanten Sprint durch. Mit 24 war er der kompletteste und begehrteste junge Radsportler auf dem Planeten; er schien Rennen unter allen Bedingungen gewinnen zu können.

Giro d’Italia 1967
Es war der 50. Geburtstag des Giro, und viel hing davon ab. Merckx nahm das erste Mal teil, aber alle Augen waren auf den großen Anquetil und seinen designierten Nachfolger Gimondi gerichtet. Italien verlangte einen einheimischen Sieger, und der Sieger, den es verlangte, war Felice Gimondi. Das Rennen entwickelte sich zu einem titanischen Dreikampf zwischen den beiden und Balmamion. Am letzten Donnerstag endete die Etappe an den Tre Cime di Lavaredo, einem monströsen neuen Anstieg in den Dolomiten. Bei biblischem Wetter gewann Gimondi, aber die Etappe wurde wegen exzessiven Anschiebens durch die Tifosi annulliert. Vor der 20. Etappe hatte Anquetil 34 Sekunden Vorsprung auf Gimondi, Balmamion war 13 Sekunden dahinter. Gimondi griff am Beginn des Passo Tonale an, und aus irgendeinem Grund reagierten weder Anquetil noch sein Helfer Lucien Aimar. Ebenso wie Balmamion und Motta, sein Molteni-Teamkollege, nahmen sie die Beine hoch. Das erschien merkwürdig, aber egal … Gimondi segelte davon und inmitten eines Höllenlärms in die Maglia Rosa hinein, die er an den letzten beiden Tagen bis Mailand trug. Der 50. Giro hatte das Happy End, das er verdiente: einen italienischen Sieger, den alle wollten. Dann griff einen Monat später Balmamion beim Straßenrennen um die italienische Meisterschaft an. Salvarani ließ ihn ohne Widerstand in die Maglia Tricolore fahren, und so hieß es wohl: Ende gut, alles gut.

Giro d’Italia 1968
Indem er die Vuelta a España 1968 gewann, tat es Gimondi, ein fuoriclasse, Anquetil nach und gewann alle drei großen Rundfahrten. Beim anschließenden Giro schien ihm niemand gefährlich werden zu können, weil Anquetil verbraucht war, Motta nicht in Form und Ziliolis Kreativität beim Verlieren von Radrennen unendlich schien. Merckx ging als Mitfavorit ins Rennen. Die wachsende Beliebtheit des Radsports hatte Faema, das Mailänder Kaffeeunternehmen, wieder in den Sport gelockt. Die Firma griff tief in die Tasche, um den Belgier unter Vertrag zu nehmen, und er schien Rennen fast nach Belieben zu gewinnen. Mit Adorni als gregario di lusso gewann er die Tour de Romandie, aber es bleiben Zweifel. Merckx war unangreifbar bei den Frühjahrsklassikern, aber es war nicht abzusehen, dass er es über drei Wochen mit Gimondi würde aufnehmen können. Die 12. Etappe führte einmal mehr zu den Tre Cime di Lavaredo. Adorni drängte Merckx, taktisch zu fahren, aber am Misurinasee konnte er nicht mehr warten. Er attackierte und nahm einem schockierten und untröstlichen Gimondi fünf Minuten ab. Italiens Held besserte mit einem Sieg im Zeitfahren nach, aber Merckx war unersättlich. Er verschlang die Gesamtwertung, die Punkte- und Bergwertung, und trotzdem gab sich Italien noch der Illusion hin, es wäre nur ein schlechter Tag gewesen. Gimondi hakte es als Erfahrung ab, beendete das Rennen als Dritter und beschloss, es wiedergutzumachen.

Katalonien-Rundfahrt 1968
Mittlerweile hatte Merckx Motta als Hauptrivale von Gimondi abgelöst. Er gewann erstaunlich viele Rennen, aber Gimondi war unerschütterlich in seinem Glauben, dass er der stärkere Zeitfahrer und der Giro ein Ausrutscher war. Bei der Katalonien-Rundfahrt gab es ein 45 Kilometer langes Zeitfahren zwei Tage vor Schluss, und nach einer Saison voller knapper Niederlagen war es eine Möglichkeit, vor der Weltmeisterschaft die Moral zu stärken. Die beiden lösten sich im Spitzenreitertrikot ab, aber am Vorabend des Zeitfahrens führte Gimondi mit fünf Sekunden. Man rechnete damit, dass er seinen Vorsprung ausbauen würde, erst recht, als Merckx zu Beginn der Etappe einen Plattfuß hatte. Aber dann stürmte Merckx zum Etappensieg und ins Leadertrikot. Die Volta war ein mittelgroßes Etappenrennen weit weg von zu Hause. Wenige Leute in Italien erinnerten sich, wer es gewonnen hatte, aber das war nicht der Punkt. Der Punkt war die Art der Niederlage, denn die war demoralisierend für Gimondi. Er war ein großartiger Fahrer, aber er musste sich an das Leben im Schatten des „Kannibalen“ gewöhnen.

Giro d’Italia 1969
Nach Gimondis Sieg bei der Tour de Romandie schwärmte die italienische Presse von seiner rivincita, seiner Vergeltung. Er versprach, beim Giro weniger passiv zu sein, Eddy herauszufordern und sich nicht die Butter vom Brot nehmen zu lassen. Alle vergaßen praktischerweise, dass Merckx die Tour de Romandie nicht gefahren war; als Formbarometer war das Resultat also wertlos. Als das Rennen begann, war Merckx unangreifbar. Er gewann die Etappen 3, 4 und 7 und schlug Gimondi in einem 50-Kilometer-Zeitfahren nach San Marino auf der 15. Etappe. Es war eine Kopie der Prüfung, die Gimondi im Vorjahr gewonnen hatte, und unterstrich die unbequeme Wahrheit über ihren Karrierebogen. Merckx war drei Jahre jünger als Gimondi, ihm aber als Rennfahrer Lichtjahre voraus. Er trug Rosa, und es war fast unvorstellbar, dass Gimondi – oder sonst jemand – es ihm in den Dolomiten würde abnehmen können. Vor der partenza der 16. Etappe in Savona wurde bekannt, dass Merckx positiv auf das Stimulanzmittel Fencamfamin getestet worden war. Er wurde vom Giro ausgeschlossen, und die Radsportwelt stand Kopf. Während der Belgier untröstlich in seinem Hotelbett lag, versuchte Gimondi Hilfe anzubieten. RAI übertrug die ganze Episode bahnbrechend in Echtzeit, und als sich der Staub gelegt hatte, gewann Gimondi einen zweiten Giro. Viele hielten es für einen Pyrrhussieg, aber im Zeitalter von Merckx konnte man nicht wählerisch sein.

 

Weltmeisterschaft 1973
Es war vier Jahre her, dass Gimondi Merckx bei einem wichtigen Rennen geschlagen hatte. Natürlich gewann Merckx nicht jedes Rennen, bei dem er antrat, aber während Niederlagen gegen eher unbekannte Fahrer gerade noch hinnehmbar waren, war die Möglichkeit, gegen Gimondi zu verlieren, eine Horrorvorstellung. Merckx respektierte ihn zu sehr, um das zuzulassen, aber die Kosten für den italienischen Radsport waren unberechenbar. Der Kampf war so ungleich, dass sogar Salvarani aufgab, und so fuhr der mittlerweile 30 Jahre alte Gimondi in kleinerem Rahmen bei Bianchi. Obwohl er ein unglaublicher Rennfahrer war, wurde seine Karriere wie die seiner Zeitgenossen durch Merckxissimo zerstört. Gimondi verbrachte die besten Jahre seines Lebens damit, Rennen zu fahren, um Zweiter zu werden oder, wenn man so will, Erster unter Gleichen zu sein. Es war unwahrscheinlich, aber auf einem so brutalen Kurs wie dem der Weltmeisterschaft in Barcelona war Gimondi praktisch die einzige Chance, die die Azzurri hatten. An einem brütend heißen Nachmittag näherten sich er und Merckx zusammen mit dem Spanier Luis Ocaña und dem flämischen Topsprinter Freddy Maertens der Ziellinie. Maertens eröffnete den Sprint, aber aus irgendeinem Grund kam Merckx nicht an ihm vorbei. Unerklärlicherweise brach er ein und Ocaña verließen vollkommen die Kräfte. Als Maertens langsamer wurde, löste sich das alte Schlachtross Gimondi aus seinem Windschatten – und gewann!

Mailand–San Remo 1974
Gimondi hatte einen goldenen Herbst seiner Karriere. Nach dem Wunder von Barcelona gewann er die Piemont-Rundfahrt und gewissermaßen die Lombardei-Rundfahrt. Merckx war eigentlich vier Minuten vor ihm über die Linie gefahren, wurde aber wieder positiv getestet, und wieder war „Felix“ der Beste vom Rest. Eine Grippewelle ging durch das Peloton von Paris–Nizza 1974, und Merckx fand es sinnlos, bei San Remo überhaupt an den Start zu gehen. Auch Gimondi litt unter dem Wetter, aber ungeachtet seiner Bronchitis beschloss er, es zu versuchen. Sein Sportlichter Leiter Giancarlo Ferretti sah Chancen für ihn: „Es passiert etwas. Er ist wütender und konzentrierter, als ich ihn je gesehen habe.“ Tirreno-Sieger Roger De Vlaeminck startete als Favorit, und in Abwesenheit von Merckx war das Rennen offener. Eine 18-köpfige Gruppe setzte sich ab, und Gimondi attackierte am Fuß des Poggio. Er fuhr den Hügel genau so hoch wie Merckx ihn gefahren wäre, wäre er dabei gewesen, und so sehr sie es auch versuchten, konnten die Verfolger ihn nicht mehr stellen. Er gewann endlich die Classicissima bei seinem zehnten Versuch, und Italien feierte ihn.

Giro d’Italia 1976
Merckx war wieder beim Giro dabei, aber er ächzte. Er begann Rennen zu verlieren, und Baronchelli, Moser und Bertoglio waren die kommenden Männer. Gimondi, mittlerweile 33 und der große alte Mann des italienischen Radsports, stand vor seiner zwölften Teilnahme. Merckx hatte eine Entzündung am Gesäß und es stellte sich heraus, dass die neue Generation auf tönernen Füßen stand. Wundersamerweise war es Gimondi, der das italienische Kontingent anführte, und er lieferte sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit Johan De Muynck. Mit jedem Tag strömten mehr Italiener an den Straßenrand: Aber er konnte doch nicht … nicht in seinem Alter … Am letzten Samstag endete die letzte Etappe in Bergamo, Gimondis Heimatstadt. De Muynck stürzte in der Abfahrt vom Zambla und fuhr blutüberströmt ins Ziel. Gimondi gewann die Etappe vor einer delirierenden Menschenmenge, aber der Belgier behielt die Maglia Rosa. Dann kam das abschließende Zeitfahren. De Muynck startete mit 25 Sekunden Vorsprung, aber er hatte nicht geschlafen und konnte die Gänge nicht treten. Gimondi konnte es und stürmte zu einem unvergesslichen dritten Giro-Titel. Er hatte die jungen Wilden geschlagen, Bartalis drei Siege eingestellt und vor allem Merckxissimo überdauert. Es war verrückt.

Sechstagerennen Mailand 1979
Das Sechstagerennen steckte in finanziellen Schwierigkeiten, aber als Gimondi seinen Start bestätigte, begann ein veritabler Ansturm auf die Eintrittskarten. Obwohl nicht offiziell, war es ein offenes Geheimnis, dass dies seine Abschiedsvorstellung war. Mit 36 war Gimondi auf der Straße nicht mehr konkurrenzfähig, und er wollte sich nicht mit einer Nebenrolle begnügen. Gimondis Anziehungskraft war alterslos, und so wollten ganze Familien – Generationen von ihnen – anwesend sein. Er bildete ein Duo mit dem altehrwürdigen Patrick Sercu, während Francesco Moser, der neue Liebling des italienischen Radsports, gemeinsam mit dem Spezialisten René Pijnen startete. Am fünften Abend war es zu einer Prozession verkommen und drohte hässlich zu werden. Das Publikum war nicht zufrieden, weil es glaubte, dass Moser mehr Respekt zeigen sollte. Er sollte Gimondi einen letzten Sieg, einen letzten Triumph gönnen. Moser wollte nichts davon wissen. Wie Gimondi war er Rennfahrer, und so, wie er es sah, war das Gegenteil der Fall. Gimondi gewinnen zu lassen, wäre eine Herabwürdigung eines großen Champions, und so machten er und Pijnen weiter. Gimondi pflichtete ihm bei und wollte es nicht anders haben, wie er sagte. Er brauchte Mosers Wohltätigkeit nicht und auch nicht unbedingt einen weiteren Sieg. Er würde sein letztes Rennen vielleicht nicht gewinnen, aber das war nebensächlich. Was zählte – und was er Millionen Italienern beigebracht hatte –, war der Wert der Ausdauer. Durch ihn haben sie gelernt, dass es in Ordnung ist zu verlieren, aber auf keinen Fall, sich geschlagen zu geben.



Cover Procycling Ausgabe 189

Den vollständingen Artikel finden Sie in Procycling Ausgabe 189.

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