Der stille Favorit

Spätestens mit seiner Attacke in den finalen Kehren des Col du Tourmalet fuhr Emanuel Buchmann ins Rampenlicht des Weltradsports. Procycling besuchte den Viertplatzierten der diesjährigen Tour de France in seiner Heimat am Bodensee und ging der Frage nach: Hat Deutschland 13 Jahre nach dem unrühmlichen Karriereende von Jan Ullrich wieder einen Tour-Favoriten?

 

Immer steiler, wie eine unüberwindbare Wand, baut sich die schmale Bergstraße auf. Doch dem einsamen Radfahrer, der sich auf dem grauen, vom Regen nassen Asphaltband mit jeder Pedalumdrehung weiter nach oben schraubt, scheint dies nichts auszumachen. Anmutig und trotzdem kraftvoll kurbelt er gegen die Steigung an, abwechselnd im Sitzen und im Stehen, den Blick konzentriert nach vorne gerichtet. So, als würden die Gesetze der Schwerkraft für ihn nicht gelten, als wären die Angaben der Steigungsprozente auf den Schildern am Straßenrand nur eine belanglose Zahlenspielerei. Höher und höher klettert der Pedaleur in Richtung Gipfel – bis er schließlich zwischen den die Baumwipfel durchziehenden Nebelschwaden verschwindet. Die Berge, das erkennt man auf den ersten Blick, sind Emanuel Buchmanns Lieblingsrevier – und das am liebsten so lang und so steil wie möglich. Auch an jenem verregneten Septembermorgen, als wir ihn zum Interview in seiner Heimat an der deutsch-österreichischen Grenze nahe des Bodensees besuchen, gehören sie wie selbstverständlich zu seiner Trainingsstrecke. Kilometer für Kilometer pedaliert der junge Deutsche im schwarz-türkisen Trikot seiner Mannschaft Bora–hansgrohe durch die an jenem Tag nebelverhangene Alpenlandschaft, gänzlich unbeirrt von den widrigen Witterungsbedingungen. Es ist ein kühler Herbsttag, die Strecke ist nass, wie scharfe Messer schneiden die schmalen Reifen seiner Rennmaschine durch den dünnen Wasserfilm auf der Asphaltoberfläche. Buchmann trägt eine langärmlige Windjacke, in eine seiner Trikottaschen hat er ein Paar Winterhandschuhe eingesteckt. „Emanuel wer?“ Es ist noch gar nicht so lange her, dass nur langjährige Radsportfans den Namen des Profis aus dem süddeutschen Ravensburg kannten. Doch spätestens seit der diesjährigen Tour de France hat sich „Emu“, wie er von seinen Fans in der Heimat liebevoll genannt wird, in die Topliga des internationalen Profiradsports katapultiert. Mit einer Attacke in den letzten Kehren des Col du Tourmalet im Finale der 14. Etappe distanzierte er nicht nur den amtierenden Tour-Champion Geraint Thomas, sondern auch zahlreiche weitere namhafte Tour-de-France-Profis. Auch im weiteren Verlauf der Frankreich-Rundfahrt gehörte der 25-Jährige stets zu den Besten: Am Ende lag er als Vierter nur 1:56 Minuten hinter dem Sieger Egan Bernal, das Podium der Tour 2019 verpasste er um gerade mal 25 Sekunden. Es war die erste Top-Ten-Platzierung eines deutschen Radprofis beim größten Radrennen der Welt seit zehn Jahren, als Andreas Klöden bei der Frankreich-Rundfahrt 2009 Platz sechs belegt hatte. Es kommt daher nicht überraschend, dass Buchmann in einem Land, das ansonsten vor allem für seine schnellen Sprinter wie Pascal Ackermann, André Greipel oder Marcel Kittel bekannt ist, erstmals seit Langem wieder für Tour-de-France-Fieber gesorgt hatte.

Kein Mann fürs Rampenlicht
Ein Trubel, der ihm eigentlich gar nicht so recht ist. Buchmann ist keiner, der gerne im Rampenlicht steht. In Interviews gibt er sich meist kurz angebunden, nur selten huscht ihm ein leichtes Lächeln über die Lippen. Gerade diese Mischung aus ehrlicher Schüchternheit und Understatement ist es allerdings, die ihm im Zusammenspiel mit seinen sportlichen Leistungen im Laufe der diesjährigen Tour bei vielen Radsportfans hohe Sympathiewerte eingebracht hat. Trotzdem, das betont er bei seinen Interviews immer wieder, werde er nie jemand sein, der sich gerne vor der Kamera präsentiere. Vielmehr sei er jemand, der sich lieber auf dem Fahrrad mit Pedaltritten als abseits des Sattels in Worten ausdrückt. Es ist daher kein Zufall, dass wir ihn bei unserem Treffen am Bodensee zuerst auf einer Trainingsfahrt in seiner Heimat begleiten. Fünf Stunden stehen auf dem Plan: in der ersten Hälfte Bergintervalle mit Tempowechseln an seinem Lieblingsberg, dem Pfänder – dem Ort, an dem er auch schon im Vorfeld der Tour de France oftmals an seinen Kletterfähigkeiten gearbeitet hat. Im zweiten Teil erfolgt ein lockeres Ausrollen im Grundlagentempo durch die hügelige Bodenseelandschaft. Dazwischen: ein Stopp in einem Café in seinem Heimatort Lochau, einer typisch österreichischen Gemeinde mit Alpenpanorama. Buchmann bestellt Curry mit Reis, dazu Mineralwasser. Als Vorspeise gibt es – passend zum verregneten Wetter – eine heiße Suppe. Was seine Motivation sei, auch an so einem kühlen Herbsttag am Saisonende, wo viele Radprofis bereits über ihre Winterpause nachdenken, noch so konsequent sein Training abzuspulen, wollen wir wissen. „Ich fahre einfach gerne Rad“, gibt er mit einem sympathischen Grinsen die simpelste aller Antworten. Ohne Radfahren würde ihm etwas fehlen, erklärt er. „Direkt nach der Tour habe ich das Rad einmal für drei, vier Tage in die Ecke gestellt. Eigentlich wollte ich länger Pause machen, aber ich habe das Radfahren ehrlich gesagt einfach vermisst. Außerdem ist es einfacher, im Winter mit dem Training für die neue Saison zu starten, wenn man mit guter Form in die Pause geht.“

Normal, abgehängt zu werden
Buchmann und die Liebe zum Fahrrad – sie reicht bis in die frühe Kindheit zurück. Schon immer sei er gerne auf dem Rad unterwegs gewesen, erzählt er uns, während er seine heiße Suppe schlürft. Sportlich habe er sich trotzdem erst einmal im Fußball und im Handball betätigt – so wie die meisten deutschen Jugendlichen. Als er 13 ist, nimmt ihn schließlich ein Freund mit zum Training des örtlichen Radvereins, dem KJC Ravensburg. Es ist damals allerdings keine einfache Zeit für den deutschen Radsportnachwuchs: Als Buchmann, Jahrgang 1992, mit dem Radfahren beginnt, stolpert das einstige deutsche Idol Jan Ullrich gerade über den Fuentes-Skandal. Den Radsport setzt die deutsche Öffentlichkeit fortan nur noch mit Doping gleich, junge Rennfahrer gibt es in den lokalen Vereinen in jener Zeit kaum. Auch Buchmann ist oft auf sich gestellt und muss häufig alleine trainieren. „Emu war damals schon ein ruhiger Geselle. Aber er war immer pünktlich beim Training – bei jedem Wetter“, erinnert sich Tobias Hübner, sein erster Trainer beim KJC. Er ist es, der den jungen Deutschen für den Rennsport begeistert – auch wenn der zu Beginn nur mäßigen Erfolg hat. Seine oftmals bereits deutlich größeren und kräftigeren Konkurrenten hängen den schmal gebauten Nachwuchsfahrer so gut wie immer ab. Der zeigt schon früh seine besondere mentale Stärke und bleibt trotz der vielen Niederlagen am Ball bzw. auf dem Sattel – im Gegensatz zu vielen anderen Jugendlichen, die in diesem Alter das Rad in die Ecke stellen. Weil er schon damals einfach sehr gerne Rad gefahren sei, wie er mit einem leisen Schmunzeln zurückblickt. „Am Anfang war es normal für mich, abgehängt zu werden. Ich dachte, das ist einfach so – und habe gehofft, dass es vielleicht irgendwann einmal besser wird.“ Es wird besser – wenn auch erst mit den Jahren. Während andere Nachwuchsathleten bereits in der Jugend mit nationalen Meistertiteln auf sich aufmerksam machen, schafft Buchmann den Anschluss an die Konkurrenz erst im Juniorenalter. Trainer Tobias Hübner erinnert sich, dass es damals den ein oder anderen Anruf bei den Verbänden benötigte, um dem hoffnungsvollen Talent internationale Starts mit der Nationalmannschaft zu ermöglichen. „Emu ist keiner, der sich gerne in den Mittelpunkt stellt. Entsprechend ist es auch einfach nicht sein Charakter, sich selbst anzubieten. Deshalb haben das oftmals Hartmut Täumler, der langjährige Trainer des württembergischen Radsportverbandes, oder ich erledigt.“

Buchmann konzentriert sich lieber auf sein Training. Er will mit seinen Leistungen auf sich aufmerksam machen, nicht mit markigen Sprüchen. Nach dem Abitur fokussiert er sich deshalb komplett auf das Radfahren. Mit Erfolg: 2014 wird er deutscher Meister der U23 und gewinnt eine Etappe bei der Nachwuchs-Rundfahrt Okolo Jižních Cech in Tschechien. Im Spätsommer kommt dann der endgültige Durchbruch: Bei der französischen Tour de l’Avenir – der Tour de France für die Stars von morgen – wird er inmitten der weltbesten Nachwuchsradsportler Siebter. Schon damals auffällig: Sein Talent am Berg – dem Terrain, auf dem er später auch bei der „großen“ Tour brillieren wird. Der Erfolg in Frankreich kommt gerade noch rechtzeitig. Denn um ein Haar hätte es den Radprofi Emanuel Buchmann trotz seiner erfolgreichen U23-Zeit nie gegeben. 2014 erfährt der deutsche Radsport dank der Erfolge von Fahrern wie John Degenkolb, André Greipel, Marcel Kittel oder Tony Martin zwar wieder öffentliche Aufmerksamkeit abseits von Dopingdiskussionen, da es zu jener Zeit aber kein deutsches Team in der höchsten Radsportliga gibt, haben es junge deutsche Talente trotzdem schwer, den Sprung ins internationale Profigeschäft zu schaffen. Auch Buchmann ist in dieser misslichen Lage, um einen Vertrag muss er lange bangen. So lange, dass sich der damals 21-Jährige im Sommer bereits an der Universität in Konstanz einschreibt. Maschinenbau will er studieren – der berüchtigte Plan B. Nach seinem siebten Platz bei der Tour de l’Avenir schiebt er diese Pläne allerdings erst einmal beiseite. Team-manager Ralph Denk von der damals noch zweitklassigen Equipe Bora-Argon 18 glaubt an das Talent des jungen Deutschen und macht ihm ein Angebot – das einzige, wie er mit einem schüchternen Grinsen betont: „Wäre Ralph nicht auf mich zugekommen – ich wäre wohl wahrscheinlich kein Radprofi geworden. Alternativen gab es ja nicht. Mich wollte sonst keiner“, sagt er. Es sollte für beide Seiten die richtige Entscheidung sein.

Teamliebe auf den ersten Blick
Für die damals noch kleine deutsche Mannschaft entpuppt sich der Ravensburger nämlich schnell als Glücksfall. Von Beginn an stellt Buchmann sein Talent unter Beweis und wird bereits in seiner Debütsaison deutscher Meister auf der Straße. Ruhig und höflich zurückhaltend gibt er seine ersten Interviews auf der großen Radsportbühne, wenige Tage später macht er seine ersten Pedaltritte bei der Tour de France. Bei der Tour ist er gerade einmal 22 Jahre jung – und sorgt trotzdem direkt für ein Ausrufezeichen: Nach einer furiosen, 108 Kilometer langen Flucht durch die Pyrenäen wird der junge Deutsche im strahlend weißen Meistertrikot mit dem schwarz-rot-goldenen Ring um die Brust auf der elften Etappe hinter dem Polen Rafał Majka und dem Iren Daniel Martin Dritter. Schon damals im Profil: der Col du Tourmalet – der Berg, an dem Buchmann vier Jahre später endgültig in die Weltspitze vorstoßen sollte. Doch Buchmann ist nicht nur ein Glücksfall für das Team Bora-hansgrohe – das Team Bora-hansgrohe ist auch ein Glücksfall für ihn. Teammanager Ralph Denk und sein Team sind bekannt dafür, dass sie großen Stellenwert auf den behutsamen Aufbau junger Talente legen. Heutige Spitzenfahrer wie der Deutsche Pascal Ackermann, der Ire Sam Bennett, der Österreicher Patrick Konrad oder eben Buchmann selbst haben ihre Profikarrieren allesamt bei der kleinen Equipe aus dem oberbayerischen Raubling begonnen. „Wir haben als kleines Team angefangen, also war das Fördern junger Sportler unsere beste Chance“, erinnert sich Denk, für den Buchmann das beste Beispiel dieser kontinuierlichen Aufbau-arbeit ist: „Als wir ihn zu uns in die Mannschaft geholt haben, haben wir nicht geahnt, dass er einmal bei der Tour de France ganz vorne mitfahren kann. Aber wir haben es natürlich gehofft. Und als Emanuel bereits in seiner ersten Saison mit dem Meistertitel und dem dritten Etappenplatz bei der Tour gezeigt hat, wie stark er sein kann, haben wir ihn Schritt für Schritt weiter gefördert“, so Denk. Denks Strategie geht auf. In den folgenden Jahren wird er behutsam an größere Aufgaben herangeführt. Nur eine große Rundfahrt pro Jahr, vereinzelte Kapitänsrollen bei kleineren Rennen. Es ist ein Weg, der sich auszahlt – und zu Buchmanns Charakter passt. Der heimatverbundene Youngster, der in seiner Freizeit am liebsten Zeit mit seiner Freundin Claudia verbringt und zum Wandern geht, schätzt das ruhige Klima bei der oberbayerischen Mannschaft, wo man ihm ein für ein Team dieser Größe ungewöhnlich familiäres Umfeld bietet. Während andere Fahrer im Team – allen voran der dreifache Weltmeister Peter Sagan – im Rampenlicht stehen, entwickelt er sich im Hintergrund, von der medialen Öffentlichkeit nur wenig beachtet, Schritt für Schritt weiter. Bei seiner zweiten Tour de France 2016 schlüpft er als Ersatzmann in die Kapitänsrolle – und wird 21. im Gesamtklassement, im Olympischen Straßenrennen von Rio kurze Zeit später erreicht er zeitgleich mit Chris Froome und Daniel Martin als 14. das Ziel. 2017 ist sein Saisonhöhepunkt das Critérium du Dauphiné: Buchmann wird inmitten vieler Tour-Favoriten Gesamtwertungssiebter und gewinnt die Nachwuchswertung. „Spätestens ab diesem Zeitpunkt haben wir gewusst, dass Emanuel das Zeug für ganz oben hat“, blickt Denk zurück.

 

Die Attacke am Tourmalet
Seine erste große Bewährungsprobe als Grand-Tour-Kapitän erhält er bei der Vuelta 2018. Buchmann beginnt stark, attackiert bei der ersten Bergankunft auf der vierten Etappe sogar die Topfavoriten und erreicht das Ziel in der Sierra de la Alfaguara nur zwei Sekunden hinter dem späteren Gesamtsieger Simon Yates. Danach kann er das hohe Niveau allerdings nicht mehr halten. Zuerst wirft ihn ein Sturz zurück, später kommen Probleme mit der Ernährung hinzu. „Das Problem war, dass mein Körper über die drei Wochen Wasser eingelagert hat. Am Ende war ich vier Kilogramm schwerer als am Anfang“, so Buchmann, der letztlich Rang zwölf in der Gesamtwertung belegt. Seine Leistungswerte seien trotzdem durchaus mit denen der Tour 2019 vergleichbar gewesen. „Aber ich war eben viel zu schwer. Daraus haben wir für die Zukunft gelernt.“ Das gute Abschneiden bei der Dauphiné, die starke erste Vuelta-Woche – eigentlich ist Emanuel Buchmann kein unbeschriebenes Blatt, als die Saison 2019 startet. Und trotzdem zeigen sich viele Beobachter überrascht, als er zum Saisoneinstand bei der Mallorca Challenge Ende Januar direkt sein erstes Rennen gewinnt und wenige Wochen später bei der Baskenland-Rundfahrt einen zweiten Sieg holt. Beide he-rausgefahren mit Attacken am Berg, dem Lieblingsterrain des bei 1,81 Meter Körpergröße gerade einmal 59 Kilogramm leichten Kletterers, der auch bei der anschließenden Dauphiné mit Platz drei überzeugt. Den Gesamtsieg verpasst er sogar nur, weil er auf der ersten Bergetappe früh angreift – und ihm später diese Kräfte für das schwere Finale fehlen. „Da habe ich dann schon gemerkt, dass mich die anderen Fahrer mehr und mehr wahrgenommen und respektiert haben“, sagt der Bora-Profi.

Die meisten Radsportexperten haben ihn trotzdem nicht auf der Rechnung, als er als Kapitän seiner Mannschaft in die Tour de France 2019 startet. Dort präsentiert er sich Etappe für Etappe auf Augenhöhe mit den Favoriten. Außer einem Sturz auf der ersten Etappe ist Buchmann immer wachsam, er spart Kräfte und tritt auch selbst in Erscheinung, wenn er muss – etwa im Finale der achten Etappe, als Thibaut Pinot und Julian Alaphilippe enteilen, oder in den finalen Kehren am Tourmalet, als er mit zwei Antritten im Finale die Gruppe der Favoriten sprengt. Fehler erlaubt er sich in den drei Wochen so gut wie keine. Bis zum letzten Tag bleibt er so in Schlagdistanz zum Podium, am Ende wird seine Konstanz mit Platz vier in Paris belohnt, nur 25 Sekunden hinter dem drittplatzierten Niederländer Steven Kruijswijk. Am Berg ist Buchmann sogar besser als Kruijswijk. Und nicht wenige Fans in Deutschland fragen sich wegen des knappen Resultats, ob sogar das große Wunder möglich gewesen wäre: ein zweiter deutscher Toursieg nach Jan Ullrich 1997. „Realistisch war es nicht. Aber ganz ausschließen konnte man es auch nicht“, grübelt er. Ob ihn als Bergspezialisten die wetterbedingten Etappenverkürzungen in der letzten Tour-Woche und die damit wegfallenden Höhenmeter vielleicht sogar das Podium gekostet haben? „Vielleicht“, überlegt er. „Die Etappe nach Tignes wäre sicher perfekt für mich gewesen. Bernal war vorne raus, aber ich hatte mit Gregor Mühlberger einen Helfer bei mir, Kruijswijk hatte zudem De Plus an seiner Seite. Vielleicht hätte sich Bernal vorne müde gefahren – am Schlussanstieg wäre dann wieder alles offen gewesen.“ Eine weitere Erkenntnis: Am Ende der Tour habe er sich nicht so müde gefühlt, wie er es im Vorfeld erwartet hatte. „Mein Körper hat sich eher wie nach einer einwöchigen Rundfahrt angefühlt. Ich hätte also an gewissen Stellen mehr Kraft investieren können – aber aufgrund der Erfahrungen bei der letzten Vuelta wollte ich es bei dieser Tour vorsichtig angehen lassen.“

Was kommt als Nächstes?
Vierter bei der Tour de France, gerade einmal 25 Sekunden hinter dem Podium, nur 1:56 Minuten hinter dem Gelben Trikot – es kommt nicht von ungefähr, dass die Erwartungen an Buchmann in Zukunft höhere sein werden. Schon lange nicht mehr hat eine Tour de France in Deutschland für so viel Aufmerksamkeit gesorgt wie die in diesem Jahr. In der kommenden Saison wird man ihn nun an diesen Leistungen messen. Er wird sich nicht mehr verstecken können, kein „Underdog“ mehr sein. Aus dem stillen Favoriten ist ein Fahrer geworden, der in einem Atemzug mit den ganz Großen genannt wird. Er sei sich dessen völlig bewusst, sagt er, er könne mit diesem Druck aber umgehen. Denn so unscheinbar, ruhig, schüchtern und bescheiden Emanuel Buchmann wirkt – der 25-Jährige weiß genau, was er kann und was er will. Als einer der wenigen Topprofis hat er keinen Manager, führt seine Vertragsverhandlungen selbst. Und es ist keine Seltenheit, dass der ansonsten zurückhaltende Bergspezialist im Rennen den Ton angibt. Aus diesem Grund lässt er sich auch nicht aus der Ruhe bringen, als wir ihn am Ende unseres Gesprächs nach seinen Zielen bei der Tour de France 2020 fragen. „Natürlich denkt man jetzt weiter. Aber man weiß nie, was passieren wird“, sagt er. Für ein noch besseres Ergebnis müsse einfach alles noch perfekter laufen als in diesem Jahr. Spielraum gebe es jedenfalls noch: Im Training etwa sei er mit seinen rund 30.000 Jahreskilometern noch nicht ausgereizt, sagt sein Trainer Dan Lorang. Und auch Bora–hansgrohe hat gerade für die Bergetappen noch Potenzial nach oben: So hat ein Rafał Majka im diesjährigen Tour-Aufgebot genauso gefehlt wie der starke Kletterer Felix Großschartner. Mit Lennard Kämna hat man für 2020 zudem eines der größten deutschen Talente für Etappenrennen überhaupt verpflichtet. „Mit diesem Team werden wir sicher weiter in Richtung Podium schielen“, sagt Buchmann, der aber auch nicht traurig wäre, wenn der Traum vom Tour-Podium nicht klappen würde. „In meiner U23-Zeit wollte mich kein Profiteam verpflichten und ich hätte daher nie gedacht, dass ich einmal überhaupt die Tour fahren kann. Dann bin ich gestartet und habe mir entsprechend höhere Ziele gesetzt. So will ich das auch in Zukunft machen. Einfach Rad fahren – und mein Bestes geben.“

Als wir unser Interview beendet haben, will unser Fotograf noch ein paar Porträtfotos schießen. Buchmann ist ungeduldig, das merkt man. Lange Medientermine sind nicht seine Welt. Viel lieber will er zurück auf sein Rad. Seiner Berufung nachgehen, die ihn zu einem der besten Radsportler der Welt gemacht hat – und zu einem zukünftigen Podiumskandidaten bei der Tour. Außerdem warten noch zwei Stunden Training auf ihn. Mittlerweile hat sich der Herbstnebel verzogen, die Straßen sind abgetrocknet, zwischen den Wolken über dem Bodensee blitzt sogar die Sonne hindurch. Ein paar Schnappschüsse, dann klickt Deutschlands neuer Tour-de-France-Held in seine Pedalen ein, tritt an und verschwindet hinter der nächsten Kurve. Leichtfüßig und trotzdem kraftvoll – so, als würden die Gesetze der Schwerkraft für ihn nicht gelten. Noch sind es acht Monate bis zur nächsten Frankreich-Rundfahrt.



Cover Procycling Ausgabe 189

Den vollständingen Artikel finden Sie in Procycling Ausgabe 189.

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