Das große Rennen

Bei der Flandern-Rundfahrt 2011 stand einer epischen Attacke von Fabian Cancellara die berechnende Taktik von Nick Nuyens gegenüber. Doch das Rennen – das letzte, das in Ninove endete – zeigte auch, wie sich der Radsport ändert und anpasst.

 

Es gab einen Moment in der frühen Phase der Flandern-Rundfahrt, wo es aussah, als wäre das Rennen totgeschossen. Den Abzug hatte Fabian Cancellara betätigt, der amtierende Champion. 2010, zwölf Monate zuvor, hatten er und Tom Boonen am Molenberg 45 Kilometer vor der Linie attackiert, dann hatte er den Belgier an der Muur so eiskalt abserviert, dass noch heute, fast ein Jahrzehnt später, eine lautstarke Ecke des Internets von Motordoping-Wahrheitsaktivisten bevölkert ist, die davon überzeugt sind, dass mehr als Muskelkraft seine Pedale rotieren ließ. Zwölf Monate später hatte es den Anschein, als könnte sich die Geschichte wiederholen. Tatsächlich sah es aus, als würde Cancellara die Opposition noch entscheidender schlagen. Es war Boonen gewesen, der den Angriff initiiert hatte, indem er die Pflasterpassage von Haaghoek genutzt und Cancellara hinter sich hergezogen hatte. Aber als sich die beiden am Leberg ihren Weg durch eine Gruppe von frühen Ausreißern bahnten, verschärfte Cancellara das Tempo – Boonen konnte nicht folgen. Der Belgier blieb in einer Gruppe stecken, die nicht die Absicht hatte, ihm zu helfen, die Lücke zu Cancellara zu schließen; der Schweizer schickte sich derweil an, den Abstand zwischen sich und Boonens Teamkollegen Sylvain Chavanel, solo an der Spitze, zu verringern. (Was Boonen sich dabei dachte zu attackieren, während er einen Teamkollegen vorne hatte, ist unklar, aber er hatte Zeit, über die Weisheit dieses Schritts nachzudenken, als Cancellara am Horizont entschwand.) An der Tenbossestraat, dem 16. von 18 Anstiegen, 15 Kilometer nach Cancellaras Attacke, betrug der Abstand zwischen Cancellara und Chavanel gegenüber einem 50 Mann starken Peloton 65 Sekunden. Es sah aus, als sei das Rennen gelaufen. Aber manchmal machen wir im Radsport den Fehler, das dies­jährige Rennen mit dem letztjährigen zu verwechseln. Auch einige Fahrer machen das.

Der Radsport lebt, mehr als jeder andere Sport, ebenso in der Gegenwart wie in der Vergangenheit. Man muss sich nur anschauen, in welchen Ehren die Tour de France den verstorbenen Raymond Poulidor hält, um das zu verstehen. Wenn die Tour eine Stadt besucht, fährt sie oft den einheimischen Exprofi auf, der bei der Siegerehrung die Trikots überreicht. Die Duschen in Paris–Roubaix und die Kurven von Alpe d’Huez sind geschmückt mit Tafeln mit den Namen früherer Sieger. Die Flandern-Rundfahrt hat ihr eigenes Museum, in dem ein Stapel Pflastersteine arrangiert ist, jeder mit dem Namen eines Siegers. Normalerweise ist das ein Plus – die Traditionen des Radsports sind Teil seines Marketings. Im Fall der Flandern-Rundfahrt manifestiert sich das in einer Feier des rustikalen Charakters der Rennen auf dem Kopfsteinpflaster – die Tour mag von gebräunten, schlanken Figuren ausgetragen werden, die die Berge hochtanzen können, aber die Pavé-Klassiker sind etwas für breitschultrige Kerle mit kantigem Kinn und einer Unempfindlichkeit für schlechtes Wetter. Die Fahrer, die in den Anfangszeiten des Rennens dominierten, wurden Flandriens genannt – wegen ihrer flämischen Wurzeln, aber auch ihrer stoischen, harten und bescheidenen Natur. Die belgischen Rennen sind etwas Besonderes, und dass sie fürchterlich zu fahren sind, macht ihren Reiz aus. Wir können uns die Gesichter der Fahrer im modernen Peloton ansehen, bedeckt mit von der Straße aufgewirbeltem Dreck, und denen der Flandriens der 1940er- und 1950er-Jahre und feststellen, dass das, was sie verbindet, viel stärker ist als das, was sie trennt. So mag Johan Museeuw, der die Ronde in den 1990ern dreimal gewann, ein modernes Rennrad und eine moderne Lohntüte gehabt haben, doch er war aus demselben flämischen Holz geschnitzt wie der Original-Flandriens Briek Schotte, der in den 1940ern zweimal gewann.

Die Traditionen des Radsports sind auch ein politischer Spielball. Die Modernisierer sagen, dass der Sport – seit jeher weitgehend finanziert von Sponsoren, die sich im Glanz siegreicher Fahrer sonnen wollen, und von großzügigen Wohl­tätern – ein neues Geschäftsmodell und neue Einnahmequellen braucht, wenn er über­leben und gedeihen will. Die Flandern-Rundfahrt 2011 befand sich genau auf der Verwerfungslinie zwischen der Vergangenheit des Radsports und seiner Gegenwart. Es war zufälligerweise die letzte mit „tra­ditionellem“ Finale, das via Muur und Bosberg nach Ninove führte. Als 2012 bekanntgegeben wurde, dass das kommende Rennen und die folgenden eine neue Route aufweisen würden, beruhend auf Runden und mehreren Passagen des Oude Kwaremont sowie mit Ziel in Oudenaarde, waren die Puristen aufgebracht. Eine inszenierte Beerdigungsprozession mit Sarg, in dem vermutlich die Leiche des Rennens lag, wurde an der Muur abgehalten. Natürlich war die Entscheidung von Flanders Classics, dem Eigentümer des Rennens, teilweise eine finanzielle und eine bewusst modernisierende. Der Vertrag von Ninove über die Ausrichtung des Finales war ausgelaufen, Oudenaarde hatte die attraktivste Summe geboten, um es auszurichten, und darüber hinaus gab es einen Disput um die vom Rennen unabhängige Aufstellung von VIP-Zelten durch die Stadt Geraardsbergen, wo sich die Muur befindet. Die neue Struktur machte anfangs einen Bogen um Geraardsbergen und erlaubte es Flanders Classics, eigene, wahrscheinlich lukrative VIP-Zelte auf den Feldern an der oberen Hälfte des Kwaremont aufzubauen. Wenn man eine passende Metapher für die Prio­ritäten des Organisators suchte – Geld oder Rennen –, bot sich der Kwaremont an. Laut Andreas Klier, ehemaliger Zweiter der Flandern-Rundfahrt und Sportdirektor im Begleitwagen von Alberto Bettiol, dem Gewinner des Rennens 2019, haben die VIP-Zelte sogar den Charakter des Anstiegs geändert. Der vorherrschende Südwestwind wehte über die sich hinziehende Strecke zur Kuppe des Kwaremont, was es zu einer sehr schweren Stelle des Rennens machte; heute wird der Seitenwind von den Zelten abgehalten. Jeder große Fußball­club weiß, dass VIP-Sitze viel Geld bringen, aber auf Kosten der Atmosphäre – die Frage ist: Wo ist die Grenze? Aber Traditionen sind etwas Merkwürdiges im Radsport. Man könnte sagen, dass das traditionelle Muur-Bosberg-Ninove-Finale einer der definierenden Aspekte des Rennens war, trotzdem endete die Ronde erstmals 1973 in Ninove – nach mehr als einem halben Jahrhundert in verschiedenen Vororten von Gent. Der Bosberg tauchte erst 1975 auf und das Rennen nahm verschiedene Wege über die Muur, bis es sich 1998 fest einspielte. Nichts ist je in Stein gemeißelt im Radsport.

Womit wir wieder im Jahr 2011 wären. Die Ähnlichkeit mit 2010 dauerte genau 15 Kilometer nach Cancellaras Angriff, bevor er eine lebensnahe Lektion darin bekam, wie sich die Dinge ändern können, auch wenn sie in Stein gemeißelt zu sein scheinen. Die griechische Mythologie lehrt uns, dass Hybris immer mit Vergeltung durch Nemesis bestraft wird. In diesem Fall kam Cancellaras Nemesis in den rot-schwarzen Farben von BMC, zusammen mit einem leichten Hungerast. Das Leopard-Trek-Team des Schweizer Fahrers verpasste eine Verpflegungszone, und Cancellara brauchte mehrere Kilometer, um eine Flasche zu bekommen, sodass er nicht ausreichend mit Energie versorgt war. Obwohl das Peloton nur rund 50 Fahrer stark war und die meisten Kapitäne zu dem Zeitpunkt ziemlich isoliert waren, hatten es sieben der acht BMC-Fahrer geschafft. Niemand sonst hatte die Manpower, um Tempo zu machen, also machten sie sich an die Arbeit, und Cancellaras Vorsprung, der zwischenzeitlich über eine Minute betragen hatte, schmolz dahin, als er und Chavanel durch Geraardsbergen zum Fuß der Muur kletterten. Gerade als es aussah, als wäre die Entscheidung gefallen, lief das Rennen wieder zusammen und detonierte dann unglaublicherweise unter dem Druck von Cancellara. Als die ersten Fahrer aufschlossen, attackierte er erneut, nahm eine kleine Gruppe mit, dann noch eine kleine Gruppe und dann noch zwei Fahrer, bis schließlich in der Anfahrt zum Bosberg ein Dutzend Fahrer zu einer Spitzengruppe fusioniert waren. Eine rollende Wirtshausschlägerei folgte: Phi­lippe Gilbert griff am Bosberg an und setzte sich ab, wurde aber in einer verzweifelten Verfolgungsjagd gestellt. Alessandro Ballan versuchte es als Nächster, dann kurz Nick Nuyens. Dann Geraint Thomas. Dann Juan Antonio Flecha. Dann Sebastian Langeveld. Niemand kam weg; jeder wurde gestellt.

 

Die entscheidende Attacke kam gut drei Kilometer vor dem Ziel von Cancellara, abwechselnd verfolgt von Chavanel und Nuyens. Der Angriff killte gleichzeitig die Chancen von Cancellara und Boonen. Boonen war der beste Sprinter, doch er blieb bei den Verfolgern stecken, während sein Teamkollege Chavanel, der viel Energie bei einer 100-Kilometer-Flucht gelassen hatte, kaum eine Chance im Sprint hatte. Cancellara war auch angreifbar – nicht von Chavanel, sondern vom endschnellen Nuyens, der sich praktisch das ganze Rennen bedeckt gehalten hatte und von den Kommentatoren kaum erwähnt worden war – bis zur Ziellinie, wo er mit seinen Rivalen kurzen Prozess machte. Nuyens’ Sieg erinnerte uns daran, dass Radrennen nicht immer vom stärksten Fahrer gewonnen werden und Taktik, Geduld und ein bisschen Glück dem Sport mehrere Nuancierungsebenen verleihen, die es nicht gäbe, wenn es eine reine Prüfung der Stärke wäre. Er kommt nicht immer gut an bei den Kollegen des Siegers oder dem Publikum – Boonen ahnte, dass Nuyens sich das ganze Rennen über versteckt hatte, und als die Leser von Het Nieuwsblad 2013 nach ihren Lieblingsauflagen der Ronde befragt wurden, waren die beiden, die die meisten Stimmen erhielten, 1985, als Eric Vanderaerden unter schreckli­chen Bedingungen gewann, und 1969, als Eddy Merckx unter ähnlich schrecklichen Bedingun­gen gewann. Bei diesen Rennen hatte der stärkste Fahrer furchtbarem Wetter getrotzt und war alleine zum Sieg gefahren. 2011 hatten Chavanel und Cancellara eine epische Dimension beigetragen mit der Länge des Solos des Franzosen und der schieren Kraft der Attacke des Schweizers, aber der Sieg ging an keinen von ihnen, sondern an Nuyens, der das Verständnis eines Politikers für die Schwächen seiner Gegner und das Timing besaß, statt bei epischem Wetter superstark zu sein.

Aber Nuyens’ Sieg sagte uns viel über den Radsport. Einerseits war es die Erinnerung daran, dass ein starker Kopf oft über starke Beine triumphiert. Gleichzeitig reflektierte es auch die anhaltende Spannung in diesem Sport zwischen Tradition und Moderne. Die Geschichte der Klassiker ist voll mit Geschichten von schweren und harten Kopfsteinpflasterrennen und den zähen und stoischen Charakteren, die sie gewinnen. Nuyens passte überhaupt nicht zu diesem Klischee: Er selbst hat einen Abschluss in Medienwissenschaften und Kommunikation und seine Eltern arbeiteten im Diamantengeschäft. Allerdings waren seine Großeltern Bauern. Manchmal kommen Altes und Neues im Radsport gut miteinander aus.