Napoleons Untergang

In den 1990ern war Castorama die Fortsetzung der mächtigen Teams Renault und Système U, mit denen Manager Cyrille Guimard – genannt Napoleon – in den 1970ern und ’80ern mehrere Frankreich-Rundfahrten gewonnen hatte. Aber Castorama hatte keine große Zukunft – Procycling blickt zurück.

 

 

Im Januar 1990 wurde die Radsportpresse der Welt – mit anderen Worten Europas, das damals die Radsportwelt war – in einen alpinen Skiort eingeladen, wo es einen bedeutsamen Termin gab: Der Weltranglistenerste und sein Team stellten einen neuen Sponsor vor, begleitet von einem entsprechend verschwenderischen Gourmet-Dinner. Da der Ausrüster des Teams der bekannteste britische Radhersteller war,Raleigh, wurde die gesamte britische Presse eingeladen, zusätzlich gelockt von der Möglichkeit zu Vier-Augen-Interviews mit besagtem Weltranglistenersten. 

Laurent Fignon (der war es nämlich) hatte gerade eine sensationelle Saison 1989 hinter sich, in der er Mailand–San Remo und den Giro d’Italia gewonnen hatte, ganz zu schweigen von einer Etappe der Tour de France und acht Tagen im Gelben Trikot. Leider verlor er genau diese Tour auch in einem berühmt gewordenen abschließenden Zeitfahren um acht Sekunden gegen seinen früheren Teamkollegen Greg LeMond, sodass der „Professor“ jetzt bekannter dafür war, Zweiter der knappsten Tour aller Zeiten geworden zu sein, wie er verbittert betonte, als dafür, die Grand Boucle zweimal gewonnen zu haben. Das bedeutete leider auch, dass er nicht scharf darauf war, über die Ereignisse von 1989 zu reden, die wir Schreiberlinge nur aus dem Blickwinkel seiner knappen Niederlage sahen: Revanche im Jahr 1990, Einsatz von Zeitfahrlenkern, wie er sich mit seinem amerikanischen Angstgegner vertrug etc. Fignon absolvierte seine Pressepflichten mit der fröhlichen Gelassenheit eines Hundebesitzers, der gefragt wird, wie genau sein Lieblingshaustier gerade überfahren wurde, wonach die Presseleute wieder an das volle Buffet traten, um das Warum und Weshalb eines sehr feinen Beaujolais zu ergründen. 

Castorama war der neue Sponsor von Fignon und seinem Manager Cyrille Guimard nach vier Jahren bei den Système-U-Supermärkten – eine weitere große Einzelhandelskette, dieses Mal ein Baumarkt. Seit Mitte der 1970er war Casto in jedem dieser anonymen Gewerbegebiete zu finden, die die Peripherie jeder französischen Stadt verschandeln. Der Name war 1969 angenommen worden, als der Gründer Christian Dubois einen großen Heimwerkermarkt in Lille aufkaufte; er stammte von dem französischen Wort castor – Biber –, was der Spitzname für diejenigen war, die einen Hang zur eigenhändigen Verschönerung ihres Heims hatten. Das Motto der Firma war „Chez Casto, il y a tout ce qu’il faut“ – Castorama hat alles, was man braucht. Die Adoption von Fignon, Guimard und seinem Team durch die Firma koinzidierte mit einer größeren Expansion in ganz Europa; der Erwerb des amtierenden Giro-Siegers passte perfekt zu einem Unternehmen, das gerade seine ersten Geschäfte in Italien eröffnete. Deutschland und Belgien folgten. Casto wollte auch in den Discounter-Markt vordringen und unterwegs einen Abstecher in Heimwerkerkurse für handwerklich Interessierte machen. 

Einen Ersatz für Système U zu finden, war eine Bestätigung für das Teammanagement-System, das Guimard und Fignon eingerichtet hatten, als Renault 1985 als Sponsor ausgestiegen war. Damals erkannten die beiden die eingebaute Schwäche des traditionellen Sponsoren-Modells, bei dem der Sponsor Eigentümer des Teams ist und die Fahrer und Mitarbeiter beschäftigt. Sie etablierten eine Struktur, in der ihnen das Team gemeinsam über zwei Holdinggesellschaften, France-Compétition und Maxi Sports, gehörte und der Sponsor sie bezahlte, um das Team zu managen. Ungefähr so werden die meisten Profiteams heute betrieben. Fignon behauptete, es sei seine Idee gewesen und dass Guimard, dessen Spitzname „Napoleon“ wohl verdient war, nicht verstanden habe, was er vorschlug. Keine Zweifel bestehen an der Identität der Rechtsanwaltskanzlei, die mit der Gründung der Gesellschaften beauftragt wurde: Leibovici-Sarkozy, teilweise geführt durch den späteren französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy, der ein Direktor von France-Compétition wurde, das sich anschließend sehr kurzfristig die Unterstützung von Système U sicherte.

Und dann war da das Trikot. Bei der Pressepräsentation wurde uns gesagt, die Gestaltung spiegele die Form des traditionellen französischen Arbeiter-Overalls wider und ähnele sehr dem Outfit der Verkäufer in den Castorama-Märkten. Es war tatsächlich nicht einfach, auf den ersten Blick auszumachen, dass die Längsstreifen auf jeder Seite die Träger eines Blaumanns darstellen sollten, aber es markierte eine Abkehr von der Art und Weise, wie Bekleidung gesehen wurde. In der Vergangenheit hatten Teams ein Trikot und versahen es mit Logos. 1984 stellte La Vie Claire diese Idee mit einem radikalen, von Mon­drian inspirierten Design auf den Kopf, das keine Zweifel an den Absichten Teams ließ: diese Jungs würden alles anders machen. Castorama hatte einen etwas anderen Esprit, aber es war der ernsthafte Versuch einer Botschaft: Arbeiterkluft, praktisches Ethos, packen wir’s an. Das gab den Ton für die 1990er vor, einen Zeitraum, in dem das Design von Teambekleidung tatsächlich wichtig wurde. Man musste die Carrera-Shorts in Jeansoptik oder die vielen schrillen Outfits von Saeco-Cannondale für Mario Cipollini nicht mögen, aber man musste zugeben, dass man nicht mehr in den 1970ern war.

Auf der Straße startete Castorama in die Saison 1990 als Vierter der UCI-Welt­rang­liste hinter den holländischen Teams PDM-Phillips Dupont Magnetic, einem Hersteller von Videokassetten, der alkoholfreien Biermarke Buckler und einem weiteren französischen Team, RMO. Es kling heute erstaunlich, aber mit dem Team Z von Greg LeMond machte das drei französische Teams unter den ersten sieben. Wenige Wochen später gewann Castorama: Gérard Rué holte die Mittelmeer-Rundfahrt und Fignon das Critérium International, ohne jedoch eine der drei Etappen für sich zu entscheiden. Das blieb das beste Ergebnis für den Pariser, der den Hattrick bei San Remo verpasste, als die Italiener die ausländischen Stars attackierten, die zu Beginn kollektiv am Ende des Feldes herumbummelten. 

„Etwas stimmte nicht“, schrieb er später. Bei der Flandern-Rundfahrt war er in fantastischer Form und gab alles, um in eine vielversprechende Ausreißergruppe zu kommen, nur damit die anderen Fahrer sich weigerten, mit ihm zusammenzuarbeiten. Fignon stieg vom Rad. Er ging in schlechter Form aus der Klassiker-Saison hervor und in schlechter Form in den Giro. Er stieg beim Giro aus und dann bei seiner Heimatrundfahrt, auch wenn sein Teamkollege Thierry Marie wenigstens den Prolog der Grande Boucle am Futuroscope gewann. Leider wurde Castorama seinem anfänglichen Ruf nie gerecht. Fignon ging in einen unglücklichen Niedergang, teils, weil er nach seiner Niederlage 1989 gegen LeMond nie sein altes Selbstbewusstsein wiedererlangt hatte, teils, weil ihn das Pech verfolgte – ein Sturz in einem Tunnel machte seine Titelverteidigung beim Giro zunichte und setzte ihn bei der Tour am fünften Tag außer Gefecht –, und teils, weil er sich, wie Bernard Hinault ein paar Jahre zuvor, schließlich mit seinem alten Mentor Guimard überwarf. 

Fignons Erinnerungen an die Castorama-Jahre waren bitter. Er und Guimard stritten sich immer häufiger, weil der Teamchef an allen Ecken und Enden zu sparen pflegte; Fignon bemerkte es, wenn sich das auf die Leistung des Teams auswirkte. Guimard mochte es nicht, dass sich sein Partner so in die Leitung des Teams einmischte. In der Saison 1991 zerbrach die Freundschaft der beiden, so wie sich Guimard und Hi­nault 1982 und 1983 zerstritten hatten. Guimard fürchtete, dass sich Fignon nach seiner Karriere mehr am Management beteiligen wollte, aber der Manager betont in seinen Memoiren auch, dass er und Fignon unterschiedliche Auffassungen darüber hatten, wie das von ihnen gemeinsam geleitete Team gemanagt werden sollte. 

Wie er es sah, glaubte Fignon, dass, sobald das Geld übergeben worden war und der Sponsor „für eine Werbefläche auf dem Trikot“ bezahlt hatte, es eine Distanz zwischen Sponsor und Team geben sollte. Sein Partner hingegen glaubte, dass der Sponsor sowohl im französischen Sinne des Wortes investierte, um emotional involviert zu sein, als auch im angelsächsischen Sinne, um Geld hineinzustecken. Das, so glaubte er, müsse respektiert werden. Außerdem hatte er auf der Straße einen Ersatz für seinen verblassenden Stern gefunden, so wie Fignon und LeMond sieben oder acht Jahre zuvor Hinault abgelöst hatten. Luc Leblanc war der neue Auserwählte, und als es auf die Tour 1991 zuging, überlegte Guimard sogar, seinen zweifachen Toursieger zu Hause zu lassen und stattdessen den jüngeren Fahrer mitzunehmen. 

Gleichzeitig mischte sich das Castorama-Management mehr in die Leitung des Teams ein. Für Fignon ging es in die Brüche, als Guimard von ihm verlangte, bei Paris–Roubaix vorne zu fahren, nur um ins Fernsehen zu kommen. Das war nicht der Stil von Fignon. Guimard hingegen fand, dass seine Geldgeber das Recht hatten, ein paar Forderungen zu stellen. Die Bosse bei Castorama hatten guten Grund, störrisch zu sein. Die Resultate des Teams in den Jahren waren nichts im Vergleich zu den Glanzzeiten von Fignon von 1983 bis 1989. Sie waren zwar nicht schlecht – bei der Tour 1990 hatten sie mit Marie zumindest das Gelbe Trikot getragen, und 1991 zog sich Leblanc das Maillot Jaune in Jaca in den Pyrenäen über. Er verlor es am folgenden Tag, und obwohl er und Fignon während des Rests der Tour das gleiche Trikot trugen, waren sie praktisch Rivalen und wurden Fünfter beziehungsweise Sechster. 

Indem er Leblanc fand, bewies Guimard, dass er immer noch ein Händchen für das Entdecken talentierter Rennfahrer hatte. Dominique Arnould gewann 1993 den Cross-Weltmeistertitel und eine Etappe der Tour 1992. Der rätselhafte Armand de las Cuevas landete einen Sieg bei der Clásica San Sebastián 1994, und es gab viele weitere Sieger, vor allem bei den Rennen, die den französischen Kalender bildeten: Paris–Camembert, der GP d’Isbergues, der GP Denain und so weiter. Thierry Marie feierte einen epischen Etappensieg bei der Tour 1991. Aber kein Castorama-Fahrer schien je in der Lage zu sein, das Rennen, das wirklich zählte, zu gewinnen. Das eine Resultat, das sich – zumindest auf dem Papier – mit der Fignon-Ära messen konnte, war Jacky Durands Sieg bei der Flandern-Rundfahrt 1992, aber es war nicht ganz aus dem Lehrbuch des Professors. Der schätzenswerte „Dudu“ hatte Glück; der frühen Ausreißergruppe wurde zu viel Spielraum gelassen, und er war im entscheidenden Moment der stärkste Fahrer und hatte den formidablen Thomas Wegmüller zehn Kilometer vor der Linie nach 220 Kilometern im Wind abgehängt. Es ist bis heute der letzte französische Sieg bei einem Klassiker. 

Als Team gelang Castorama dann doch noch ein spektakulärer Abgang. Zu Beginn der Tour de France 1995 gab Guimard bekannt, dass er Schwierigkeiten habe, einen neuen Sponsor zu finden, stieß aber auf eine Goldgrube, als Chris Boardman beim dunklen, verregneten Abendprolog in Saint-Brieuc stürzte und „Dudu“ – der bei vollem Tageslicht und auf noch trockener Straße gefahren war – einen weiteren glücklichen Überraschungssieg landete und ins Gelbe Trikot schlüpfte. Er trug es zwei Tage; am Ende war der vielversprechende Laurent Madouas Gesamt-Zwölfter. Aber am 27. September erklärte France-Com­pétition in einer Pressemitteilung, dass alle Fahrer aus ihren Verträgen entlassen würden. Ein neuer Sponsor war nicht gefunden worden. So endete eine Geschichte, die zwei Jahrzehnte gedauert und zwischen 1976 und 1984 sechs Toursiege umfasst hatte. Guimard kehrte 1997 kurz in den Profiradsport zurück und gründete Cofidis, zog aber weiter. Die Tage, in denen er sein eigener Boss war, waren mit dem Ende von Casto vorbei.

Derweil wuchs Castorama anfangs weiter und setzte seine europäische Expansion fort, indem das Unternehmen 1998 mit der britischen Baumarktkette B&Q zusammenging; es wurde vier Jahre später von B&Q-Eigentümer Kingfisher übernommen. Aber in jüngerer Zeit schrumpft das Unternehmen und lagert Arbeitsplätze in der Verwaltung nach Polen aus; es bleibt ein großer Einzelhändler mit 101 Filialen in Frankreich und 76 in Polen. Im Radsport allerdings wird kaum einer, der diese Ära erlebt hat, die blau-weißen Latzhosen-Trikots je vergessen.

 



Cover Procycling Ausgabe 193

Den vollständingen Artikel finden Sie in Procycling Ausgabe 193.

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