Alexander Kristoff

Alexander Kristoff hat in seiner Karriere eine Gratwanderung zwischen Sprinter und Klassiker-Spezialist  vollführt und sowohl Tour-Etappen als auch Monumente wie die Flandern-Rundfahrt und Mailand–San Remo gewonnen. Im Herbst seiner Karriere erklärt der Norweger Procycling, warum Beständigkeit und Ausdauer seine größten Stärken sind und wo sein Platz im Peloton ist.

 

Um im Radsport zu überleben, muss ein Fahrer herausfinden, was er am besten kann, und diese Nische dann besetzen. In den meisten anderen Sportarten sind die Fähigkeiten präskriptiv. Die schnellsten Läufer, längsten Werfer und weitesten Springer machen sich gut in der Leicht­athletik; Schwimmen ist ein bisschen komplizierter – man muss immer noch der Schnellste sein, aber es gibt vier verschiedene Schwimmarten, sodass Schwimmer mit verschiedenen Talenten und Stärken ihre eigene Nische finden können. Mannschaftssportarten sind noch komplizierter – ein Fußballspieler kann schnell sein und ein gutes Auge fürs Tor haben und daher dazu neigen, Stürmer zu sein, oder er kann gut gebaut, groß und schwer zu umgehen sein und damit ein Abwehrspieler. Aber der Straßenradsport hebt sich insofern ab, als dass jedes Rennen auf unterschiedlichem Terrain abgehalten wird. Leichtathletik, Schwimmen und Fußball und die meisten anderen Sportarten finden auf weitgehend identischen Spielfeldern statt – eine 400-Meter-Bahn, ein 50-Meter-Becken, ein rund 100 Meter langer und 60 Meter breiter Platz. Der Straßenradsport hat so viele Spielfelder wie Renntage – flach, wellig, hügelig, gebirgig … und alle möglichen Kombinationen. Radsport ist eine Sportart der Spezialisten: Gut im Sprinten? Dann sind flache Rennen deine Nische. Gut im Klettern? Dann nimm dir die gebirgigen Rennen vor. Ganz gut in beidem? Die hügeligen Klassiker sind etwas für dich. Endschnell und mit den ersten 40 oder 50 über einen Berg – dann sind die Katalonien-Rundfahrt und die Baskenland-Rundfahrt dein Ding. Fähig, lange Stunden mit gleichmäßig hohem Tempo zu fahren? Du wirst ein Domestik, und zwar ein sehr wertvoller, selbst wenn du nicht viele Rennen gewinnst.

Wir sitzen also hier mit Alexander Kristoff in Spanien, und ich versuche herauszufinden, was seine Nische ist. Kristoff ist erfolgreich – er hat Klassiker gewonnen, er gehört zum kleinen Kreis von Fahrern, die mehr als 20 Rennen in einer Saison gewonnen haben, er hat fünf der letzten sechs Jahre in den Top Ten von CQranking.com abgeschlossen. Er ist Sprinter, aber wie er betont, hat er im Vergleich mit den wirklich dominanten Sprintern relativ wenige Grand-Tour-Etappen gewonnen. „Ich habe zwei Tour-Etappen gewonnen, eine 2014 und eine 2018“, sagt er. „Aber ich war nie der schnellste Sprinter. Nie. Ich habe nicht sehr viele Massen­sprints gewonnen. 2014 und 2015 war ich zwar schnell, aber nie bei den Sprints im Flachen. Vorher waren da Kittel, Cavendish und Greipel, die alle schneller waren als ich – ich war bei Massensprints nicht auf ihrem Niveau. Jetzt sind es Gaviria, Viviani, Groenewegen und Ewan, die am schnellsten sind, und ich bin auch nicht auf ihrem Niveau. Ich bin etwas darunter, wie immer.“ Seine besten Ergebnisse holt Kristoff bei langen und schweren Rennen. Er gewann Mailand–San Remo, Gent–Wevelgem und die Flandern-Rundfahrt und wurde Zweiter der Weltmeisterschaft. Auch die Hamburg Cyclassics, der GP Plouay und Eschborn–Frankfurt stehen auf seinem Palmarès; Letzteres gewann er von 2014 bis 2018 viermal in Serie. Er ist zu groß, um ein Sprinter-Kletterer vom Schlag eines Peter Sagan oder Michael Matthews zu sein, aber auf einem überwiegend flachen Parcours mit mehr als 200 Kilometer Länge oder gegen Ende einer Landesrundfahrt, wenn andere reine Sprinter die Heimreise angetreten haben, ist er vielleicht der Beste der Welt. „Wenn bei langen oder schweren Rennen alle müde sind, habe ich normalerweise einen guten Sprint. Wenn bei einem Klassiker wie Gent–Wevelgem oder der Flandern-Rundfahrt oder Mailand–San Remo alles passt, bin ich einer der Typen, die am besten sprinten können“, sagt er. Er fasst die Besetzung seiner speziellen Nische im Radsport so zusammen: „Ich sprinte am besten, wenn alle anderen erledigt sind.“ 

Selbst in Winterbekleidung im UAE Emirates-Teamcamp in Benidorm ist Kristoff leicht auszumachen – sein kräftiger Oberkörper und sein aus­geprägtes Kinn sind unverwechselbar. Wenn man ihn nicht kennen würde, könnte man irrtümlich denken, dass er ein bisschen hinüber aussieht, selbst für diese Jahreszeit. Er kommentiert seine Form trocken: „Es ist Weihnachten, meine Fitness wird nicht besser.“ Doch er sieht das ganze Jahr über so aus. Er mischt von Januar oder Februar bis September und Oktober immer vorne mit, gewinnt Rennen oder holt vordere Plätze. Sechs Jahre in Folge hat er mindestens eine Etappe der Tour of Oman gewonnen, eine Serie, die dieses Jahr endet, da er sein Programm zu Beginn des Jahres geändert hat und stattdessen die Volta ao Algarve fährt. „Normalerweise ist meine Form ziemlich konstant“, sagt er. „Ich habe eine Methode gefunden, die für mich funktioniert, und die ist mit viel Training verbunden. Einige Jungs trainieren weniger und bekommen manchmal bessere Ergebnisse, aber vielleicht bekommen sie diese Ergebnisse nicht das ganze Jahr. Ich fahre immer noch Siege ein, deswegen ist es wohl richtig, was ich tue. Ich habe eine Methode gefunden, die funktioniert, und es wäre nicht klug, viel daran zu ändern. Wenn ich ein Jahr verliere, ist es ein großer Teil vom Rest meiner Karriere.“ 

Kristoff ist vielleicht ein typischer Norweger. Er ist der letzte in einer Reihe von breitschultrigen Blonden aus seinem Heimatland, die im Radsport geglänzt haben. Dag-Otto Lauritzen, Thor Hushovd und Edvald Boasson Hagen sind seine Vorfahren; wie sie ist er robust, stark, beständig und abgehärtet. Anders als viele andere hat er der Versuchung widerstanden, sich im ganzjährig warmen Mittelmeerraum niederzulassen – er lebt noch in Stavanger an der norwegischen Küste und seine Kinder gehen dort zur Schule; damit sie nicht umziehen müssen, verzichtet er auf angenehme Temperaturen bei Trainingsfahrten. Aber Kristoff ist nicht so norwegisch, dass er sich in einem Team mit italienischer DNA und einem internationalen Aufgebot nicht wohlfühlen würde. „Es heißt, dass jeder Norweger mit Skiern an den Füßen zur Welt kommt, aber ich bin kein so guter Skiläufer“, sagt er. „Vielleicht sind die Norweger etwas ruhiger als die Italiener. Wir gehen in unser Zimmer und sitzen nicht bis ein Uhr morgens herum und quatschen. Wenn ich nach dem Abendessen eine Stunde bleibe, ist das viel. Manchmal fragen mich die Teamkollegen, ob etwas nicht stimmt, aber es ist alles in Ordnung – ich will mich nur entspannen.“ Er erklärt: „In Norwegen setzt du dich im Bus, wenn du Reihen mit zwei Sitzplätzen hast, und einer davon besetzt ist, nicht daneben. Du setzt dich in eine andere freie Zweierreihe. In Norwegen siehst du eine Person in jeder Zweierreihe bis hinten durch, statt dass sie nebeneinander sitzen. Aber ich bin in der Mitte. Ich bin nicht der typische Introvertierte, aber ich bin auch nicht sehr extrovertiert. Ich bin einfach Durchschnitt.“ 

Diese Idee der Balance zieht sich durch Kristoffs Leben und Karriere. Seine Saison ist weniger eine Serie von Höhepunkten und Tiefen, als ein konstant hohes Niveau. Er hat sich für eine Art des Trainings und des Wettkampfs entschieden, die ihm passt, und sie nicht verändert. „Ich bin zufrieden mit meiner Karriere, und wenn ich sie beende, werde ich zurückschauen und nicht bedauern, wie ich es gemacht habe, weil es gut funktioniert hat“, sagt er. Während seine UAE-Teamkollegen im Januar Höhentraining machen, lässt er es aus und trainiert stattdessen mit den Fahrern des Continental-Teams, an dessen Leitung er beteiligt ist. „Meine Karriere funktioniert ohne Höhentraining“, sagt er. „Warum sollte ich also auf einem Berg sitzen und mich langweilen?“ Kristoff wird als Fahrer in Erinnerung bleiben, der Mailand–San Remo, die Flandern-Rundfahrt und Gent–Wevelgem gewann, neben seinen Tour-Etappen und dem, was er in den nächsten drei oder vier Jahren noch gewinnen kann. Wir kommen später zu diesen Höhepunkten, aber das Bemerkenswerteste an seiner Karriere und das, was ihn von vielen seiner Rivalen unterscheidet, ist diese Beständigkeit. Neben den sechs Etappensiegen bei der Tour of Oman, die seine zuverlässig gute Form zu Jahresbeginn unterstreichen, ist er seit 2013 jedes Jahr in die Top Ten von Mailand–San Remo gefahren, außer im letzten, wo er 14. war. Sechs Teilnahmen an Eschborn–Frankfurt haben zu vier Siegen sowie einem dritten und einem sechsten Platz geführt. In Hamburg sind bei zehn Starts acht Top-Fünf-Plätze, ein elfter und ein 14. herausgesprungen. Bei der Weltmeisterschaft fuhr er seit 2014 jedes Jahr in die Top Ten, mit Ausnahme der bergigen Auflage von 2018. Außer den bei­-den sehr erfolgreichen Jahren 2014 und 2015, als er insgesamt 34 Rennen gewann, handelt seine Geschichte von gelegentlichen Weltklassesiegen und der Zuverlässigkeit eines Uhrwerks. Wenn er es nicht in die Spitzengruppe schafft, gewinnt er den Sprint der Verfolger – auf dem siebten Platz bei der WM in York­shire, dem vierten bei der Europameisterschaft 2019, dem dritten bei der Flandern-Rundfahrt 2019, dem fünften bei der Flandern-Rundfahrt 2017, dem vierten bei Mailand–San Remo 2017, dem vierten bei der Flandern-Rundfahrt 2016 und so weiter. 

Es sind immer dieselben Rennen, immer dieselben Resultate – Top-Ten-Plätze bei den längsten und schwersten Eintagesrennen des Kalenders. Komischerweise kann Kristoff jahrein, jahraus Top-Ten-Plätze bei der Flandern-Rundfahrt raushauen, aber beim E3 Harelbeke, der traditionellen Standortbestimmung für die größeren Rennen, war er nur einmal in den Top 20. „Sie sagen immer, wenn du Flandern gewinnen kannst, solltest du Harelbeke [E3] gewinnen können, aber da war ich nie wirklich nahe dran“, erklärt er. „Flandern ist so ein schweres Rennen, dass die Anstiege nicht so schnell gefahren werden wie bei anderen Klassikern. Sie fahren die Anstiege beim Harelbeke schneller, weil es ein kürzeres Rennen ist und sie nicht so erschöpft sind. Flandern ist viel besser, weil alle so ermüdet sind.“ Doch das Lieblingsrennen des Norwegers ist Mailand–San Remo, selbst wenn die Resultate zeigen, dass er bei der „Ronde“ etwas besser ist. „Die Flandern-Rundfahrt ist stressig, weil es Belgien ist“, sagt er. „Sie ist nicht immer schön zu fahren – es ist permanenter Druck und Stress und Kampf. Wenn du im Rennen bist, hasst du es, und du freust dich, wenn es vorbei ist.“ Er fügt hinzu: „Bei San Remo fliegen die Orte, wenn du die Küste runterfährst, nur so vorbei. Du fährst 50, 60 km/h und hast irgendwie Spaß, selbst wenn es lang und ermüdend ist. Ich habe es einmal gewonnen und habe einen zweiten Platz und viele Top-Ten-Plätze. Ich hoffe, es eines Tages noch einmal zu gewinnen.“ 

Kristoffs beste Jahre waren 2014 und 2015. Er spricht darüber, der stärkste Sprinter bei langen und schweren Rennen zu sein, aber in Bestform gewann er bei der Flandern-Rundfahrt 2015 einen Zweiersprint gegen Mitausreißer Niki Terpstra. 2014 hätte er das Spitzenquartett um Fabian Cancellara, Sep Vanmarcke, Greg Van Avermaet und Stijn Vandenbergh nach dem Paterberg fast noch eingeholt. Nur eine Zusammenarbeit der vier Führenden, die wussten, wie ein Sprint gegen Kristoff ausgehen würde, hielt ihn auf Distanz, obwohl ihm nur Sekunden zum Anschluss fehlten. „Das waren die besten Jahre meiner Karriere“, sagt er. „2014 habe ich Mailand–San Remo und zwei Tour-Etappen gewonnen und 2015 hatte ich 20 Siege und die Flandern-Rundfahrt. Ich wollte immer auf dieses Niveau zurückkommen, aber es ist nie einfach, an ein Spitzenjahr anzuknüpfen. Es ist nicht umsonst ein Spitzenjahr. Ich war im perfekten Alter – 27, 28 Jahre. Ich konnte es im Training sehen, und die Maximalleistung, die ich hatte, war damals höher. Deine Muskeln sind am stärksten; mit 33 bist du nicht so stark wie mit 26 oder 27 – es ist einfach Physiologie. Es ist normal, dass du bei einer Maximalbelastung schwächer bist. Ich kann immer noch über 1.600 Watt treten, aber damals waren es über 1.700. Aber bei längeren Intervallen bin ich nicht schlechter als früher, bei den Klas­sikern also auf demselben Niveau.“ Das heißt, dass Kristoff wahrschein­-lich nicht mehrere Tour-Etappen gewinnen wird wie in seiner Glanzzeit. Er kann so wie 2018 auf den Champs-Élysées auftauchen und die anderen Überlebenden der Berge schlagen, aber mit der Zeit – und wenn sich seine Spitzengeschwindigkeit in noch mehr Beständigkeit bei längeren Belastungen verwandelt – werden seine Priorität die Klassiker sein. Für 2020 hat sein Team das bestätigt: Der Norweger fährt zum ersten Mal seit 2012 den Giro d’Italia, während sein Teamkollege Fernando Gaviria es auf die Sprints bei der Tour abgesehen hat.

„Es wird schwer, für den Giro in Topform zu kommen, weil es nicht viel Ruhezeit nach den Klassikern gibt. Aber ich bin immer in guter Form, und wenn ich mich nicht allzu sehr verausgabe, werde ich nicht allzu schlecht sein. Aber vielleicht auch nicht allzu gut. Durchschnitt. In der Vergangenheit war Durchschnitt genug, also werden wir sehen.“ Aber das heißt nicht, dass Kristoff kei­-ne Rennen mehr gewinnen kann. Gent–Wevelgem 2019 war vielleicht das Rennen, das Kristoffs Stärken am besten zusammenfasst – eines der schwersten Eintagesrennen der gesamten Saison, das durch den Wind auseinandergerissen wurde und bei dem Kristoff den Sprint leicht aussehen ließ, wenn auch begünstigt durch clevere Taktik. „Im Schlusssprint sagte mir Fernando [Gaviria], dass er tot ist und nicht sprinten kann. Ich sah später, dass er an mein Hinterrad ging und es nicht halten konnte, und das versaute es den anderen Sprintern. Sie waren an seinem Hinterrad, aber es war nicht das Hinterrad, dem man hätte folgen sollen“, erzählt er.  Beim Giro werden sich Siegchancen auf einigen der längeren Etappen oder gegen Ende des Rennens bieten – er hat dort noch nie eine Etappe gewonnen. Und da das olympische Straßenrennen und die Weltmeisterschaft in diesem Jahr hügelige Kurse haben, wird Kristoff im Spätsommer seine normal gute Leistung beim Bretagne Classic, den Cyclassics Hamburg und vielleicht dem GP Québec abliefern, wo er schon einmal Dritter war. Ähnlich wird es wahrscheinlich 2021, 2022 und vielleicht dar­über hinaus sein. „Ich fühle mich ein bisschen alt“, sagt Kristoff, der im Juli 33 wird. „Vor zwei Jahren fühlte ich mich jung, aber plötzlich gehöre ich zu den älteren Jungs – da sind Jungs in meinem Team, die über zehn Jahre jünger sind. Auf einmal war ich nicht mehr jung, sondern alt, und ich hatte nie das Gefühl, in der Mitte zu sein.“ Aber in der Mitte ist Alexander Kristoff, der sein Leben und seine Karriere dadurch definiert hat, dass er konstant, beständig und ausgeglichen ist, am glücklichsten. Selbst wenn die Leistungen, die er bei einigen der schwersten Rennen der Welt bringt, im Extremen liegen.



Cover Procycling Ausgabe 193

Den vollständingen Artikel finden Sie in Procycling Ausgabe 193.

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