Den Rhythmus finden

2015 fuhr Floortje Mackaij als Teenager ins Rampenlicht und gewann Gent–Wevelgem. Jetzt, in ihrem siebten Jahr als Profi, erzählt die Holländerin Procycling, warum sie sich stärker denn je fühlt.

 

Als Annemiek van Vleuten im Zen­trum von Geraardsbergen bei den Karussells und vor dem Kopfsteinpflaster, das den Beginn des Anstiegs signalisiert, das Peloton in die Länge zu ziehen begann, rissen Lücken auf. Die Siegerin von 2019, Chantal Blaak, blieb anfangs bei van Vleuten, aber als die Steigung steiler wurde – fünf Prozent, acht Prozent –, fielen die Fahrerinnen zurück. Nur Floortje Mackaij im leuchtend roten Sunweb-Trikot hielt Schritt mit van Vleutens Beschleunigung, die Augen fest auf ihr Hinterrad gerichtet. 

 

Als die Steigung steiler und steiler wurde – bis zu 19 Prozent –, setzte sich van Vleuten von ihrer jüngeren Landsfrau ab, und als die Kapelle auf der Kuppe in Sichtweite kam, war sie allein. Jetzt war sie nicht mehr einzuholen – die Weltmeis­terin fuhr zu einem eindrucksvollen Sieg, und Mackaij konnte sich den dritten Platz sichern. Floortje Mackaij konnte mit ihrem Vorstoß zwar das Rennen nicht gewinnen, aber es war ihre eigene Absichtserklärung für die bevorstehenden Klassiker. Ein Indikator, dass ihre Form genau da war, wo sie zu Beginn des Jahres sein sollte, vielleicht sogar besser. Van Vleuten mag im Moment die beste Fahrerin der Welt sein, aber Mackaij gilt seit Langem als eines der größten Talente der Niederlande. Dann brach die Coronavirus-Pandemie aus, und die Rennen wurden abgesagt. Mackaij sollte die Frühjahrsrennen fahren, an ihren beeindruckenden Saisonauftakt anknüpfen. Stattdessen saß sie zu Hause und sprach über Skype mit Procycling.

„Zuerst fühlte ich mich beschissen, weil ich glaube, ich bin stärker, als ich es je war“, sagt Mackaij. „Ein paarmal habe ich meine Saison früher beendet als in anderen Jahren, weil ich eine Kieferfraktur oder einen Knochenbruch hatte. Das Ende meiner Saisons war immer komisch. Das war das erste Mal, dass ich bis Oktober Rennen gefahren bin – es war eine lange Saison. Im Winter habe ich den Trainer gewechselt. Manchmal wusste ich nicht, wie ich mich fühle, und dann im Rennen wusste ich: Okay, ich bin, wo ich sein will. Es gibt noch Entwicklungsspielraum, ich bin bereit für die Saison. Aber als es dann losging …“, bricht sie den Satz ab. „Radrennen sind eigentlich keine große Sache, es gibt Größeres in der Welt.“ 

Man kann nicht wirklich sagen, dass 2019 ein Durchbruch für Mackaij war, zumal sie seit 2014 Profi ist. Als 19-Jährige fuhr sie mit ihrem Sieg bei Gent–
Wevelgem 2015 ins Rampenlicht und eta­blierte sich als eines der vielverspre­chends­ten Talente der Niederlande. Seitdem hat sie eine beeindruckende Reihe von Top-
Ten-Resultaten bei den Frühjahrsklassikern folgen lassen: Dritte beim Dwars door Vlaanderen, zweimal Zweite beim Le Samyn, Siebte bei der Ronde Van Drenthe, Fünfte beim Brabantse Pijl. Es war vor allem ihr zweiter Platz bei Lüttich–Bastogne–Lüttich im April im letzten Jahr, der die Fortschritte der Niederländerin unterstrich. 

Lüttich ist das hügeligste und härteste Eintagesrennen im Kalender der Frauen, und es ist nicht Mackaijs typische Kost. Flache Straßen und Kopfsteinpflasterhügel passen mehr zu ihrer puren Geschwindigkeit und Power. Trotzdem – als van Vleuten sich wieder mal abgesetzt hatte und als Solistin zum Sieg fuhr, blieb Mackaij über die Anstiege La Redoute und Roche-
aux-Faucons in der Gruppe der Verfolgerinnen, sprang zwei Kilometer vor der Linie weg und heimste den zweiten Platz ein. Vielleicht ist es eine Mischung aus Jugend und Erfahrung, die Mackaij geholfen hat, in den letzten zwölf Monaten zu ihrer Bestform zu finden. So jung Profi zu werden – sie war 18, als sie 2014 bei Sunweb unterschrieb –, kann abträglich sein für ein junges Talent und das Risiko eines Burn­outs bergen. Der Ehrgeiz, auf höchstem Niveau zu konkurrieren, muss sorgfältig gemanagt werden. 

Aber Mackaij hat sich immer weiterentwickelt, und in einem Team, das mit Talenten gespickt ist, musste sie die Last der Erwartungen nie selbst tragen. Im Oktober erst 24 geworden, ist sie jetzt in einer Position, wo sie sieben Jahre Erfahrung hat, aber jung genug ist, um sich körperlich noch steigern zu können. „Ich glaube, dass ich jetzt viel darüber weiß, wie man Rennen fährt. Die jungen Mädchen, die in unser Team kommen, wissen in einigen Situationen nicht, was sie machen sollen. Das ist genau so wie wenn du Autofahren lernst, zum Beispiel. Für mich ist das alles selbstverständlich. 

Ich muss noch viel lernen, es gibt viel zu verbessern, aber es hat sich von alleine entwickelt. Jetzt sehe ich einen großen Unterschied zwischen mir als 18-Jährige und jetzt als 24-Jährige, weil ich jetzt die jungen Mädchen sehe, die ins Team kommen. Ich finde es gut, wie ich mich entwickelt habe und wo ich im Moment stehe“, sagt Mackaij.  „Es geht nicht nur ums Radfahren, es geht um Ernährung, es geht um das richtige Training zur richtigen Zeit, die richtige Ruhe zur richtigen Zeit, und zum Beispiel klettere ich jetzt viel mehr im Hinterland von Monaco, und das macht auch viel aus. Ich denke nicht wirklich darüber nach, weil ich es einfach mache – so mache ich eigentlich alles. Ich genieße es und weiß: Wenn ich im Kopf glücklich bin, dann werden meine Beine funktionieren. Das ist das Wichtigste.“ 
 

 



Cover Procycling Ausgabe 196

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