In Rage zum Sieg

Julian Alaphilippe ist einer der größten Stars im Weltradsport, und sein Charisma entspricht seinen Allrounder-Qualitäten und Resultaten. Procycling trifft den unbezähmbaren Franzosen auf einen Plausch.

 

Gerade als es schien, Kreativität, Charakter und Vielfalt seien aus der Tour de France herausgepresst worden durch Wissenschaft, Zahlen und negative Taktik, tauchte Julian Alaphilippe auf und fegte durch das Rennen wie ein wirbelnder Derwisch. Der Franzose verlieh einem Event Farbe, das vergraut und monochrom war, und es ist symbolisch, dass er mehr Zeit im Gepunkteten oder Gelben Trikot als in seinem Mannschaftsdress verbrachte. Sein überschäumendes Selbstbewusstsein und seine aggressive Fahrweise begeistern Fans und Medien, und er zeigt nicht jene Langeweile, die Peter Sagan im Umgang mit der Presse befallen hat, oder das ostentative Misstrauen von Vincenzo Nibali. Diese beiden Fahrer bestechen mit ihrer Klasse, machen aber abseits der Rennen manchmal den Eindruck, dass alles ein bisschen mühselig ist.

Ich weiß noch, wie ich mir Alaphilippe am zweiten Ruhetag der Tour 2018 kurz vornahm, als er bereits einen Etappensieg im Plus und ziemlich sicherer Gewinner des Gepunkteten Trikots war. Er nuckelte brav an einer Dose Maes 0,0 %, das alkoholfreie Bier, das sein Deceu­ninck-Team an jenem Tag als Sponsor vorgestellt hatte, und ich sagte ihm, dass er als französischer Fahrer, der in seinem Heimatrennen gut fährt, doch besonders im Fokus stehen müsse. Wie er mit dem Druck umgehe, wollte ich wissen. Das französische Wort für „Druck“ ist dasselbe wie für „Bier vom Fass“: pression. Ohne mit der Wimper zu zucken, hielt er seine Dose hoch und informierte mich, dass die pression köstlich sei. Alaphilippes Tour 2019, bei der er das Gelbe Trikot noch weit bis in die letzte Woche hinein trug und sogar wie ein möglicher Sieger aussah, bevor ihm die kalte Realität in den Alpen den Schwung aus den Beinen nahm, versetzte viele Leute in helle Aufregung. Konnte der Künstler die Tour den Wissenschaftlern entreißen? Konnte er die Ineos-Maschine schlagen? Das Narrativ entstand langsam. Niemand war sehr überrascht, als er die knackige Etappe nach Épernay gewann, obwohl er ein kleines Wunder vollbrachte, als er das Gelbe Trikot an diesem Tag holte. Aber er fuhr stärker als erwartet, als er drei Tage später mit und sogar vor den großen Favoriten in La Planche des Belles Filles ankam. Wir erklärten das einfach damit, dass ein Puncheur in einem steilen Schlussanstieg gut fährt. Als er mit Thibaut Pinot auf dem Weg nach Saint-Étienne angriff und seinen Rivalen weitere 20 Sekunden abnahm, hatte die L’Équipe begonnen, mithilfe einer farbigen Risikomatrix zu spekulieren, wie lange er das Gelbe Trikot behalten würde. Sie gab den Etappen nach Brioude, Albi und Toulouse die Farbe Grün – sein Vorsprung von knapp über einer Minute würde dort sicher sein.

Die Etappe nach Bagnères-de-Bigorre in den Pyrenäen war orange – vielleicht wäre die Hourquette d’Ancizan zu viel für ihn. Das Zeitfahren in Pau und die Etappe zum Tourmalet waren rot. Sich zu überlegen, ob er seinen Vorsprung am Tag nach dem Tourmalet auf dem Weg nach Prat d’Albis behalten könnte, war eine so unvorstellbare Idee, dass diese Etappe nicht einmal mit aufgenommen wurde. Am Ende fuhr er gut genug, um am ersten Tag im alpinen Hochgebirge die Abfahrt vom Col du Galibier herunterzujagen und die Spitzengruppe einzuholen, sodass er nur noch zwei Bergetappen überleben musste, um die Tour zu gewinnen. Natürlich waren die Leute aufgeregt. Aber bevor der Sport und seine Resultate berücksichtigt werden, ist das Wichtigste an Julian Alaphilippe, dass er vollkommen, offensichtlich und unbestreitbar er selbst ist. Diese elementare Wahrheit unterstreicht den Rest, auch wenn er nicht erklären kann, wo es herkommt. Es war einfach immer so.

„Ich bin derselbe Mensch, der ich vor einem Jahr, vor fünf Jahren oder sogar vor zehn Jahren war“, sagt er bei einem Skype-Gespräch von seinem Stützpunkt in Andorra aus. „Ähm, ich habe mir einen Schnurrbart wachsen lassen … aber nichts hat sich geändert an meiner Art, meiner Lebensweise, meiner Arbeitsweise und meiner Lebensauffassung. Als Fahrer ist es jetzt für mich schwerer, in eine Ausreißergruppe zu kommen – einige Teams behalten mich nun wirklich im Blick. Aber ich arbeite hart und weiß, was ich will. Ich bin so, seit ich klein war, trotz meiner Resultate oder dem, was in den letzten zwei oder drei Jahren passiert ist. Mit gefällt, was ich mache, und mir gefällt, wer ich bin. Die beste Frage wäre: Warum sollte ich mich ändern? Ich glaube, ich habe mich eigentlich nie geändert.“ Aber was sich geändert hat, ist unsere Reaktion auf ihn. In seinen Anfangsjahren, bevor er lernte, wie man gewinnt, war er bei großen Rennen immer beständig, ohne je den Durchbruch zu schaffen. Seine zweiten Plätze hinter Alejandro Valverde bei Lüttich–Bastogne–Lüttich 2015 und beim Flèche Wallonne 2016 sowie hinter Peter Sagan auf der 2. Etappe der Tour de France 2016 quittierte er, indem er vor Frust auf den Lenker schlug. Er sah aus, als hätten seine Fähigkeiten nicht ganz Schritt gehalten mit seiner Impulsivität und seinen Ambitionen. Jetzt reden wir über einen Fahrer, der vorstellbar mindestens vier Monumente gewinnen könnte und vielleicht sogar, eines Tages, die Tour.



Cover Procycling Ausgabe 196

Den vollständingen Artikel finden Sie in Procycling Ausgabe 196.

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