Das Rennen gegen die Zeit

Cadel Evans hat seinem Alter zum Trotz mit 34 Jahren als erster Australier die Tour de France gewonnen. Das Rennen seines Lebens kehrte seit Langem herrschende Trends um und faszinierte Millionen Zuschauer.

 

Das Bild an sich war bemerkenswert und die Parallele umso mehr: In einer Spanne von sechs Jahren gingen der Däne Michael Rasmussen und der Franzose Thomas Voeckler – mit einem Podiumsplatz im Visier – in ein abschließendes Zeitfahren der Tour de France und beendeten es mitten auf einer befahrenen Autobahn. Wie oder warum sie dort hingekommen sind, schien niemand und am allerwenigsten Rasmussen oder Voeckler zu wissen. In beiden Fällen zählte nur, dass keiner der beiden Männer sein Ziel eines Top-Drei-Platzes in Paris erreichte.
 
Vieles hat sich seit 2005 geändert. Die Tour de France in jenem Jahr war die letzte, die Lance Armstrong gewann, die letzte, die Jan Ullrich fuhr, und die erste für Cadel Evans. Die Schleck-Brüder Frank und Andy waren gerade luxemburgische Meister geworden, wobei Andys Sieg im Zeitfahren der erste seiner Profikarriere war. Frankreich erkannte gerade, was Thomas Voeckler ein Jahr zuvor schon gewusst hatte: dass er – ungeachtet des Gelben Trikots – nie die Tour gewinnen würde. Und Liberty-Boss Manolo Saiz erlebte, wie ein Tour-Debütant namens Alberto Contador Paris auf dem 31. Platz erreichte, und sagte gegenüber Procycling, dass Contador die Grande Boucle 2007 gewinnen würde. Was er dann auch tat.
 
So sehr die Tour 2011 wie eine Retro-Tour wirkte, sie war auch ein Rennen, das so viele eingeschliffene Muster, so viele überlieferte Vorstellungen infrage stellte, dass sie oft wie das Jahr Null wirkte. Contadors Unangreifbarkeit, Andy Schlecks Position als Nächster in der Reihe, der Anfang von Evans Niedergang, die Unfähigkeit der Gastgeber, um die größten Preise mitzufahren – am Ende dieser drei Wochen gab es kaum eine Säule überlieferter Weisheiten, die noch stand. Außer natürlich Mark Cavendishs Dominanz im Sprint, ohne die es sich vielleicht überhaupt nicht wie eine Tour angefühlt hätte.
 
Am Ende, beim Todeskampf der beiden Poulidors ihrer Generation, triumphierte Evans über Schleck. Noch eine weitere universelle Wahrheit wurde untergraben: Der erste australische Sieger war der am wenigsten stereotype Australier, den man sich vorstellen kann – ein eigenartiger, sensibler „Europhiler“, der sich mit Belgiern, Schweizern, Italienern und Amerikanern umgibt. Mit 34 war er auch der älteste Champion seit dem Zweiten Weltkrieg. „Ich weiß nicht, ob er die Tour de France noch einmal gewinnt“, sagte der Ex-Profi Jean-François Bernard. Aber wen interessiert das jetzt? Nicht Evans, der auf seiner abschließenden Pressekonferenz unter Tränen verriet, der letzte Wunsch seines verstorbenen italienischen Trainers Aldo Sassi sei gewesen, dass er eine große Rundfahrt gewinnt – und hoffentlich die Tour de France, weil die am meisten Prestige habe. „Wenn du das schaffst, bist du der kompletteste Fahrer deiner Generation“, sagte Sassi dem frü-heren Mountainbiker, den er und der Mapei-Besitzer Giorgio Squinzi an einem Herbsttag im Jahr 2001 im dritten Stock ihres Büros in Mailand für eine Karriere auf der Straße unter Vertrag genommen hatten.
 
Hatte Sassi Recht? Kann Evans jetzt als vielseitigster Champion seiner Ära gelten? Die Tatsache, dass er der erste Sieger einer großen Landesrundfahrt seit Abraham Olano 1995 ist, der auch ein Regenbogentrikot besitzt, ist ein überzeugendes Argument. „Aldo war sich sicher, sobald er Cadel 2001 kennenlernte, und bei Tests mit ihm stellte er fest, dass er ein Phänomen ist“, erinnert sich BMC-Arzt Massimo Testa, ein früherer Kollege von Sassi bei Mapei. „Aldo sagte: ‚Lass mich mit diesem Jungen arbeiten, und ich mache einen Champion aus ihm.‘ Es vergingen fast zehn Jahre harter Arbeit, dann verstarb Sassi im letzten Winter. Doch er hatte recht: Cadel hatte als Teenager nicht nur Weltklasse-Mountainbike-Rennen gewonnen, er hatte sie komplett dominiert …
 
Natürlich gehörte dazu mehr als Evans’ außergewöhnliche Physis. „Es ist schön, hin und wieder ein bisschen Glück zu haben“, sagte er während der Tour mehrere Male unter Anspielung auf sein Verletzungspech bei den Frankreich-Rundfahrten 2008 und 2010. Es gehörte auch mehr als Glück dazu, wobei Evans und BMC ihr Glück in den ersten zehn Tagen selbst machten. So viel zu investieren, um ihren Kapitän in den ersten anderthalb Wochen aus Problemen herauszuhalten, war ein Lotteriespiel, aber es zahlte sich aus. „Ja, wir wurden kritisiert, weil wir uns so oft an die Spitze gesetzt haben, aber wir haben unser Ziel erreicht: Cadel aus allem herauszuhalten“, sagte uns eines der menschlichen Schutzschilde bei BMC, Manuel Quinziato, nachdem Evans beim Zeitfahren in Grenoble seinen Gesamtsieg perfekt gemacht hatte. Für Quinziato, Markus Burghardt, Michael Schär und in gewissem Maße für George Hincapie waren die Ausläufer der Pyrenäen ihre Champs Élysées. „Wir sind Klassikerspezialisten, und bis dahin war alles ein Mini-Klassiker“, sagte Quin-ziato. „In der Vergangenheit hatte Cadel oft einen schlechten Tag. Niemand konnte wissen, dass er in diesem Jahr keinen hatte, obwohl seine Teamkollegen in den ersten zehn Tagen härter gearbeitet haben und er weniger nervliche und physische Energie verbraucht hat“, fügte Testa hinzu.
 
Zeichen dafür gab es schon am zweiten Tag, als BMC auf den zweiten Platz im Mannschaftszeitfahren in Les Essarts stürmte. Im Teambus umarmte Evans abends alle seine Teamkollegen, um sich für ihre Leistung zu bedanken. „Ich war noch nie in einem solchen Team, Jungs“, freute er sich. Schon im Umgang mit seinen Fußsoldaten, wenn nicht mit den Medien, war Evans ganz anders und viel entspannter als der Evans, über den sein früherer Zimmergenosse bei Silence-Lotto, Mario Aerts, Anfang des Jahres sagte: „Bei der Tour mit ihm zusammenzuwohnen, hat mich nervös gemacht. Ich hatte Angst, dass, wenn ich das Rennen erwähne, er die ganze Nacht wach liegt und darüber nachdenkt.“
 
Ein Etappensieg, Evans’ einziger, folgte 24 Stunden später auf der Mûr de Bretagne, und die nächste Woche verlief ohne Störungen. Zwischen den Vulkanen der Auvergne in Super-Besse setz-te BMC vor dem Schlussanstieg zu einer furiosen Aufholjagd an – mit dem einzigen kurzfristigen Ziel, Evans für ein paar Tage ins Gelbe Trikot zu bringen. Viele, darunter auch wir, machten sich darüber lustig. Wir lagen falsch. Das zehntätige Lotteriespiel zahlte sich aus.
 
In den Pyrenäen lief Evans zu einer hartnäckigen Höchstform auf. „Ich bin überzeugt, dass Evans in Bestform so gut wie Contador ist“, hatte Sassi 2010 gesagt. Aber ausnahmsweise einmal wirkte der Spanier in den Bergen wie ein Normalsterblicher, nachdem er bereits vier Minuten bei Stürzen und im Mannschaftszeitfahren verplempert und zu viel wertvolle Energie beim Giro gelassen hatte. Am Hinterrad zu bleiben, war nie ein Problem für den Australier gewesen, und jetzt gab es niemanden mit dieser Art von Düsentrieb-Beschleunigungen, der seinen Dieselmotor durcheinanderbrachte. Das wurde deutlich bei den zunehmend verzweifelten Versuchen der Schleck-Brüder, das neue Maillot Jaune, Thomas Voeckler, aus dem Rhythmus zu bringen. „Die Schlecks beschleunigen 100 Meter, aber nicht schnell, und das spielt Voeckler genau in die Karten, weil das genau die Art von Leistung ist, die er als Nicht-Klassementfahrer zu bringen gewohnt ist“, bemerkte Cyrille Guimard, der als Sportlicher Leiter auf sieben Toursiege zurückblicken kann.
 
Der Kontrast zwischen Voeckler und den Schlecks war offensichtlich: Je geringer der Unterschied in ihren Fähigkeiten wirkte, umso unterschiedlicher war die Größe ihrer jeweiligen Erwartungen, und das merkte man an allem, was sie taten. Mit jeder Attacke, die vereitelt wurde, jedem wütenden Zucken von Andys Halsmuskulatur, wuchs die Spannung im Leopard-Trek-Lager. Im Peloton waren die Schlecks reizbar und empfindlich. In einer Verpflegungszone musste sich der Team-Sky-Fahrer Ben Swift an der Spitze des Feldes scharfe Kritik wegen „Fahrens in der Verpflegungszone“ anhören. Aber dieses Mal gab Swift ordentlich Contra – er hatte nicht vergessen, dass Andy ihn schon einmal nach einem Crash bei der Großbritannien-Rundfahrt 2006 mit einem ähnlichen Wortschwall beschimpft hatte. Die Schlecks liefen Gefahr, die Gunst zu verspielen, mit der sie in die Tour gestartet waren – inmitten der Pfiffe für Contador bei der Team-Präsentation in der Vendée. Der Eindruck war der einer gefühlten Berechtigung, eines Anspruchs ähnlich dem, den ihr Teamkollege Fabian Cancellara im vorigen Jahr in Spa an den Tag gelegt hatte, als „Spartacus“ Gewerkschaftler geworden war, um das Rennen nach Andys Crash auf der Abfahrt von der Côte de Stockeu neutralisieren zu lassen.

Das war ein weiterer roter Faden: die Abneigung gegen Abfahrten, vor allem im Regen. Die 69 Sekunden, die Schleck auf der 16. Etappe vom Col de Manse hinunter nach Gap verlor, kosteten ihn fast die Tour. Sein Jammern – „die Leute wollen kein Rennen, das bergab entschieden wird“ – kostete ihn außerdem einige Fans. Was Evans erkannt hatte, aber die Schlecks erst begriffen, als sie den Izoard erreichten, war, dass die Namen und die Dopingkontrollen nicht das Einzige sind, was sich seit 2005 geändert hat. Die Retro-Tour hat schließlich, Gott sei Dank, das Rennen und seine Protagonisten aus dem tranceartigen Zustand aufgeweckt, der mit Miguel Indurain Anfang der 90er begann und mit Armstrong neue Tiefen der Anästhesie erreichte, die so weit gingen, dass wir alle vergessen haben, dass es auch anders sein kann. Teils dank Voeckler, aber auch dank Contador und eines brillanten Parcours war die Tour wieder ein Rennen geworden. Ein Sport, ein Spiel mit Elementen wie Geschick, Courage, Intelligenz und Beweglichkeit – das genaue Gegenteil eines Leistungstests im Labor, das einige Fahrer immer noch erwarten oder bevorzugen würden.

 

Wenn Evans nie wieder eine Tour gewinnt, dann besteht jetzt die Gefahr, dass das auch für Andy Schleck gilt. Aber das bezweifeln wir. Hoffentlich lernt der 26-Jährige, so wie er auf der 18. Etappe gelernt hatte, dass die Zeit gekommen war, das erste größere Risiko in seiner Tour-de-France-Karriere und der seines Bruders einzugehen. Schlecks Ritt hinauf auf die legendären Gipfel des Izoard und des Galibier hat dasselbe Prädikat verdient wie diese Berge. Was er jetzt vielleicht begreifen muss, ist, dass die anderen großen Stars, die ihre Palmarès und ihre Aura auf diesen Gipfeln begründet haben, nicht mit zwei Rennen im Jahr hätten durchkommen können. Ja, wir wissen, dass Schleck sich auch bei einigen anderen Rennen außer Lüttich–Bastogne–Lüttich und der Tour de France eine Nummer an den Rücken heftet, aber bei wie vielen anderen Gelegenheiten fährt er tatsächlich ein Rennen?
 
Damit die Tour wieder ein Spiel wird, sollte die Vorbereitung ebenso aus Praxis bestehen wie aus Training. Praxis im Abfahren, Zeitfahren und Attackieren, ohne sich umzudrehen, und vor allem Praxis, so zu fahren, als würde jede Sekunde zählen. Wie ein Teamboss, der nicht genannt werden wollte, es formulierte: „Andy hätte die Tour meiner Meinung nach mit Sky, Garmin, Highroad oder RadioShack gewonnen, weil er seine Zeitfahrfähigkeiten voll entwickelt hätte und vollkommen bereit für das Rennen gewesen wäre.“
 
Eine andere Frage, die bezeichnenderweise von Cyrille Guimard am Vorabend der Tour gestellt wurde, ist, ob Schleck ebenso viel Hunger wie Talent hat. Sein früherer CSC-Sportdirektor Alain Gallopin hatte „das Gefühl, dass es ihm scheißegal war“, als er beim Giro 2007 Zweiter wurde, während Guimard sich über diese Niederlage entrüstete. Und trotzdem hat man in seiner Entourage das Gefühl, dass die Laissez-faire-Einstellung ihm am besten liegt. Aber wann wird das zu einem Problem? Nicht, wenn er auf der Terrasse eines Hotels sitzt und wer weiß was schlürft und zwei Tage später Dritter bei Lüttich–Bastogne–Lüttich wird, wie es im Frühjahr der Fall war. Aber bestimmt, wenn Bjarne Riis findet, dass eine größere und wahrscheinlich alkoholisiertere nächtliche Sause bei der letztjährigen Vuelta ein Vergehen ist, das mit dem Heimreisebefehl bestraft werden muss.
 
Gleichzeitig sollte, wie schon gesagt, jede Kritik an Schleck auch mit Lob verbunden sein. Seine beständige und schön anzuschauende dreiwöchige Vorstellung enthielt ein Meisterstück – seinen Ritt auf den Galibier. Aber er tat sich schwer – an dem Tag und an jedem anderen in der zweiten Hälfte des Rennens –, Voeckler aus dem Rampenlicht zu verdrängen. In den Jahrbüchern wird die Tour 2011 als die von Evans vermerkt sein, aber in unserem Herzen und Gedächtnis wird sie die von Voeckler bleiben. Es ist nicht gewagt zu behaupten, dass der Moment, als der Australier auf dem Col du Télégraphe an den Straßenrand fuhr – anscheinend mit einem technischen Problem –, seinen Sieg und Voecklers Kapitulation einleitete. „Cadel war im Begriff, denselben Fehler zu machen wie Voeckler“, sagte Evans’ früherer Silence-Lotto-Sportdirektor Roberto Damiani am nächsten Tag. „Wenn er das Problem nicht gehabt hätte, hätte Schleck das Rennen vor dem abschließenden Zeitfahren unter Dach und Fach bringen können.“ Die Anziehungskraft und Brillanz von Voecklers Leistung lag jedoch gerade in diesem Mangel an Berechnung. Seine zehn Tage im Gelben Trikot waren der wichtigste Bestandteil der Retro-Tour, das perfekte Gegengift zu Armstrongs formelhaftem Vermächtnis. Der Fran-zose und seine zähneknirschende Leistung wurden auch weithin als glaubwürdig angesehen. Ein weiterer Mann der Tour 2011, Mark Cavendish, sagte uns am zweiten Ruhetag, dass Voeckler sogar gewinnen könnte und dass es, wenn er das täte, bedeuten würde, dass das Rennen sauber sei.
 
Leider hat Voeckler das nicht, und die Tour war es nicht. Nicht ganz jedenfalls. Ja, die Gesichter waren verzerrt, die Attacken weniger explosiv und die Zeiten in Alpe d’Huez einige Minuten langsamer, aber nur ein Verrückter würde glauben, dass Alexander Kolobnew der Einzige war, der bei diesem Rennen betrog.
 
Einer der renommiertesten Anti-Doping-Experten der Welt, Michel Audran, sagte uns in Montpellier, dass an den Gerüchten über weit verbreiteten Einsatz von Kortikoiden durchaus etwas dran sei könnte. Vertreter des französischen Radsport-Verbandes und der französischen Anti-Doping-Agentur lieferten in Le Monde Beweise für diesen Trend und kritisierten, Kortikoide seien nach den unzureichenden geltenden Regeln „praktisch legalisiert“. Außerdem befürchteten sie, dass die Kontrolleure mit neuen und alten Methoden der EPO-Verabreichung und Bluttransfusionen immer noch ausgetrickst werden.
 
Worin sich alle einig zu sein schienen, war, dass diese Tour besser war. Besser als frühere Auflagen in vielerlei Hinsicht – ethisch, sportlich und was die reine Unterhaltung, das reine Spektakel angeht. Wie eine 3.430 Kilometer lange Reise in die Vergangenheit war die Retro-Tour ein kurzer Blick darauf, wie wunderbar dieser Sport einst war und wie vollkommen verführerisch er immer noch sein kann.



Cover Procycling Ausgabe 91

Den vollständingen Artikel finden Sie in Procycling Ausgabe 91.

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