Mission erfüllt

Mark Cavendish sagt selten voraus, dass er gewinnen wird. Wenn er es glaubt, verinnerlicht er es und lässt seine Leistung für sich sprechen. Er ist vorsichtig. Sehr selten sagt er vorher – und wenn, dann nur seinen Vertrauten –, dass er gewinnt. Man kann sich jedoch seinen entschlossenen Gesichtsausdruck vorstellen, wenn er es denn tut: Jetzt ist es raus, jetzt muss er es wahr machen. Es vor der Weltmeisterschaft zu sagen, bevor er den prestigeträchtigsten Titel anstrebt, den er im Radsport gewinnen kann, war ein Spiel mit dem Feuer.

 

Geschichtlicher, nationaler und persönlicher Druck lastete auf Mark Cavendish. 46 Jahre waren verstrichen, seit zum ersten und zum letzten Mal ein Brite gewonnen hatte: Tom Simpson, 1965, San Sebastián. Das beste Ergebnis in der Zwischenzeit lieferte Les West – Vierter 1970. In der modernen Ära gibt es WM-Kurse, die Sprintern liegen, vielleicht nur ein- oder zweimal in zehn Jahren. Wenn er es verpatzt hätte, wann hätte der beste reine Sprinter der heutigen Generation eine weitere Chance bekommen?

Das  Team GB schottete sich im Vorfeld des Rennens ab. Die meisten Mannschaften sprachen mit den Medien, und ihre Kapitäne spekulierten, wie sich das Rennen entwickeln würde. Nicht Cavendish. Er behielt seine Meinung für sich. Fast widerwillig hielt das Team eine Pressekonferenz ab, zu der man sich aber vorher anmelden musste. In einem stickigen Raum im Souterrain saß eine Handvoll Journalisten im Halbkreis um den britischen Trainer Shane Sutton und Bradley Wiggins herum. Der Londoner hatte einfach keine Lust auf die Pressekonferenz. Trotzdem absolvierte Wiggins seinen besten Schlachtvorbereitungsauftritt und sprach darüber, dass das Rennen „sehr hart umkämpft“ sein würde und dass Cavendish die „Leistung seines Lebens“ würde abliefern müssen, um zu gewinnen.

Es gab keinen Hinweis auf einen Plan B, keine Andeutung, dass man es zulassen würde, dass das Rennen sich entfaltet, ohne dass das Team GB den Ton angibt. Das Team war entschlossen, das Rennen beim Nacken zu packen und es zu beherrschen.

Der Tag des Rennens war warm und sonnig, und es hätte ein beliebiges Profi-Rennen auf dem Kalender sein können. House-Musik schallte aus dem Team-Sky-Bus, der für nationale Aufgaben im Einsatz war. Mechaniker und Mitarbeiter lehnten mit verschränkten Armen am Auto. Am Start war ein langes, schmales Zelt aufgestellt und in Verschläge für kleinere Nationen eingeteilt worden. Hier machten die Fahrer lockere Witze und spekulierten über die Sieger. Wie der Zufall es wollte, strömten Tausende Teilnehmer eines Fun-Runs plötzlich am Eingang des Zelts vorbei. Die Fahrer waren eine Viertelstunde lang eingesperrt, bis die Läufer vorbeigezogen waren.

Beim Rennen selbst waren die rot-weißblauen britischen Fahrer an der Spitze allgegenwärtig. Chris Froome und Steve Cummings teilten sich die Arbeit mit verschiedenen anderen Nationen, vor allem den Deutschen, um das Tempo hochzuhalten und gefährliche Attacken zu vereiteln. Sogar als Belgien, das die britischen Pläne um jeden Preis durchkreuzen wollte, Johan Van Summeren und Olivier Kaisen mit einer fünfköpfigen Gruppe nach vorn schickte, blieb das Team GB unter David Millars Führung standhaft. Cavendish schien die ganze Zeit an Jeremy Hunts Hinterrad festzukleben. Auf der letzten Runde sorgte Wiggins mit einer wahren Herkules-Leistung dafür, dass späte Ausreißer zur Strecke gebracht und Attacken aus allen Lagern abgewürgt wurden. Dann war es an Ian Stannard und Geraint Thomas, den Sprint für Cavendish anzuziehen. Als die Ziellinie auf dem endlosen Geels Hill näher rückte, schien der Sprintkönig fatal eingeklemmt zu sein. Doch die letzten 500 Meter gehörten dann Cavendish und seiner überlegenen Fahrweise. Er wechselte von Thomas’ Hinterrad an das seines HTC-Kollegen Matt Goss, dann an das von Lars Boom, bevor er seinen Sprint 200 Meter vor der Linie anzog. Das war – in Anbetracht des Anstiegs – früher, als ihm lieb war, aber er kam durch, knapp vor Goss und André Greipel. Er war der neue Weltmeister und mit 26 Jahren der jüngste seit Tom Boonen 2005.
Es war auch die Krönung einer generalstabsmäßigen Planung. Und so brachte das britische Team Cavendish in die perfekte Position:
 
Der Architekt
Es wurde viel Wind gemacht um das „Project Rainbow Jersey“ – Rod Ellingworths Masterplan, um Mark Cavendish und Großbritannien zu Weltmeistern zu machen. In der Hysterie nach dem Rennen war dabei eine wichtige Tatsache leicht zu übersehen: Jeder Fehler von Cavendish auf der Zielgeraden hätte den Mann von der Isle of Man das Regenbogentrikot gekostet. Nicht nur das, sondern Ellingworths Vision hätte dann als verblendeter und teurer Traum verurteilt werden können.

„Wir haben einiges gemacht, um uns gezielt auf den Sprint selbst vorzubereiten“, sagte Ellingworth im Oktober zu Procycling. „In der Woche vor der Großbritannien-Rundfahrt haben wir einige Sprints mit Mark gemacht, der aus dem Windschatten eines Autos bei rund 75 oder 80 km/h heraussprintete. Das ist echte Tempoarbeit, da kommen die Beine wirklich ins Rotieren.

Das war also der körperliche Teil“, fährt Ellingworth fort. „An der mentalen Seite haben wir noch mehr gearbeitet. Ich habe Cav immer wieder eingeschärft, dass der Sprint chaotisch wird – ein echter Kampf. Darauf musste er gefasst sein. Es würde nicht wie eine Tour-Etappe sein, wo alle üblichen Verdächtigen und die üblichen Sprintzüge da sind, während alle anderen sich raushalten.

Nein, jeder will unbedingt eine Medaille und hat jedes Recht, es darauf anzulegen. Wenn ein Franzose sich in die Linie gedrängt hätte und wenn ein kleiner Iraner unter seiner Schulter aufgetaucht wäre, musste er darauf vorbereitet sein und cool bleiben. Vor dem Rennen selbst habe ich Jeremy Hunt instruiert, auf ihn aufzupassen. Ich sagte Jez, wenn Cav zu irgendeinem Zeitpunkt in dem Rennen anfängt rumzuschnauzen oder sauer zu werden, soll er ihm sagen, dass er die Klappe halten soll. Sich zu echauffieren – damit würde er nur Energie verschwenden.

Der andere wichtige Punkt – den einige Leute vielleicht nicht verstanden haben – ist, dass wir nicht wollten, dass Cav das dritte Rad hinter zwei Briten ist, wenn es in die letzte Kurve und auf die Zielgerade geht. Als Cav die Zielgerade sah, wusste er, dass der Sprint genau wie der in Cap Fréhel bei der Tour sein würde, wo er von der zehnten Position aus gekommen ist und auf der Linie ganz knapp vorn war. Wenn er bei schweren Finals wie diesem in der Vergangenheit verloren hat, dann, weil seine Teamkollegen ihm den Sprint von vorne anzogen und ihm am Ende die Kraft ausging. Als Ian Stannard also Platz für ihn machte, sah er Matt Goss und setzte sich ungefähr an die achte Position – Cav sagte, das war perfekt für ihn.

Geraint [Thomas] war vielleicht ein bisschen enttäuscht, dass er nicht dazu kam, Cav den Sprint voll anzuziehen, aber er hatte seinen Job gemacht, indem er sich um Mark gekümmert hat.
Klar, das Ganze war natürlich auch ein bisschen Zockerei. Aber es gab keine andere Art, es zu machen. Ich war erstaunt, dass [der italienische Auswahltrainer Paolo] Bettini nach dem Rennen sagte, der Sprint hätte Bennati nicht gelegen, weil er keine chaotischen Finals mag. Es war klar, dass es chaotisch würde. Warum hat er den Typ mitgenommen, wenn er solche Sprints nicht mag?“

 

Die Grundlagenarbeit
Wiggins sagte, eine Stärke des britischen Teams war, dass die acht Männer zu verschiedenen Zeitpunkten ihrer Laufbahn alle miteinander gefahren waren und Rennen bestritten hatten: Stannard, Cavendish und Thomas in den Förderprogrammen von British Cycling; Wiggins und Cavendish bei Highroad; Millar und Wiggins bei Garmin; Froome, Cummings und Thomas bei Barloworld. „Das macht uns ziemlich einzigartig, verglichen mit anderen Nationen, die sich nur um sich selbst kümmern werden“, sagte der Londoner.

Viel wichtiger als die Bande, die sie einen, war es jedoch, so viele Fahrer wie möglich ins Rennen schicken zu können, und auch da schaffte das britische Team knapp den Schnitt. Am 1. August, zwei Wochen vor dem Stichtag für die Vergabe der Startplätze für die Weltmeisterschaft, war Großbritannien Achter in der Weltrangliste, wobei jedoch nur fünf Fahrer in der WorldTour gepunktet hatten. Nach den Regeln der UCI hätte das bedeutet, dass die Briten nur mit sechs Fahrern hätten antreten können. Zwei Fahrer weniger zu haben, wäre ein harter Schlag gewesen.

Bei der Polen-Rundfahrt, dem vorletzten WorldTour-Rennen vor dem Stichtag, schalteten die britischen Fahrer in den fünften Gang. Adam Blythe und Peter Kennaugh wurden jeweils Etappen-Fünfter und kassierten dafür einen einzigen, sehr wertvollen UCI-Punkt. Cummings wurde Neunter im Gesamtklassement und holte damit ebenfalls UCI-Zähler, sodass das britische Nationalteam mit acht Fahrern antreten konnte. Ihre Arbeit noch vor Beginn des Rennens hat vielleicht den Ausschlag über Sieg und Niederlage gegeben.
 
Das Team ist versammelt 
Ehre, wem Ehre gebührt: Cavendish behielt in einem chaotischen Sprintfinale die Oberhand. Mehr noch – im Vorfeld des Rennens schulterte er den Löwenanteil des Drucks und verbreitete eine ansteckende Siegesgewissheit im Team. Als er also auf der Pressekonferenz nach dem Rennen sagte, „ich war heute nur das letzte Glied in einer unglaublichen Acht-Mann-Maschine“, stellte er sein Licht unter den Scheffel. Er inspirierte das Team und schweißte es zusammen. Laut Brian Holm, seinem Sportlicher Leiter bei HTC-Highroad, sagte Cavendish vor dem Rennen: „Keine Sorge, ich gewinne.“

„Er sagt nicht sehr oft, dass er gewinnen wird“, erklärt Holm, „aber er hat es noch nie gesagt und dann nicht gewonnen. Wenn er es sagt, dann gibt er alles. Was sie [das britische Team] für ihn gemacht haben, war fantastisch. Es war eine stärkere Mannschaftsleistung als die der Italiener in Zolder 2002. Der Kurs war schwerer, und nach dem Sturz bekamen sie nicht mehr so viel Hilfe von den Deutschen. Sie glaubten wirklich an Cav.“ Die motivierende Wirkung seines Glaubens an sich selbst und seines Siegeswillens durchdrang das ganze Team.

„Das ist mir bei ihm ziemlich früh aufgefallen, als er 2007 eine Etappe in Dünkirchen gewonnen hat. Ich habe noch nie gesehen, dass sich Fahrer so sehr für einen anderen ins Zeug gelegt haben“, fährt Holm fort. „Auf der letzten Etappe regnete es in Strömen, und normalerweise würden die Fahrer nach zwei Runden aussteigen und duschen, aber mit Cav fuhren sie wie verrückte Hunde, und ich erkannte: Wenn du ihn hast, kannst du aus jedem die letzten zwei oder drei Prozent rausholen, denn jetzt wollen sie gewinnen.“

Was, fragt man sich, würden Teammanager geben, um die Essenz des Erfolgs, der durch Cavendishs Adern zu fließen scheint, in Flaschen abzufüllen? David Brailsford, Teamboss von Sky und der britischen Auswahl, kann sich nun darauf freuen, mit ihm die Ziele der beiden Teams für 2012 in Angriff zu nehmen: die Verteidigung des Grünen Trikots der Tour de France und die Goldmedaille im olympischen Straßenrennen. Man hat das Gefühl, dass Cavendish, so lange es solche Herausforderungen gibt, heißhungrig auf Erfolg bleiben wird. 



Cover Procycling Ausgabe 94

Den vollständingen Artikel finden Sie in Procycling Ausgabe 94.

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