Zurück in die Zukunft

Der Radsport bekommt eine neue Verpackung als glanzvoller, homogener, globaler Sport. Peter Sagan hingegen, der neue Held von Liquigas-Cannondale, erinnert an die alten Zeiten der Allrounder: Mit erst 22 Jahren ist er schneller, als Boonen es war, stärker als Gilbert, kompletter als Cavendish. Und selbst beim Zeitfahren und am Berg muss er sich nicht verstecken. Die Frage für ihn und seine Sportlichen Leiter ist, wie man sein außerordentliches Talent am besten nutzen kann. 

 

Philippe Gilbert, der wohl beste Rad-rennfahrer der Welt, ist kein Mann der lauten Töne. Er gibt nicht an, kritisiert niemanden und bildet sich auf seine Erfolge nichts ein. Wenn er die wichtigsten Rennen der Welt gewinnt, lässt er seine Beine sprechen. In bester (altehrwürdiger) Radsport-Tradition ist er als Mensch so unkompliziert wie als Athlet beeindruckend.

Nach der Eröffnungsetappe der Tour de France 2011 jedoch tat Gilbert etwas Ungewöhnliches. Nachdem er die versammelte Konkurrenz hinter sich gelassen hatte, wurde er zum x-ten Male nach seinem unwiderstehlichen Antritt bei Bergaufsprints gefragt. Erst bestätigte er, dass er auf Etappen, die seinen geliebten Ardennen-Klassikern ähneln, niemanden zu fürchten brauche. Dann korrigiert er sich, aus Angst, unbescheiden zu wirken: „Es gibt einen jungen Fahrer, der mich schlagen kann“, sagte er, „aber der ist nicht hier …“ 

Fünf Monat nach Gilberts Bemerkung sind wir in Liquigas-Cannondales zweitem Trainingslager vor der Saison. Es ist keine große Sache, vor allem ein zwangloses Treffen für Neuzugänge, Journalisten und Ausrüster. Etwas Material wird getestet, die Medien kommen nicht zu kurz, es gibt nette Fototermine und ein recht anständiges Mittagessen. Schauplatz ist die sardinische Costa Esmeralda, und so könnte man, obwohl es noch sechs Werktage bis Weihnachten sind, leicht glauben, dass man sich im frühen Frühjahr befindet. Das Training besteht aus einer lockeren dreieinhalbstündigen Fahrt an der Küste entlang. Die Fahrer sind entsprechend ihrem Programm für 2012 in zwei Gruppen eingeteilt; die „Frühstarter“ haben ein etwas umfangreicheres Pensum. Aber letztlich gibt es hier nicht viel zu sehen. Es ist viel zu früh, um ernsthaft mit der Arbeit anzufangen, und deswegen wirkt das Ganze nicht sehr zielgerichtet. 

 

Hin und wieder verlangt die Topographie jedoch, dass das Geplauder aufhört. Dann zeigt sich die natürliche Ordnung: Während sich die Kletterer fast automatisch an die Spitze setzen, fallen die Sprinter und Rouleure perfekt synchronisiert zurück, und das Band der Fahrer zieht sich in die Länge. Danach wird die Gruppe wieder kompakter, aber die Tatsache bleibt, dass die Spezialisten sich zu erkennen geben, wenn die Steigung schmerzhaft wird. Erster unter Gleichen ist immer Ivan Basso. Er ist der beste italienische Rundfahrer, ein wahrer Champion, der in den Bergen einen Extra-Gang zur Verfügung hat. Interessanter ist die Tatsache, dass Basso, der kein Hehl daraus macht, ein schlechter Abfahrer zu sein (und der nicht sprinten kann), immer vom selben Fahrer beschattet wird. Jener, der hinter ihm denselben Gang mit der gleichen flüssigen Frequenz tritt, ist der fehlende junge Fahrer, den Philippe Gilbert meinte. 

Sein Name ist Peter Sagan, und einen Monat vor seinem 22. Geburtstag hat er schon sehr viele Profi-Rennen gewonnen. Dazu zählen Massensprints in Frankreich und Spanien, wellige Etappen in Kalifornien, Bergankünfte in der Schweiz. In nur zwei Profi-Jahren hat er mehr erreicht, als sich viele Teamkapitäne in ihrer ganzen Karriere erträumen können. Während sich um ihn herum Topradsportler die vulkanischen Hügel Sardiniens hochkämpfen, sieht er aus wie auf einer Regenerationsfahrt. Die anderen wirken wie eine Gruppe von Touristen, die sich schnaufend und keuchend ihren Weg durch die wellige mediterrane Landschaft bahnen, während Sagan buchstäblich eine Klasse für sich zu sein scheint. Und genau das, wie die meisten hier sofort zugeben, ist er. 

Zurück im Hotel nimmt sich der junge Alleskönner mit Juraj, seinem älteren und weniger talentierten Bruder und Teamkollegen, Zeit für die Medien. Bei früheren Gesprächen hatte mir ein anderer Kollege von ihm, der hoch aufgeschossene Daniel Oss, erzählt, er sei „ein schüchterner Junge und sich seiner eigenen Bedeutung immer noch nicht richtig bewusst. Er muss bei den Rennen oft angeleitet werden, nicht, weil er sie nicht versteht, sondern wegen seines Charakters. Er ist phänomenal auf dem Rad, aber das Gegenteil von jemandem wie Basso, einem geborenen Kapitän. Das – und die Erwartung – wird das Schwerste für ihn sein, weil er nur noch stärker wird, glauben Sie mir …“ 

Wie sich herausstellt, sind die Sagan-Boys angenehme Gesprächspartner. Sie sprudeln zwar nicht über (das können sie mit ihrem noch etwas begrenzten Italienisch auch nicht), aber sie reden gerne und sind alles andere als langweilig. Außerdem sind sie so unterschiedlich wie Tag und Nacht. Juraj ist 18 Monate älter als sein Bruder, sieht aber aus wie ein Teenager, ein Chorknabe. Viel kleiner als sein „kleiner“ Bruder, ist er der Archetyp eines bescheidenen Helfers der alten Schule; man muss ihn einfach mögen. Er ist sich seiner Grenzen bewusst, und es macht ihm nichts aus, für andere zu schuften und zu leiden, ohne sich zu beklagen. 

Auch Peter ist ein ruhiger Typ, doch es fällt sofort auf, dass er aus einem ganz anderen Holz geschnitzt ist. Er hat eine beeindruckende Physis – große Augen und Hände, ein entwaffnendes, klassisch gutes Aussehen. Am überraschendsten ist aber, dass er ein unglaubliches Charisma ausstrahlt. Egal, was er sagt – man hat das Gefühl, in Gesellschaft eines ganz besonderen Menschen zu sein. Er mag nicht so weltgewandt sein wie Basso – oder so reif –, aber in einer Hinsicht hat er alles mit ihm gemeinsam. Peter Sagan ist ein sehr beeindruckender junger Mann.

Er plaudert zwanglos über seine Kindheit in der Slowakei und vor allem über die Legenden, die sich schon jetzt um ihn ranken. Er mag die mittelfristige Zukunft des Radsports sein, aber die Storys gehören fest zur Vergangenheit des Sports. Eine Geschichte handelt davon, dass er das Frühstück ausfallen ließ, in Fußballshorts und Turnschuhen zum Rennen kam und trotzdem die slowakischen Junioren in ihren schicken Trikots in Grund und Boden fuhr. Am berühmtesten ist die Geschichte, wie er den slowakischen Pokal auf einem Fahrrad seiner Schwester gewann, das sie im Baumarkt gekauft hatte. „Einige von den Geschichten sind wahr, andere erfunden. Das mit dem Fahrrad meiner Schwester stimmt aber …“ 

Wer in einer Arbeiterfamilie in Žilina aufwuchs, hatte keine esoterischen sportlichen Träume, spielte entweder Fußball oder Eishockey. Auf keinen Fall machte man das, was Peter Sagan machte – sich in den Kopf zu setzen, so schnell Rad zu fahren, wie es der jugendliche Körper zuließ. Er erinnert sich gut daran: „Juraj war der einzige Radsportler, den ich kannte. Er ermunterte mich, es auszuprobieren, und ich habe sofort erkannt, dass es das Beste der Welt ist. Die Leute fanden uns komisch, und wahrscheinlich hatten sie recht. Uns war das völlig egal.“ 

Ein ungewöhnlicher Radsportheld des 21. Jahrhunderts also, der fast per Zufall dazu wurde. Er hatte eine vielversprechende Juniorenkarriere, gewann viele Rennen in allen Disziplinen. Allein 2008 gewann er als Junior die Mountainbike-Weltmeisterschaft, wurde Zweiter bei der Cross-WM und Vierter auf der Straße. Er gewann Etappenrennen gegen die besten europäischen Fahrer und wurde bei der Junioren-Version von Paris – 
Roubaix nur knapp vom Briten Andrew Fenn geschlagen. Dann bot Quick-Step ihm an, probeweise bei ihnen zu fahren. Aus unerklärlichen Grün–
den fanden sie dann, er sei noch nicht reif für einen Profi-Vertrag, und er war so enttäuscht, dass er sich wieder dem Mountainbike zuwandte. „Ich hatte andere Angebote, aber ich wollte nur bei einem ProTour-Team unterschreiben. Alles, was mit der Straße zu tun hatte – die Rennen, die Taktik, das Geschäftliche –, erschien mir so kompliziert. MTB war viel einfacher, da bist du einfach Rennen gefahren. Straßenrennen hatten mir immer Spaß gemacht, doch ich beschloss, die Sache abzuhaken.“ 

Wie das Schicksal es wollte, hatte Liquigas-Sportdirektor Stefano Zanatta den Jungen im Blick behalten und rief seinen Agenten an. Überzeugt davon, dass er es mit einem bemerkenswerten Talent zu tun hatte, setzte Zanatta Himmel und Erde in Bewegung, um ihn nach Italien zu holen. Er organisierte ihm einen Platz im Cannondale-Mountainbike-Team (sie nannten ihn „Terminator“, weil er eine solche Power hatte, dass er die Rahmen zu Bruch fuhr) und ließ ihn eine Reihe von Rennen mit Marchiol bestreiten, dem U23-Farmteam von Liquigas. Sagan glänzte in beiden Disziplinen; sein MTB- und Cross-Hintergrund manifestiert sich heute in seiner hervorragenden Radbeherrschung. Zanatta baute den Fahrer, den sich Quick-Step hatte entgehen lassen, vorsichtig für Liquigas auf. So wurde der 19 Jahre alte Peter Sagan im Januar 2010 Berufsrennfahrer. 

Der Rest hätte natürlich normale Radsport-Geschichte sein sollen. In der schulbuchmäßigen Rennfahrerlehre hätte Sagan ein paar Jahre lang Wasserflaschen für ältere und bessere Fahrer geholt, ohne großen Stress und in relativer Anonymität. Unter normalen Umständen hätte er dann mit Mitte 20 so etwas wie seine physische Reife erlangt. Im Prinzip sollte sein Karriereweg dann in den nächsten drei Jahren entschieden sein – gemäß Philippe Gilbert. Nur ist Sagan, wie seine bisherige Bilanz zeigt, jemand, der nicht lange fackelt. Vielmehr scheint er wild entschlossen zu sein, jede Regel in dem Ratgeber „Wie ich ein erfolgreicher Radsportler werde “ zu brechen. 

Nehmen sie mal Beweisstück Nummer eins: Es ist der 17. Januar 2010, der Tag des Cancer Council Helpline Classic. Es ist Lance Armstrongs großes Comeback, und die Augen der Welt sind auf ihn gerichtet. Für Peter Sagan ist es sein erstes Profi-Rennen.

„Ich erinnere mich nur, dass Armstrong attackierte, und ich dachte, es wäre ziemlich cool, wenn ich versuche, die Lücke zuzufahren. Das ist eigentlich alles.“ 

Das war es auch, wenn wir unterstellen, dass es nicht ungewöhnlich ist, dass ein 38 Jahre alter siebenfacher Tour-Sieger sich mit einem Jungen absetzt, der halb so alt ist wie er. Armstrong zeigte sich beeindruckt, wie stark Sagan war, aber es sollte noch besser kommen. Eine Woche später staunten die Fans und Experten bei der Tour Down Under wieder. Auf der 2. Etappe in einen bösen Sturz verwickelt, kam Sagen irgendwie durch. Sie nähten ihn mit 20 Stichen an Arm und Oberschenkel und sagten ihm, wenn er unbedingt weiterfahren wolle, solle er sich nicht zu sehr anstrengen. Das hätte es gewesen sein sollen, doch bei einem Bergaufsprint am folgenden Tag stürmte er auf den vierten Platz, knapp geschlagen von den Herren Cardoso, Evans und Valverde. Nicht schlecht für einen Neuling – schon gar nicht für einen 19-Jährigen mit Arm und Bein in Bandagen. 

Am nächsten Tag stand die Königsetappe auf dem Programm. Evans attackierte auf dem steilsten Abschnitt des Anstiegs nach Old Willunga Hill und sprengte das Rennen. Nun setzten Valverde und Teamkollege Luis León Sánchez, zwei große spanische Champions, alles daran, die Lücke zuzufahren. Als sie nachzulassen schienen, tauchte ein dritter Fahrer auf, löste die beiden lange Zeit im Wind ab und gab der Verfolgungsjagd neuen Schwung. Als die Lücke geschlossen war, arbeiteten die vier zusammen und bauten ihren Vorsprung entscheidend aus, wobei der mysteriöse Fahrer den drei Radsport-Superstars absolut ebenbürtig war. 20 schnelle Kilometer später sicherte sich Sánchez den Sieg und Evans den Applaus der Lokalzeitungen. Im Peloton sprach man über etwas anderes. Der schüchterne Junge von Liquigas war grandios gewesen. Er war etwas Besonderes … 

Sie schickten ihn zu Paris – Nizza, angeblich um zu sehen, wie er sich auf längeren Etappen gegen fittere Fahrer machen würde. „Ich war dort, um Roman Kreuziger zu helfen und die Sprints für Francesco Chicchi anzuziehen, wenn möglich. Er hatte zwei Sprints bei der Katar-Rundfahrt gewonnen, und sie dachten, er würde gut fahren. Das Problem war, dass er es vermasselt hat. Auf der Etappe nach Limoges war die Zielgerade ansteigend, und Chicchi konnte das Hinterrad nicht halten.“ 

Sagan gewann „zufällig“ den Sprint um den zweiten Platz, bevor er am nächsten Tag das Heft selbst in die Hand nahm. Er stürmte zu seinem ersten Profi-Sieg und ließ dann auf der brutalen Etappe nach Aix-en-Provence sein Meisterstück folgen. Mario Scirea, Liquigas’ gewiefter Sportdirektor, erinnert sich gut: „Wir wussten, dass er ein Ausnahmesportler ist, aber das war eine sehr schwere Etappe, den ganzen Tag rauf und runter. Da war er, gerade einmal 20 geworden, und trat gegen Fahrer wie Contador an. Er fuhr über schwere Anstiege und Etappen mit über 200 Kilometern, bei sehr schlechtem Wetter. Wir rechneten damit, dass er in den letzten Tagen nachlassen würde, aber er wurde immer stärker. Wir hatten gewusst, dass er unglaublich talentiert ist, aber ich glaube, in dieser Woche erkannten wir, dass wir es mit einem potenziellen Champion zu tun hatten, einem fuoriclasse.“

Am Ende jener Woche hatte er zwei Etappen und das Grüne Trikot eines der prestigeträchtigsten europäischen Rennen gewonnen. 

Heute ist dieses Maillot Vert von Paris – Nizza eines in einer wachsenden Kollektion (fünf, Tendenz steigend), aber noch eindrucksvoller ist, dass Sagan immer noch Fortschritte macht – dramatische. 

2011 gewann er auf dieser Insel den fünftägigen Giro di Sardegna und feierte im Frühjahr regelmäßig Siege: Als Nächstes kamen eine Etappe und die Punktewertung der Kalifornien-Rundfahrt, eine eindrucksvolle Vorstellung bei der Tour de Romandie, eine Direktverbindung zu Wohlstand und Ruhm. Sein bemerkenswertester Sieg gelang ihm wohl bei der Tour de Suisse. Hier setzte sich Sagan auf der kurzen, aber brutalen Bergetappe nach Grindelwald durch und unterstrich seine Allroun-der-Qualitäten. Bei lausigstem Wetter und über zwei gewaltige Pässe fuhr er den ganzen Tag an der Spitze, bevor er im Sprint einen glänzend aufgelegten Damiano Cunego bezwang. So leicht ihm die Siege zu Beginn der Saison auch gefallen waren – das war noch einmal etwas anderes, eine Bestätigung seiner Vielseitigkeit und Beständigkeit. Für viele, auch für Cunego, war es der Beweis, dass er das Zeug hat, noch besser zu sein als Gilbert. 

Das ist das wesentliche Paradox – und mithin die Faszination – von Sagan: Man könnte sich keinen unkomplizierteren Jungen vorstellen, aber er macht die erstaunlichsten Dinge. Sogar sein großer Bruder ist beeindruckt, dabei findet Juraj, dass sich Peter nicht verändert hat. 

„Hoffentlich habe ich mich gar nicht verändert, jedenfalls fühle ich mich nicht anders. Das Team ist für mich sowieso mittlerweile wie eine Familie, wenn mir der Erfolg zu Kopf steigen würde, wären genug Leute da, um mich wieder auf den Teppich zu holen. Ich nehme an, dass ich zu Hause etwas bekannter werde, aber wenn ich keine Rennen fahre, bin ich normalerweise in Venetien, und da sprechen mich die Leute auf der Straße nicht an. Ich war Dritter bei der Wahl zum Sportler des Jahres in der Slowakei. Ich musste bei einer großen Gala in Bratislava auf die Bühne. Es war nett, aber es war mir ein bisschen unangenehm. Ehrlich gesagt, fand ich es ziemlich komisch …“ 

Für Peter Sagan ist die Vorstellung, er könne ein Idol sein, weil er Rad fährt, tatsächlich komisch. Für einen so begnadeten Athleten ist er die Bescheidenheit in Person, ein wirklich liebenswerter Junge, der zufällig mit einem großen natürlichen Talent gesegnet ist. Er macht den Eindruck, dass er nicht im Entferntesten zum Superstar taugt, aber darin liegt wohl seine größte Tugend. Die Zukunft des Radsports ist ein altmodischer, hartgesottener Rennfahrer, total unaufdringlich und total unkompliziert. Daran scheint er auch nichts ändern zu wollen – im Rampenlicht der Medien fühlt er sich überhaupt nicht wohl. Wo er sich wohlfühlt, ist unter Radsportlern. Er konzentriert sich vollkommen auf seine Karriere, weswegen die klugen Köpfe bei Liquigas überzeugt sind, dass er es noch sehr weit bringen wird.  

Eine bedeutende Überlieferung des Radsports besagt, dass viele große Champions von ihren weniger talentierten Brüdern profitierten. Die Herren Coppi, Bobet, Indurain und Jalabert wurden alle von ihren Brüdern unterstützt, und es ist herzerwärmend zu sehen, wie diese beiden sich umeinander kümmern. Auf Peters Wunsch hin holte Liquigas Juraj ins Team, in der letzten Saison fuhren sie allerdings nur vier Tage zusammen. Der ältere Sagan war im letzten Jahr oft verletzt, doch er ist ehrlich genug, um zuzugeben, dass er nicht auf Peters Niveau fährt. Während die Stars in der WorldTour Erfolge feiern, streitet er sich mit dem Rest des Fußvolks um die Brotkrumen. Er rechnet damit, dass er diese Saison vor allem in der einheimischen italienischen Szene verbringen wird. „Er ist 18 Monate jünger, doch er schlägt mich seit fünf Jahren, seit den Junioren. Mein Ziel ist einfach, so gut zu sein, wie es möglich ist, und da zu sein, wenn er mich braucht. Seine Welt ist eine ganz andere. Er zeigt es nicht, aber steht die ganze Zeit unter Druck. Sein Job ist es, zu siegen.“ 

Und gewinnen ist genau das, was Peter in den letzten beiden Jahren gemacht hat. Sein Gesamtsieg bei der letztjährigen Polen-Rundfahrt, gepaart mit einem sehr gelungenen Landesrundfahrt-Debüt bei der Vuelta, weckte zwangsläufig noch größere Erwartungen. Angesichts seines Palmarès kann man leicht vergessen, dass er sich mit 22 praktisch selbst um drei Jahre voraus ist, wenn man ihn beispielsweise mit Gilbert vergleicht. Sagan hat schon so viel gewonnen, dass die Logik nahelegt, als Nächstes sollten die großen Klassiker und vielleicht im Juli ein Anlauf auf das Grüne Trikot kommen. 

Wo sieht sich Sagan selbst in fünf Jahren? Nicht einmal er kann im Radsport-Zeitalter der Spezialisierung alles machen; was für ein Rennfahrertyp will er also werden? „Ich weiß nicht. Ich sehe mich überhaupt nicht als bestimmter Fahrertyp. Ich bin einfach Radsportler und fahre überall gerne. Wenn ich wählen müsste, würde ich sagen, dass Lüttich mich fasziniert, aber ich gehe gerne überall hin, wo sie mich hinschicken.“ 

Die Rede ist von der Tour als Vorbereitung auf einen ernsthaften Anlauf auf die Olympischen Spiele. Es kann sein, dass Liquigas pokert, aber objektiv betrachtet liegt ihm der olympische Kurs. Dasselbe gilt natürlich auch für ein Dutzend andere, allen voran Mark Cavendish. Sagan wird den Nachteil eines viel schwächeren Teams haben, doch wenn es ein hartes Rennen ist, wird er vorne mitmischen, keine Frage. Er hat die Power und das Durchhaltevermögen, um auf dieser Art von Terrain zu gewinnen, und er wird für 250 Kilometer bereit sein. Die Slowaken könnten vielleicht hier und da einen Gefallen einfordern oder sich anderweitig Unterstützung sichern, aber wenn er ernsthaft gewinnen will, wird er eine große Gefahr darstellen. Auch die Ardennen-Klassiker dürfte er fahren. Sagen mag noch nicht so weit sein, dass er Gilbert in Lüttich schlagen kann, aber es wäre ihm zuzutrauen. Er ist auf jeden Fall reif genug für den Flèche Wallonne, aber wer kann das schon wissen? Als Rennfahrer ist er so abgerundet, so vollendet, dass man nichts ausschließen kann. 

Wenn Sagen gesund bleibt, hat er alle Zeit der Welt – 15 Jahre, um mit Gilberts fabelhafter Bilanz gleichzuziehen. Doch der Slowake ist kein Typ, der die Dinge auf die lange Bank schiebt, und so könnte 2012 das Jahr sein, in dem wir den Durchbruch eines außergewöhnlichen Talents erleben. „Ich denke nicht über die Zukunft nach. So, wie ich es sehe, sind das alles Radrennen, und ich versuche, sie zu gewinnen.“ Dagegen ist nichts zu sagen.

Unterm Strich ist das wahrscheinlichste Szenario, dass er sich letztlich auf die Ardennen-Klassiker und die kürzeren Etappenrennen konzentrieren wird, vielleicht auf das Grüne Trikot. Andererseits hat er bewiesen, dass er auf Kopfsteinpflaster zurechtkommt, und er scheint für die Flandern-Rundfahrt geschaffen zu sein. 

In grauer Vorzeit schaffte es der Ire Sean Kelly, vier von fünf Monumenten, das Grüne Trikot bei der Tour, die Vuelta und unzählige Etappenrennen in einem großartigen Palmarès zu vereinen. Natürlich ist es gewagt zu erwarten, dass es je einen zweiten Kelly geben wird. Aber wäre es nicht wunderbar für den Sport, wenn sich ein neuer großer Kämpfer für die ganze Saison hervortun würde? Wenn in den letzten 15 Jahren ein junger Fahrer dazu fähig zu sein schien, dann Peter Sagan.  



Cover Procycling Ausgabe 97

Den vollständingen Artikel finden Sie in Procycling Ausgabe 97.

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