Gelobtes Land

Eloquenz ist nicht die wichtigste Eigenschaft eines Toursiegers, doch Egan Bernals Siegerrede auf den Champs-Elysées 2019 war beeindruckend. Sie dauerte kaum 70 Sekunden, aber wurde in vier Sprachen vorgetragen: Neben seiner Muttersprache Spanisch wurschtelte er sich auch mit Französisch und Englisch durch, aber der beeindruckendste Teil war, als er mühelos auf Italienisch umschaltete: „Danke an Italien, weil ich dort aufgewachsen bin und im Herzen ein bisschen italienisch bin“, sagte er.

Bernal ist in Zipaquirá in Zentralkolumbien geboren, aber als Rennfahrer groß geworden ist er in Italien. Ein einmonatiger Aufenthalt in Sizilien 2015 führte schnell zu einem ersten Profivertrag, den er mit 18 unterschrieb. Die beiden folgenden Jahre, in denen er im Piemont lebte und für das Team Androni Giocattoli fuhr, hinterließen einen bleibenden Eindruck. Zusammen erklären sie, warum ihm sein bevorstehendes Debüt beim Giro d’Italia so viel bedeutet.

„Ich habe sehr besondere Gefühle für Italien“, sagt Bernal zu Procycling. „Ich habe dort zwei Jahre gelebt und tolle Freunde gewonnen. In Ita­lien habe ich gelernt, Rennfahrer zu sein, und gelernt, erwachsen zu sein. Jedes Mal, wenn ich dort ein Rennen fahre, ist es ein besonderes Gefühl.“ 

Wir sprechen mit Bernal gegen Ende von Tir­reno–Adriatico, wo er Vierter werden und damit einen italienischen Saisonauftaktblock abrunden wird, in dem er Podiumsplätze bei der Trofeo Laigueglia und Strade Bianche erreicht hat. Nach einem Aufenthalt in Kolumbien ist er vor dem Giro zur Tour of the Alps wieder zurück und glaubt es vielleicht erst, wenn er in Turin ist. 

„Ich wollte den Giro schon lange fahren, aber es kam immer etwas dazwischen“, sagt er. „Die zwei Jahre, die ich bei Androni war, waren die zwei Jahre, wo das Team nicht eingeladen war. 2019 hatte ich meinen Sturz. Irgendwas passiert immer.“ 

Es ist interessant, dass er immer noch bedauert, wie ihn 2019 eine Schlüsselbeinfraktur davon abhielt, bei der Corsa Rosa zu starten, die ursprünglich auf seinem Programm gestanden hatte. Bernal hatte 2018 beim Team Sky unterschrieben, und man übertrug ihm immer mehr Verantwortung – er gewann das Colombia Oro y Paz zu Beginn des Jahres und dann die Kalifornien-Rundfahrt im Mai. Bei der Tour war er einer der besten Kletterer des Rennens, aber nach frühen Zeitverlusten stellte er sich ganz in die Dienste von Geraint Thomas und Chris Froome, die Erster und Dritter wurden. 2019 war der Plan, den Giro in Angriff zu nehmen, aber wegen seiner Verletzung musste er umdenken. Er gewann die Tour de ­Suisse und wurde kurzerhand ins Ineos-Aufgebot für die Tour berufen, wo er sich die meiste Zeit bedeckt hielt und dann, in einem Trio chaotischer Alpenetappen, als stärkster Fahrer erwies. Den Gipfel des Sports mit 22 zu erreichen, war eine gewaltige Leistung, aber es klingt immer noch mehr wie ein Fluch als ein Segen. 

„Ich wollte so schnell wie möglich zum Giro“, versichert Bernal. „In diesem Jahr kommt nichts dazwischen.“ 


Cover Procycling Ausgabe 207

Den vollständingen Artikel finden Sie in Procycling Ausgabe 207.

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